Die metropolitane Dimension der Moderne versuchten im 20. Jahrhundert viele in eine literarische Form zu bringen, drei davon durchbrachen alle bisherigen Konstitutionsprinzipien: James Joyce mit Ulysses, John Dos Passos mit Manhattan Transfer und Alfred Döblin mit Berlin Alexanderplatz. Was Joyce mit einem gewaltigen Entwurf in der sprachlichen und introspektiven Sphäre auf der Folie von Dublin gelang, probierte im Jahr 1925 John Dos Passos mit den Mitteln der Montage im Weltlaboratorium New York.
Den Titel entlieh er den berühmten Fähren, die von Long Island und New Jersey an der Spitze von Manhattan, direkt neben dem Battery Park anlegten: Manhattan Transfer. Damit hatte er seine für den Roman alles entscheidende Metapher bereits gewählt. In einem sprachlich nicht mehr moderner denkbaren Szenario bringen die Fähren menschliches Gut auf die Insel Manhattan. An den Beispielen dieser eingetroffenen Figuren entfaltet Dos Passos eine kakophonische Komposition der Moderne, die im 20. Jahrhundert in diesem Ausmaß nur in der kulturellen und Trend setzenden Metropole New York gelingen konnte.
Da werden die Schicksale von armen Landarbeitern erzählt, die von der Geschwindigkeit und Härte des Existenzkampfes bis zum Exitus gefordert werden, da treffen sich die Schnäppchenjäger und Glücksritter, die Schauspielerinnen, Advokaten, Börsenspekulanten und Exmatrosen, die alle ein Stück von dem großen Kuchen abhaben wollen und sich in einem Konkurrenzkampf jenseits der festgelegten Spielregeln einen Showdown liefern, der immer Gewinner und Verlierer zurück lässt. Hier die Millionäre und Meister des Universums, die schalten und walten, wie es ihrem Wildwesttrieb entspricht und dort die Ausgemusterten und Ertappten, die sich in letzter Verzweiflung von den Brücken stürzen oder ihr Dasein hinter Gittern fristen.
Im Manhattan vor, während und nach dem I. Weltkrieg bestehen nicht die Guten, sondern die Starken. Individuen mit exzellenten sozialen und gesellschaftlichen Voraussetzungen scheitern erbärmlich, die Robusten aus den Hinterhöfen schaffen es zuweilen, die in der Verfassung der Vereinigten Staaten verbriefte Jagd nach dem Glück mit grandiosem Fortune zu gestalten. Man bekommt eine Ahnung, aus welcher brutalen, blutigen und mitleidlosen Inszenierung der Satz von den unbegrenzten Möglichkeiten und die Strahlkraft des amerikanischen Traums stammen.
Dos Passos gelingt es, den Transfer des Daseins auf der Insel Manhattan in Worte zufassen. Er treibt dies mit einer Gefühllosigkeit, die grandios ist, in einem profanen, teils burlesken, teils lapidaren Ton gelingt es ihm, nicht mit seinen Figuren zu fraternisieren, sondern mit dem kalten Auge des distanzierten Betrachters die Funktionsweise des von den Individuen selbst getriebenen Mechanismus in die Haut der menschlichen Wahrnehmung wie ein schillerndes Tattoo zu stechen. Der Transfer, der in Manhattan stattfindet, bedarf nicht des Mitleids, weil er ein Konkurs ist, in den sich alle Akteure freiwillig begeben haben und dessen Konsequenzen alle kennen.
Montagehaft irren die menschlichen Programme zeitgleich nebeneinander her, glitzernde Ballsäle mit opulenten Tafeln und Hinterhöfe mit fischigen Müllhalden bilden ein und dasselbe Dekor für die mit fletschenden Zähnen aufeinander treffenden menschlichen Kreaturen, die im Kampf zuhause und denen die meisten Gefühle des zivilisierten Bürgers abhanden gekommen sind. Was hingegen bleibt, das ist der Stolz der Gewinner, es auf diesem Pflaster geschafft zu haben und so entwickelt sich eine Intimität der New Yorker untereinander, die bis heute geblieben und wohl in dieser Dimension einzigartig ist: Das Band einer globalen Überlebenselite, das vom Straßenjungen bis zum Multimillionär reicht.
John Dos Passos ist in Manhattan Transfer ein Wurf gelungen, der zur Entschlüsselung der metropolitanen Moderne einen gewaltigen Beitrag geleistet hat. Und die Aktualität hat bestand, die Inszenierung lässt sich einfach nicht historisieren.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2009-07-21)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.