Grundlage der folgenden Rezension ist der erste Band von Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften", welcher die ersten drei Teile des unvollendet gebliebenen Gesamtwerkes in sich vereint. Teil 1 und 2 mit den Titeln "Eine Art Einleitung" und "Seinesgleichen geschieht" erschienen erstmals im Jahre 1930 im Rowohlt-Verlag, zwei Jahre später, im Dezember 1932, folgte das zweite Buch "Ins tausendjährige Reich / Die Verbrecher". Bald darauf verweigerte der Rowohlt-Verlag weitere Vorauszahlungen für eine Fortsetzung des Romanes, so dass Musil auf die Unterstützung von Gönnern und Freunden angewiesen war. Die folgenden Jahre verbrachte er in Berlin, Wien und die letzten Jahre bis zu seinem Tod 1942 im Genfer Exil, die er ganz der Vollendung seines Lebenswerkes widmete.
Es mag unpassend anmuten, diese Rezension mit den Entstehungsumständen des Werkes eingeleitet zu haben, leider sind sie von ihm nicht wegzudenken und deuten bereits den schweren Stand an, den dieses Werk beim literarischen Publikum hat, denn gleichwohl es gemeinhin als eine der größten deutschsprachigen Erzählleistungen des vergangenen Jahrhunderts zählt, lassen sich zu viele von seiner Komplexität und seinem literarischem Anspruch abschrecken. "Der Mann ohne Eigenschaften" ist gewiss keine leichte Lektüre, sie ist, wie gern gesagt wird, sperrig, sie verlangt von ihrem Leser zuweilen die Betägigung im geistigen Hochleistungssport.
"Der Mann ohne Eigenschaften" ist ein ganz aussergewöhnlicher Roman. Wer an ihn gewöhnliche Maßstäbe legt, wer von ihm das gewöhnliche erwartet, muss wie ein Reich-Ranicki von ihm enttäuscht werden und darf im Schein der Allwissenheit über den Autoren und sein Werk herziehen: "Die Wahrheit ist: »Der Mann ohne Eigenschaften« war misslungen und Musil ein tatsächlich ganz und gar gescheiterter Mann." (Sieben Wegbereiter. Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. R.R., S.194).
Alle Handlungen und Gedanken des Romanes sind um die Parallelaktion aufgebaut. Sie ist die Idee einer großen österreichischen patriotischen Aktion zum 70-jährigen Jubiläum der Thronbesteigung des sogenannten Friedenskaiser im Jahr 1918. Die Idee wird bereits im Jahre 1913, also am Vorabend des Ersten Weltkrieges, geboren und soll parallel zu den preußischen Feierlichkeiten zum 30-jährigen Jubiläum Kaiser Wilhelms II. stattfinden, diese aber natürlich in den Schatten stellen.
Die Ausarbeitung der Idee findet in Abendgesellschaften im Hause der Diotima statt. Diese Person führt im Prinzip einen Salon, in der sich Teile der höheren Bevölkerungsschicht treffen. Zu den Gästen gehören Vertreter des Großkapitals, des Militärs, der Diplomatie, verliebte Schwärmer, Revoluzzer, eine Nymphomanin - und auch die zentrale Figur des Romans: Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften und das Sinnbild des modernen Menschen, der keine allumfassende geistige Heimat mehr hat, der sich in seinem spezialisierten Wissen von allen anderen Menschen separiert, der sich in der Mannigfaltigkeit des Lebens und seinen Möglichkeiten verliert, der die Beliebigkeit der Weltanschauungen erkennt und doch von Idee zu Idee umherirrt, um ständig neue, absurdere Theorien ringt. Ulrich ist Anfang 30, in gutem körperlichen Zustand, geistig vollauf - Mathematik und Philosophie sind sein wie auch Robert Musils Metier. Nur ist er ein in den Tag hineinlebender, nichtsnütziger Galan, der es, wie man sagt, zu bisher nichts gebracht hat und deswegen den Unmut seines Vaters auf sich zieht. Der Vater führt Ulrich, um ihn doch noch auf die rechte Bahn zu bringen, an den Grafen Leinsdorf und somit die Parallelaktion heran, damit er in ihr eine entscheidende Rolle übernimmt.
