„Die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist“, soll der vor 100 Jahren geborene Albert Camus einmal gesagt haben. Es ginge ihm mehr darum, wie man „richtig leben könne“, als um die großen Erklärungen des Lebens. Während Jean Paul Sartre zähneknirschend den Stalinismus verteidigte, weil er an ein eschatologisches Ende der Geschichte glaubte, wandte sich Camus bald von jeder Ideologie und Welterklärung ab und suchte das gute Leben im Süden. Am Ende seines Lebens kehrte er Paris und seinen Sartrianern den Rücken und versuchte in Lourmarin ein einfaches Leben im Einklang mit seinem eigens importierten algerischen Esel zu führen. Das „gewaltige Schweigen“ und die „überwältigende Schönheit“ der Landschaft bedeuteten ihm mehr als die endlosen Diskussionsrunden der Hauptstadt, die er stets mit einem seiner Hauptwerke, „Die Pest“, assoziiert hatte. Die Mandarins von Paris
Es gibt ein Foto des berühmten Fotografen Brassai von 1943, das die „Mandarins“ von Paris in einer bezeichnenden Aufnahme ablichtet. Während sich Jean-Paul Sartre ganz in Philosophenmanier mit Pfeife selbstgefällig in Pose wirft, spielt Albert Camus mit einem Hund herum oder unterhält sich zumindest mit ihm. Neben resp. hinter den beiden stehen Jacques Lacan, Cecile Eluard, Pierre Reverdy, Louise Leiris, Zanie de Campan, Pablo Picasso, Simone de Beauvoir, Michel Leiris und Jean Aubier und im Hintergrund an der Wand hängen ein paar Bilder Picassos. Beinahe sinnbildlich zeigt diese Brassai-Fotografie, wie abgehoben von der Realität da ein Sartre (*1905) sitzt, selbstverliebt und arrogant, und der weitaus jüngere, viel lockerere und vor allem hübschere Camus mit der „Natur“ in Form des Hundes verbunden bleibt. Zufall? Sartre hatte Camus‘ philosophisches Hauptwerk „Der Mensch in der Revolte“ vernichtend kritisiert, wohl auch weil er wusste, welche Konkurrenz ihn in dem jüngeren Rivalen erwachsen würde, wenn er ihn weiter unterstützte. Eine Welt voller Verheißungen
„Der erste Mensch“ ist Camus‘ letzter Roman, den er auf der Terrasse auf dem Boden seines Hauses in Lourmarin geschrieben habe. Aber er konnte ihn nie vollenden, denn sein Unfalltod verstreute nicht nur seine Manuskriptseiten auf dem Trottoir von Villeblevin. Sein „Buch-Torso“ wurde erstmals 1994 veröffentlicht und zu einem weiteren großen Erfolg des einsamen Philosophen. „Der erste Mensch“ liest sich wie eine fiktive Biographie seiner algerischen Kindheit, er beschreibt seine Mutter, seinen Onkel, die Feigenbäume, die Sonne das Meer. Das deutschen Nachrichtenmagazin der Spiegel nannte das Romanfragment gar ein „intimes Selbstzeugnis, dass der diskrete und scheue Autor hinterlassen hat“, die FAZ sprach von einem „überwältigenden posthumen Comeback“. Der Protagonist Jacques Comery erzählt von seiner Kindheit, die er mit seiner fast tauben, analphabetischen Mutter und einer dominanten Großmutter im Armenviertel Algiers verbringt. Die Suche nach einer Vaterfigur ist der Anstoß, über die eigene Herkunft zu reflektieren. Das handgeschriebene Manuskript wurde bei dem tödlichen Autounfall Camus’ in seiner Mappe gefunden. Es erscheint in dieser Ausgabe des Rowohltverlages, ohne dass an dem unkorrigierten Fragment Änderungen vorgenommen wurden. „Und noch bevor die Lektüre angefangen hatte, entführte jeder dieser Gerüche Jacques in eine andere Welt voller bereits erfüllter Verheißungen, eine Welt, die schon begann, das Zimmer, in dem er saß, zu verdunkeln, das Viertel und seine Geräusche, die Stadt verschwinden zu lassen (…).“
Albert Camus
Der erste Mensch
Rororo
288 Seiten
ISBN 978-3-499-13273-5
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2013-10-20)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.