Dürrenmatt war das heilige Ungeheuer einer Welt, die spätestens mit dem Kabelfernsehen, MTV, den Blockbustern im Kino, erst recht Internet, Facebook und Smartphones untergegangen ist. Für ihn steht noch außer Frage, dass die Gesellschaft gemäß dem „Denken“ der gebildeten Schichten, der Eliten, geleitet wird, dass Theater ein öffentliches Forum für erprobende Denkspiele bildet. Niemals käme er auf die Idee, dass die wirkenden inneren Vorstellungen der Menschen in ihrer Auseinandersetzung mit „Pretty Woman“, Amy Winehouse, Stefan Raab oder „Schweini“ entwickelt werden könnten. Alle Bürger betreffende Entscheidungen müssen „philosophisch“ erschlossen sein und können, zwecks guter Unterhaltung, in Dramenform verpackt und dann geprüft werden wie in einer Computersimulation. Die Bezugsgrößen des Schreibers heißen Sophokles, Shakespeare, Molière, Wedekind, Brecht, Ionesco und Beckett.
An die Frische des zu seiner Zeit von deutschsprachigen Länderregierungen und Kommunen zu Tode subventionierten Stadttheaters glaubt der Emmentaler ja nicht. Aber natürlich kritisiert er nicht neoliberal, was sich aus eigener Kraft am Markt durchsetzt, ist das Gute, sondern von obskuren privaten Kleintheatern in Paris und London her. Sie hätten - mit Beckett und Ionesco - den Menschen völlig anders denken lassen.
Er selbst betrieb nach dem Zweiten Weltkrieg seine Kunst ein paar Jahre vom Zürcher Schauspielhaus aus. Wegen der vorangegangenen Nazizeit war personell alles versammelt, was Rang und Namen hatte. Eine einmalige Situation: Sofort nach dem Philosophiestudium macht sich ein Provinzler als freier Autor selbstständig und schreibt Theatergeschichte mit den Größten. Ernst Ginsberg und Maria Becker, der Bühnenbildner Teo Otto, der Regisseur Kurt Hirschfeld, inzwischen verbindet kaum noch jemand viel mit ihren Namen. In diesem Buch schreibt Dürrenmatt die Geburtstagsartikel und Totengedenkreden für ihren Ruhm. Noch ist er dabei immer „der junge Mann“ und stattet Dank an die ihn einst Lehrenden ab.
Neben diesen freundschaftlichen Erinnerungen, hinreißend geschrieben, inhaltlich jedoch arg verblasst, vielleicht ja noch seiner Kontroverse mit dem Publizisten Hans Habe, wer denn wohl antisemitischer wäre, Dürrenmatt oder der Jude Habe, sind es vier längere Texte, die etwas wie die Dramaturgie des Schweizers darlegen. Die „Theaterprobleme“ (1954, vierzig Seiten), „Aspekte des dramaturgischen Denkens“ (1964, sechzehn Seiten), „Dramaturgie des Publikums“ (1970, zwölf Seiten) und die „Sätze über das Theater“ (1970, fünfunddreißig Seiten). Wieder dasselbe Bild: Dürrenmatt denkt über Fragen nach, die in der Kulturszene unserer Gegenwart nicht mehr besprochen werden.
Er spricht ja ständig in Wahrheit über sich selbst und über exakt jene Ausprägung von Theater, die er in Zürich mitentwickelt hatte. Ein Denk-Spieler quillt über von Stolz, weil ihm gelungen war, die großen Fragen der Menschheit an einem einzigen Abend auf die kleine Schaubühne zu packen. Dorther rührte in späteren Jahren dann aber auch die Tragödie des dramatischen Träumens des Herrn Dürrenmatt. Das lässt sich an Texten wie „Mein Rücktritt von den Baslern Theatern“ oder „Dramaturgie eines Durchfalls“ sehen.