"Im Grunde wissen in den Jahren der Lebensmitte wenig Menschen mehr, wie sie eigentlich zu sich selbst gekommen sind, zu ihren Vergnügungen, zu ihrer Weltanschauung, ihrer Frau, ihrem Charakter, Beruf und ihren Erfolgen, aber sie haben das Gefühl, dass sich nun nicht mehr viel ändern kann." (S.130) - denkt Ulrich und sieht sich damit selbst im Gegensatz zu diesen meisten Menschen, denn er ist unbestimmt geblieben.
Vom erwachsen(d)en Menschen meint er: "Jeder Mensch denkt ursprünglich über das ganze Leben nach, aber je genauer er nachdenkt, desto mehr engt sich das ein. Wenn er reif ist, hast du einen Menschen vor dir, der sich auf einem bestimmten Quadratmillimeter so gut auskennt wie in der ganzen Welt höchstens zwei Dutzend anderer Menschen, der genau sieht, wie alle Menschen, die sich nicht so genau auskennen, Unsinn über seine Angelegenheit reden, und sich doch nicht rühren darf, denn wenn er seinen Platz nur um einen Mikromillimeter verläßt, redet er selbst Unsinn." (S.264).
Ulrichs Freunde hingegen "waren inzwischen Professoren, Berühmtheiten und Namen, ein bekannter Teil der bekannten fortschrittlichen Entwicklung geworden, sie waren auf einem mehr oder weniger kurzen Weg aus dem Nebel ins Erstarren gelangt, und deshalb wird die Geschichte von ihnen gelegentlich der Schilderung ihres Jahrhunderts einst melden: Anwesend waren...". (S.132)
Doch Ulrich, der von der Salonkönigin Diotima wie folgt charakterisiert wird: "Sie sind voll Kritik, ich erinnere mich nicht, dass Sie je etwas gut gefunden hätten; aus Opposition loben Sie alles, was heute unerträglich ist." (S.470), empfindet sich deswegen nicht im Nachteil, denn all diese fortschrittlichen Entwicklungen, diese Ziele erkennt er als bloße Vorspiegelungen.
"Es scheint, dass der brave, praktische Wirklichkeitsmensch die Wirklichkeit nirgends restlos liebt und ernst nimmt. Als Kind kriecht er unter den Tisch, um das Zimmer der Eltern, wenn sie nicht zu Hause sind, durch diesen genial einfachen Trick abenteuerlich zu machen; er sehnt sich als Knabe nach der Uhr; als Jüngling mit der goldenen Uhr nach der zu ihr passenden Frau; als Mann mit der Uhr und Frau nach der gehobenen Stellung; und wenn er glücklich diesen kleinen Kreis von Wünschen zustande gebracht hat und ruhig darin hin und her schwingt wie ein Pendel, scheint sich dennoch sein Vorrat unbefriedigter Träume um nichts verringert zu haben." (S.138)
"Der Mann ohne Eigenschaften" beinhaltet nur eine spärliche Schilderung von Handlungen, zum großen Teil besteht er aus den philosophischen Gedanken, die Ulrich und die anderen an der Vorbereitung der Parallelaktion beteiligten Geister formulieren. Manch ein Leser mag dem Roman deswegen vorwerfen wollen, dass er eigentlich eine Aneinanderreihung von Essays über alle möglichen Themen des modernen Lebens sei, aber diese Betrachtungsweise stürzt sich nur auf das Detail und hat den Gesamtüberblick verloren.
General Stumms Überlegungen zum Wesen der Ordnung sind symptomatisch für das Bestreben der in der Vorbereitung der Parallaktion wirkenden Parteien, einen gemeinsamen Nenner zu finden und verdeutlichen zugleich, weswegen Unordnung Leben ist: "Stell dir Ordnung vor. Oder stell dir lieber zuerst einen großen Gedanken vor, dann einen noch größeren, dann einen, der noch größer ist, und dann immer einen noch größeren [...] aber jetzt stell dir bloß eine ganze, universale, eine Menschheitsordnung, mit einem Wort eine vollkommen zivilistische Ordnung vor: so behaupte ich, das ist der Kältetod, die Leichenstarre, eine Mondlandschaft, eine geometrische Epidemie." (S.464)
Trotz der vielfältigen in sie einströmenden Ideen bleibt die Parallelaktion eine Worthülse. Der gemeinsame Nenner lässt sich nicht finden, da es zu jeder Idee eine Gegenidee zu geben scheint, die gleichermaßen als berechtigt gelten kann. Die Gegensätze heben einander auf - die Eigenschaftslosigkeit bleibt zurück. Es ist ein Tauziehen mit gleichstarken Parteien. Niemand bewegt sich über die Linie, nichts bewegt sich.
