„Ich habe in den Interviews immer die Erfahrung gemacht, dass ich mehr zu sagen habe als diese Leute“, erzählte der ihm Vorjahr an Krebs verstorbene „begnadete Interviewer“ André Müller der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in seinem letzten Interview. Seine Gesprächspartner interessierten in „null, null“; am liebsten wäre es ihm, sie sprächen seine Sätze. Manche seine Interviewpartner haben das gespürt, wie etwa Salma Rushdie, der – müde der andauernden Unterbrechungen durch Müller – ihn ermahnt: „Bitte lassen Sie mich meinen Gedanken zu Ende führen. Wer wird hier interview? Sie oder ich?
„Aber mit Ihnen rede ich gern.“
Andere wiederum waren von seiner Gesprächsführung so fasziniert, dass sie gar nicht mehr aufhören wollten, mit ihm zu sprechen. „Mir kann niemand helfen“ erwidert ihm die frisch gebackene Nobelpreisträgerin 2004 in einem Interview, „Aber mit Ihnen rede ich gern.“ Eines der witzigsten Interviews ist aber sicherlich das mit Marcel Reich-Ranicki, „den Kritiker, den man Papst“ nennt, wie Müller süffisant den vitalen alten Mann beschreibt. Müller wollte Ranicki zum Weinen bringen, doch stattdessen schrie ihn dieser an, nicht ohne ihm zu dem gut ausgewählten Georges Bataille Zitat zu gratulieren: „Tränen stellen wohl den Höhepunkt kommunikativer Gemütsbewegung und der Kommunikation dar.“
Alte und neue Bären
Wollte Ranicki deswegen nicht vor ihm weinen? Worüber auch? Über die Vorstellung, dass seine Frau Teofila vor ihm stürben würde? Das wollte Marcel Reich-Ranicki zu Recht nicht debattieren, schon gar nicht in ihrer Anwesenheit. Wie frech dieser Interviewer doch ist, kein Wunder, dass ihn da mancher schon zur Hölle jagen wollte. Wie etwa Karl Lagerfeld, dessen Interview aufgrund einer Klagesflut nur geschwärzt erscheinen darf. Oder Helmut Berger, der ihn am liebsten vor die Türe setzen möchte, ihn aber dann doch nur auslacht und ihm immer neue Bären aufbindet.
Über Liebe, Tod und Mitgefühl
André Müller schaffte es sogar solch hoffnungslose Kreaturen wie Michel Houellebecq sympathisch und bemitleidenswert aussehen zu lassen. In dem 2002 erschienen Interview wirkt er fast sanft, versöhnlich, obwohl Houellebecq doch eigentlich immer nur provozieren möchte. „Man erinnert sich an das eigene Leben, wenn man älter wird, wie an einen Roman, den man gelesen hat. Der Respekt vor der Wahrheit wird, wenn man Bücher schreibt immer geringer.“ Und etwas weiter dann: „Ja, ich jammere gern, weil ich gerne bemitleidet werde.“
Weitere Interviews mit Ingmar Bergman, Luc Bondy, Dolly Buster, Julia Fischer, Günter Grass, Peter Handke, Jonathan Littell, Gerta Müller, Gerhard Richter, Leni Riefenstahl, Christoph Schlingensief, Toni Schumacher, Hanna Schygulla, Günter Wallraff.
André Müller
Sie sind ja wirklich eine verdammte Krähe!
Langen - Mueller Verlag
2012
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2012-06-17)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.