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Rezensionen


 
Thomas Bernhard - Der Atem. Eine Entscheidung
Buchinformation
Bernhard, Thomas - Der Atem. Eine Entscheidung bestellen
Bernhard, Thomas:
Der Atem. Eine
Entscheidung

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(Bücher frei Haus)

Das eine Buch unter den fünf autobiografischen Romanen Thomas Bernhards, das jeder kennen sollte, der den Autor an sich und diesen einen Werkzyklus (ein)schätzen lernen möchte. Möglicherweise ist das letzte Buch aus der Serie, „Ein Kind“, gemäß der Ereignischronologie in Bernhards Leben müsste es ganz am Anfang stehen, künstlerisch ja gelungener. Die übrigen drei („Die Ursache“ - Schulzeit, „Der Keller“ - Lehre, „Die Kälte“ - Sanatorium) sind es nicht. Bei „Der Atem“ treffen aber auch die Bernhard-typischen Motivkreise „Leben als Krankheit zum Tod“ und „Entscheidung, radikal ich selbst zu sein“ (siehe den Untertitel!) zusammen. (Dagegen ist „Ein Kind“ sozusagen Idylle - und also das Gegenteil von Thomas Bernhard. Die liebliche Ausnahme.)

Fast schade, dass eine der unvergesslichsten Szenen von Bernhards gesamtem Werk, jenes Badezimmer im Krankenhaus, in das man den Achtzehnjährigen zum Sterben geschoben hat und in dem ein herabfallendes nasses Wäschestück ihn beinah erstickt, nach wenigen Seiten bereits erscheint, während das Ende mit jener Großgmainer Pension „Vötterl“, wohin man den Atemwegserkrankten zur Gesundung geschickt hat und von wo er als tatsächlich schwer Lungenkranker, also Tuberkulose-Fall, heimkehrt, vergleichsweise schwach und wie eine gekünstelte Überleitung zum nachfolgenden Band (dann mit der TB-Heilstätte im Gebirge). Die immer wieder neu durchstochene Bauchdecke, durch die jedes Mal in einem Gummischlauch mehrere Liter einer geblichen Flüssigkeit ins Gurkenglas rinnen, versteht mit dem Grusel der als vorsintflutlich dargestellten Nachkriegsärztekunst auch mehr zu beeindrucken als die illegalen Grenzübertritte durch einen Gießbach hinüber nach Reichenhall am Buchende.

Aber kümmern wir uns weniger ums Jahr 1949, in dem „Der Atem“ spielt, als um die Entstehungszeit des Buches, eine bis zum Schluss seiner Karriere entscheidende Weichenstellung in Bernhards Schriftstellerleben. 1978, nachdem im Jahr vorher nur ein Theaterstück gekommen war, gehört mit vier Werken zu den produktivsten des Sprachkünstlers. „Ja“, eine autobiografische Novelle über eine Nachbarin, die in ihren Tod geht. „Immanuel Kant“, eine nicht besonders gelungene Clownerie für die Bühne, die von nun an allerdings Bernhards Haupteinnahmequelle darstellen sollte (Uraufführungsbesetzung immerhin mit Karlheinz Böhm). „Der Stimmenimitator“, eine sperrige Sammlung schwarzhumoriger Anekdoten, wohl auch so etwas wie das Auswischen, Leeren von Bernhards Plot-Lager. „Der Atem“, Mittelstück, einer zum Verkaufserfolg gewordenen Serie von - vertragswidrig am Suhrkamp-Verleger Unseld vorbei nach Salzburg zum Residenz Verlag gegebenen - Selbststilisierungs-Autobiografien.

Mit den Jahren wird es deutlicher, seinerzeit wurde es nicht erkannt, die unglücksgesättigten Autobiografien über Thomas Bernhards Jugendjahre sind mehr Bluff als Bericht! An allen fünf Titeln dieses Jahres 1978 ließe Thomas Bernhards „Bernhard-Show“ sich darstellen, eben jenes virtuose, teils lustige, teils böswillig angelegte, manieristische Zur-Vollendung-Schreiben eines ab jetzt voll entwickelten „Literatur-Formats“, einer Manier, wenn man so will.

Der Bernhard der sechziger und der frühen siebziger Jahre, auch der der ersten beiden Autobiografien, hatte sich selbst als grimmigen Künstler vorgestellt, als Alpen-Beckett, als Literatur-Arnulf-Rainer. Black und blood was beautiful. So ab Mitte der siebziger Jahre, der Autor hatte sich in Stücker drei oberösterreichischen Bauernhäusern auf Sicherheitsabstand zur Wiener Jugendjahre-Mäzenin und Ersatz-Mutter begeben, hatte einen Werkablaufplan ausbaldowert, mit dem man reichlich Geld scheffeln konnte, da war aus dem Schweren und Schwierigen schon eine gute Dosis Clownerie und sicher auch Koketterie erwachsen.

Schmerz, Krankheit, Leid, Einsamkeit, Tod, Verzweiflung, Verstörung, das war halt mal sein Image. Die Leut hatten ein Recht auf das. Man konnte es auch gut. Viele eingeschworene Bernhardfanatiker ignorieren diese Veränderung bis heute und sind ergriffen vom stoischen Durchstehen ihres Meisters in Sportwagen und Madrider Luxushotels. Das Hinschreiben des Düsteren war ab etwa „Der Atem“ eher Selbstzitat, seine Handelsmarke - und die tatsächliche Bernhard-Kunst liegt jetzt im verschmitzten Spiel auf einer Ebene des Gegen-sich-selber-Anschreibens, einer Art Komiker-Performance über den düsteren Künstlergestus.

Gegen alle Lektorexpertise durchgesetzte Redundanz in Sätzen wie den folgenden ist zum einen sicherlich aufdringlich und stilistisch falsch, zum anderen aber eben die humoristische Selbstpersiflage dieses Bernhard-Spätstils. Ein Buch, als hätte einer sich gesagt: Wo ich jetzt weiß, dass ich mich gut verkaufe, wenn ich in Ausweglosigkeit mache, was könnte ich in der Richtung noch herausholen aus paar Episoden meines Lebens, die ich abändere, - und vor allem, wie kann ich mir eine Freude machen, während ich dieses Produkt erzeuge? Bernhard war kein Mensch, der liebte. Und Leute, die ihn regelmäßig lasen und seine Kunst bewunderten, uns also, liebte er schon mal ganz und gar nicht. Das sollte man sich klar machen.

Zitat:

In meiner Unwissenheit hatte ich meine eigene Krankheit, wahrscheinlich in Anwendung eines lebensnotwendigen Selbstschutzes, nicht als Lungenkrankheit klassifiziert, obwohl naturgemäß diese meine Krankheit nichts anderes als eine Lungenkrankheit gewesen war, schon von Anfang an. Aber unter einem Lungenkranken hatte ich tatsächlich etwas anderes verstanden, und ein Lungenkranker war ja auch ein anderer, ich war im exakt-medizinischen Sinne nicht lungenkrank, obwohl ich tatsächlich lungenkrank gewesen war, ich war aber kein Lungenkranker. Ich hatte aber doch Angst gehabt, hier in dem mit Lungenkranken und, wie gesagt, mit schwer Lungenkranken angefüllten Vötterl lungenkrank zu werden, die meisten dieser Lungenkranken im Vötterl hatten die offene und also die für die Umwelt gefährliche Lungentuberkulose, gegen die zu diesem Zeitpunkt, neuzehnhundertneunundvierzig, vorzugehen noch ziemlich aussichtslos war. Ein Lungenkranker hatte damals noch wenig Aussicht, davonzukommen.


[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2015-09-18)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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