Arnheim, der ein wenig wie ein Goethe seiner Zeit angelegt ist (er ist nicht nur bereits zu Lebzeiten erfolgreicher Dichter, sondern tummelt sich auf vielen Feldern der Wissenschaft, ist ein großer Unternehmer), hat zu einer bestimmteren Weltanschauung gefunden: "Eine Zeit, in der alles erlaubt ist, hat noch jedesmal die in ihr gelebt haben unglücklich gemacht. Zucht, Enthaltsamkeit, Ritterlichkeit, Musik, die Sitte, das Gedicht, die Form, das Verbot, alles das hat keinen tieferen Zweck, als dem Leben eine eingeschränkte und bestimmte Gestalt zu verleihen. Es gibt kein grenzenloses Glück. Es gibt kein großes Glück ohne große Verbote." (S.503)
An anderer Stelle denkt Arnheim: "Es ist wahrlich eine gut begründete Erscheinung, dass in Zeiten, deren Geist einem Warenmarkt gleicht, für den richtigen Gegensatz dazu Dichter gelten, die gar nichts mit ihrer Zeit zu tun haben. Sie beschmutzen sich nicht mit zeitgenössischen Gedanken, liefern sozusagen reine Dichtung und sprechen in ausgestorbenen Mundarten der Größe zu ihren Gläubigen". (S.407)
Selbst ein Mensch der klaren Normen, der General Stumm, muss bestürzt feststellen: "der zivilistische Geist hatte den Vorteil, eine feste Weltanschauung zu besitzen, offensichtlich verloren". (S.484)
Auch von der Jugend, die im Roman von Hans Sepp und Gerda Fischel vertreten wird, ist keine Erhellung für die Zukunft zu erwarten. Die beiden befinden sich in einem Kreis Gleichgesinnter, die einem bereits diffus nationalsozialistischen Weltbild anhängen. Dieser Kreis gefällt sich darin, von großen neuen erhabenen Werten zu reden und bringt doch nichts auf den Punkt. Alles bleibt Schein und schwammig - wie bei den Großen. Die Identitätssuche des Kreises findet bald ihren Weg in der extremen Abgrenzung von anderen, die schon nach der Tat schreit: "Bremshuber fordert die schonungslose Unterdrückung alles Andersrassischen; das ist bestimmt weniger grausam als Schonen und Verachten!" (S.1018) ruft Gerda gegenüber
Ulrich aus.
Ulrich sinniert über das Selbstbewusstsein der Jugend: "Ein spannendes Gefühl, zu irgendetwas ausersehen zu sein, ist das Schöne und einzige Gewisse in dem, dessen Blick zum erstenmal die Welt mustert. Er kann, wenn er seine Empfindungen überwacht, zu nichts ohne Vorbehalt ja sagen; er sucht die mögliche Geliebte, aber weiss nicht, ob es die richtige ist; er ist imstande zu töten, ohne sicher zu sein, dass er es tun muss." (S.249f.) Es ist genau diese Ungewissheit, in der Ulrich noch immer gefangen ist.
Die große Welt und die noch mit blinder Kraft geladene Jugend bilden die Parteien, die sich den Fortschritt auf ihre Fahnen geschrieben haben. Der Sexualmörder Moosbrugger, der im ganzen Roman immer wieder thematisiert wird, symbolisiert als Kontrast dazu einen Menschen, der zum Stillstand gekommen ist. Ihn erwartet kaum mehr als die Todesstrafe; seine Erscheinung ist nur noch Gegenstand von Zeitungsartikeln und theoretischen Diskussionen, als Mensch hat er ausgedient, man hat ihn objektiviert.
Was sonst noch vom Leben bleibt, ist das Private - Ulrichs Verbindungen zu diesen und jenen Frauen und auch seine langjährige Freundschaft zu Clarisse und Walter. Von ihrer Konzeption als Paar bilden sie einen Gegensatz zum unbeständigen Ulrich, ihre Verbindung wird von Musil als möglicher Ausweg aus der Fragmentation des Lebens dargestellt: "mit einem Mal war die Welt keine wüste, regellose, zerbrochene Fläche mehr, sondern ein schimmernder Kreis, Walter ein Mittelpunkt, sie [Clarisse] ein Mittelpunkt, zwei in einem zusammenfallende Mittelpunkte waren sie". (S.145)
In einem Gespräch mit Walter wird Ulrich gefragt, ob er mit Clarisse denn auf den Sinn des Lebens verzichten solle. Er antwortet, wozu er einen Sinn brauche, "es ginge doch auch so." (S.216). "Was man im Leben braucht, ist bloß die Überzeugung, dass das Geschäft besser geht als das des Nachbarn." (S.216). Diese Ansicht wird von Walter als österreichische Staatsphilosophie des Fortwurstelns tituliert, Ulrich möchte das aber gar nicht so abschätzig betrachtet wissen.