Der Dürrenmatt von Zürich bekannte Werner Düggelin („dä Dügg“) bekam in den unruhigen Jahren vor 1970 die Leitung der Schauspielabteilung des Theaters Basel anvertraut. Er holte sich Dürrenmatt und der irrte und dachte, noch einmal stehe ihm eine Bühne als Spielzeug für Ideen und Revisionen der Theatergeschichte völlig zur Verfügung. Er wollte sie wiederhaben, die kreative Bande der Leopold-Lindtberg-Truppe vom Kriegsende. Was kam? Dürrenmatt fiel ins - zumindest seinerseits so interpretierte - Bürokraten-Loch; er hatte den ersten Herzinfarkt mit 48. Das war der Wendepunkt seiner gesamten Karriere. Vorher, bis zum „Meteor“ noch, war er der kommende Nobelpreisträger der Schweizer gewesen, aber auf die Basler Jahre folgten nur reserviert aufgenommene Beinahe-Durchfälle, „Die Mitmacher“ und „Achterloo“, sowie die uferlose, nicht mehr wirklich kontrollierte Prosaverschlingung seiner „Stoffe“-Bücher.
Allerdings hatte sich die Kultur von Dürrenmatts Jahrzehnt, den fünfziger Jahren, eben weggedreht. Kein Mensch geht jetzt noch ins Stadttheater, um sein Dasein erschüttert zu kriegen, das Denken aufgerissen. Im Stadttheater laufen die gekürzten, verschlankten Live-Versionen von den Hits, die wir vor Jahren in anderen Medien lieben gelernt haben: „Arsen und Spitzenhäubchen“, „Feuchtgebiete“, „Ziemlich beste Freunde“, „Homo faber“, „Misery“, so in etwa.
Für unseren Geschmack ist Dürrenmatt wohl zu ehrgeizig aus seiner eidgenössischen wie philosophischen Provinz hervor. Das lässt sich an einer eigentlich nebensächlichen Stelle zeigen. Dürrenmatt muss einen Vortrag vor New Yorker Intellektuellen halten. Er fantasiert sich einen kommenden Groß-Dramatiker aus Vaduz, der mehr oder weniger das tut, was Dürrenmatt selbst tat: was er kennt und begreift, für das Modell der gesamten Welt zu halten. Dabei wissen wir inzwischen: Alles ist zu kompliziert, niemand weiß wirklich Bescheid.
Zitat:
Für diesen Schriftsteller wird Liechtenstein zum Modell der Welt werden, er wird es verdichten, indem er es ausweitet, aus Vaduz ein Babylon und aus seinem Fürsten meinetwegen einen Nebukadnezar schafft. Die Liechtensteiner werden zwar protestieren, alles maßlos übertrieben finden, den liechtensteinischen Jodel und die Liechtensteiner Käseproduktion vermissen, aber diesen Schriftsteller wird man nicht nur in Sankt Gallen spielen, er wird international werden, weil die Welt sich in seinem erfundenen Liechtenstein widerspiegelt. Dieser liechtensteinische Schriftsteller wird immer neue Einfälle anwenden müssen, aus Liechtenstein ein immer neues Weltmodell erschaffen, er wird notgedrungen als Dramatiker revolutionäre Wege einschlagen müssen, und diese Wege werden stimmen, weil es für ihn eben gar keine anderen Wege mehr gibt.
Für diesen Schriftsteller wird Liechtenstein zum Modell der Welt werden, er wird es verdichten, indem er es ausweitet, aus Vaduz ein Babylon und aus seinem Fürsten meinetwegen einen Nebukadnezar schafft. Die Liechtensteiner werden zwar protestieren, alles maßlos übertrieben finden, den liechtensteinischen Jodel und die Liechtensteiner Käseproduktion vermissen, aber diesen Schriftsteller wird man nicht nur in Sankt Gallen spielen, er wird international werden, weil die Welt sich in seinem erfundenen Liechtenstein widerspiegelt. Dieser liechtensteinische Schriftsteller wird immer neue Einfälle anwenden müssen, aus Liechtenstein ein immer neues Weltmodell erschaffen, er wird notgedrungen als Dramatiker revolutionäre Wege einschlagen müssen, und diese Wege werden stimmen, weil es für ihn eben gar keine anderen Wege mehr gibt.
[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2016-05-20)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.