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David Grossman - Kommt ein Pferd in die Bar
Buchinformation
Grossman, David - Kommt ein Pferd in die Bar bestellen
Grossman, David:
Kommt ein Pferd in die
Bar

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(Bücher frei Haus)

Schon lange gehört der israelische Schriftsteller David Grossman nicht nur in Israel, sondern weltweit zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Für seinen Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ 2010 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, hat er seitdem sich immer wieder zu der verzweifelten Lage seines Heimatlandes geäußert. Nun legt er mit dem Roman „Kommt ein Pferd in die Bar“ ein neues, ungewöhnliches Werk vor, in dem er auf eine intensive Weise, die mit jeder Seite mehr unter die Haut geht, Zuschauer und Leser an der tragischen Lebensgeschichte eines Comedians teilnehmen lässt. An einer Stelle, die Vorstellung hat schon ihren Lauf genommen, beschreibt er das so:
„Er seufzt, kratzt sich das spärliche Haar an der Schläfe. Natürlich merkt er, dass der ganze Abend in eine Schieflage geraten ist. Der Ast, auf dem er gerade sitzt, ist bereits schwerer als der ganze Baum. Auch das Publikum merkt es. Die Leute werfen sich Blicke zu, rutschen unruhig auf ihren Stühlen herum. Sie begreifen immer weniger, in was sie hier wider Willen hineingezogen werden. Sie wären längst gegangen oder hätten ihn sogar von der Bühne gepfiffen, wenn da nicht etwas Verlockendes wäre, dem man so schwer widerstehen kann: ein Blick in die Hölle von jemand anderem.“

Ort der Handlung ist das ganze Buch über eine Bühne in einem kleinen Kabarett in dem Ort Netanya. Die Zuschauer erwarten einen lustigen Abend. Sie wollen sich amüsieren und haben dafür auch Eintritt entrichtet. Auf der Bühne steht Dovele, an seinem 57. Geburtstag. Er hat zu diesem Auftritt einen Jugendfreund eingeladen, Avishai, einen pensionierten Richter. Der war damals vor Jahrzehnten auch in dem Zeltlager, aus dem eines Tages Dovele herausgerissen und zu einer Beerdigung gefahren wurde. Aus seiner Sicht beschreibt David Grossman einen Abend und eine Vorstellung, die nicht nur den Zuschauern unter die Haut geht, sondern auch dem Leser dieses Buches.

Dovele beginnt, indem er ohne Unterlass Witze erzählt, gute und schlechte. Er ist grob, er ist zart, immer wieder spricht er Menschen aus dem Publikum schamlos an. Er spielt mit der Sprache und biegt sie sich zurecht. Er mutet dem Publikum eine gnadenlose Abrechnung zu mit der Welt und mit seinem Leben. Wie Ohrfeigen verpasst er dem Publikum die Revue seines eigenen Lebens, zuerst mit Scherzen, dann auch mit heftiger Gewalt gegen sich selbst. Man gewinnt den Eindruck, das wird seine letzte Vorstellung sein

Da ist eine Frau im Publikum, die Dovele offenbar von früher kennt. Immer wieder versucht sie verzweifelt ihm klarzumachen, dass sie ihn doch als guten Menschen kennengelernt hat. Sie will ihn abhalten von seinem Weg, sich auf der Bühne immer weiter die Seele blutig zu reißen. Und zu schreien. Denn Dovele wird immer lauter, immer härter und brutaler werden seine Witze und seine Sprache. Da legt David Grossman Wesensschichten frei eines durch seine Vergangenheit gebeutelten Menschen (es stellt sich heraus, dass die Mutter „dort“ war, im KZ) und rührt damit Wesensschichten in der Seele des Lesers an, die dieser vielleicht lange nicht (mehr) wahrgenommen hat. Das macht die Lektüre dieses außergewöhnlichen Buches so emotional und mitreißend im wahrsten Sinne des Wortes. Avishai beschreibt das so: "Wie hat er das geschafft, frage ich mich, wie hat er uns so schnell umgedreht, sein Publikum und in gewisser Weise auch mich? Wie hat er uns dazu gebracht, uns in seiner Seele zu Hause zu fühlen und uns zu seinen Geiseln gemacht?! Die meisten Gäste im Saal sitzen gebeugt da und starren ihn an, wie von einem Zauber gebannt.“

Als deutlich wird, dass Dovele all diese Scherze und Slapsticks schon seit seiner Kindheit eingeübt hat, um seiner vom Holocaust in der Seele gezeichneten Mutter auch nur ein einziges Lächeln abzuringen, konnte ich beim Lesen meine Tränen nicht zurückhalten.

Und es wird klar, es geht nicht nur im Comedy, gegenüber der Avishai bei dem Telefonat mit Dovele, als der ihn zur der Vorstellung einlädt, wie um ein Zeuge aus seiner Vergangenheit dabei zu haben, seine mir zunächst sympathischen Vorbehalte so formuliert:
"Plötzlich, aus dem Nichts, war ich auf ihn losgegangen, als sei er der Stellvertreter schlechthin für die Leichtfertigkeit des Menschen in allen ihren Ausdrucksformen: Für euch, polterte ich los, ist doch im Grunde alles nur Stoff, aus dem man Witze machen kann, jede Sache, jeder Mensch, alles ist erlaubt, warum nicht. Wer nur ein bisschen improvisieren und schnell genug denken kann, darf alles lächerlich machen, ob mit Parodie oder Karikatur, Krankheiten, Kriege, Tod, alles ist lachbar, warum nicht?"

Doch es wird viel mehr als Comedy. Es wird nackter, schmerzhafter Lebensernst. Und es wird ein Zeugnis, wie bis weit in die zweite Generation hinein der Holocaust Seelen von Menschen zerstört und ganze Lebensentwürfe atomisiert.

Auf eine faszinierende, stellenweise auch bedrückende Weise gelingt es David Grossman, den Leser zum Teil eines Publikums zu machen, das sich zunächst über die Witze Doveles amüsiert, dem mehr und mehr aber das Lachen auf den Lippen gefriert. Immer mehr Menschen aus dem Publikum verlassen den Raum, weil sie es nicht mehr ertragen, was sie da sehen. Ich kann mir auch vorstellen, dass viele Leser mehrfach überlegen, die Lektüre des Buches abzubrechen, weil es ihnen entweder zu nahe kommt, oder ihre inneren Schutzmechanismen so hoch sind, dass es sie nicht dort erreicht, wo es wirken will.

Als Leser, der nicht flieht, gehört man plötzlich zu den wenigen Zuschauern, die sich von Dovele's Geschichte fesseln und berühren lassen. Ich konnte mich dem Sog, der Dramatik und der Emotionalität dieser Geschichte nicht entziehen.

Ein großer Roman, ein Buch wie ein „versteckter Sprengkörper“(Ha´aretz).

David Grossman, Kommt ein Pferd in die Bar, Hanser 2016, ISBN 978-3-446-25050-5

[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2016-03-17)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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