Später, in einem Dialog mit dem Kapitalisten Leo Fischel, vertieft Ulrich den Gedanken über den Sinn des Lebens und verneint zugleich die Möglichkeit eines allgemeinen Fortschritts, denn "jeder Fortschritt ist zugleich ein Rückschritt. Es gibt Fortschritt immer nur in einem bestimmten Sinn. Und da unser Leben im Ganzen keinen Sinn hat, hat es im Ganzen auch keinen Fortschritt." (S.484). Zugleich räumt er jedoch ein, dass, wenn das Leben im einzelnen Fortschritte hat, genauso Sinn im einzelnen haben muss. Ulrichs Weltbild ist also keineswegs fatal, so gleichtgültig er auch aufgrund gewisser Ansichten erscheinen mag.
Kunst und Liebe gehören für Ulrich zusammen, denn man könnte behaupten, "indem sie [Kunst] liebt, macht sie schön, und es gibt vielleicht auf der ganzen Welt kein anderes Mittel, ein Ding oder Wesen schön zu machen, als es zu lieben." (S.367). Diese Liebe hat Ulrich jedoch noch nicht finden können, er ahnt sie erst, als er mit seiner für ihn mehr oder weniger verschollenen Schwester Agathe im Dritten Teil des Buches anläßlich der Beerdigung seines Vaters zusammentrifft. Beide gehen ein inniges seelisches Verhältnis miteinander ein, dass doch nicht in den körperlichen Inzest umschlägt. Stattdessen formulieren beide die Idee, dass sie Zwillinge, ja, gar Siamesische Zwillinge seien. Dieses Zusammentreffen markiert den Anfang von Ulrichs Abwendung von der Parallelaktion, er lässt sich fortan nur noch schwer für sie einspannen, und doch entwickelt sie sich weiter, ohne aber von der Stelle zu kommen. Da sie sich dessen längst bewusst ist, ruft sie in ihrer Verzweiflung die Parole der Tat aus, verspricht ein großes Ereignis. Die Idee hat sich gewissermaßen verselbständigt, ohne sich jedoch einen festen Körper angeeignet zu haben.
Der Mensch glaubt an Ideen, "nicht weil sie manchmal wahr sind, sondern weil er glauben muss. Weil er seine Affekte in Ordnung halten muss. [...] Das richtige wäre wohl, statt sich vergänglichen Scheinzuständen hinzugeben, die Bedingungen der echten Begeisterung wenigstens zu suchen." (S.1037). Eine Art Quintessenz? Vielleicht.
Robert Musil hat sich mit seinem Hauptwerk eine möglichst umfassende Schilderung des menschlichen Lebens aufgebürdet, die ihr Hauptaugenmerk auf die unterschiedlichsten Gedanken seiner Zeit gerichtet hat. Im "Mann ohne Eigenschaften" finden wir den modernen Menschen in all seinen Widersprüchlichkeiten, in der längst vollzogenen Auflösung eines einheitlichen Glaubens, auf dem steinigen Pfad des Individualismus - und vor der unabwendbaren Katastrophe des Ersten und auch schon Zweiten Weltkrieges samt all seinem Grauen und seinen Gräueln (kühnere Historiker sprechen ja hier sowieso von einem zusammenhängenden Dreissigjährigen Krieg). Dass so ein Vorhaben im Ergebnis fragmentarisch bleiben musste, selbst wenn Musil 100 Jahre länger gelebt hätte, sollte auch dem am wenigsten wohlwollenden Kritiker klar sein. Was dem Leser jedoch bleibt, ist ein breit angelegter Roman voller philosophischer Tiefen, der ihm eine Welt eröffnet, in der er sich gänzlich verlieren kann, weil sie ihn in ihrer Intensität nur aufsaugen oder im Negativfall vollkommen unberührt belassen kann.
[*] Diese Rezension schrieb: Arne-Wigand Baganz (2005-02-23)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.