Nach 50 Jahren Bühnenpräsenz seien die Rolling Stones zu einem anerkannten britischen Nationalschatz wie Shakespeare oder die weißen Klippen von Dover geworden, schreibt Philip Norman in seiner gerade erschienen Jagger-Biographie. Der einstige „Street Fighting Man“ wurde in den Adelsstand erhoben und trägt heute den Titel „Sir“, was seinen Bandkollegen Keith Richards dazu veranlasste es als „Verrat an allem, wofür die Stones immer gestanden hatten“ zu bezeichnen. Der Gitarrist und Co-Songwriter hatte 2010 durch seine eigene Biographie „Life“ Aufsehen erregt in dem er vor allem Mick, seinen alten Freund, vermisste und ihm gleichzeitig einen „kurzen Pimmel“ attestierte, wohl auch um zumindest eine Reaktion des „Mr. Gummilippe“ zu provozieren. Er sei wie Quecksilber mit der Hand zu fangen, zitiert Norman eine Reporterin, nämlich gar nicht, und auch Norman selbst und andere Biographen beklagen, die Tatsache, dass es sehr schwierig wäre, Jagger etwas Zitierfähiges zu entlocken. Eine in den 80igern geschriebene Biographie verschwand aus demselben Grund schon einmal in der Schublade, sie sei einfach zu langweilig gewesen, so Norman, aber das hätte nicht am Biographen, sondern an Jagger selbst gelegen, der bei komplexeren Problemen seiner Vergangenheit stets behaupte, sich nicht mehr erinnern zu können. Norman nennt es „das schwarze Loch der Jagger-Amnesie“. Dennoch hat die vorliegende Biographie 700 Seiten.
Das Altern, die Alten, und ihre Altersheime
Norman ist es in seinem 700-seitigen Werk gelungen, vor allem die Frühphase der Stones und einen Gummimenschen („Klitschnigger“) zu porträtieren, der nicht nur durch seine körperliche Elastizität, sondern auch durch seine Anpassungsfähigkeit an die verschiedensten Modetrends aufgefallen ist. Jagger wird einerseits als liebevoller, umsorgender Vater dargestellt, was auch seine Kinder bezeugen würden – so Norman – andererseits als knausriger Pfennigfuchser, der sich lange Zeit weigerte, Tantiemen zu zahlen oder sogar seine Langzeitehefrau mit einem Taschengeld abfinden wollte, da die hinduistische Heirat der beiden keine rechtliche Grundlage hatte. Natürlich war er dann stets zum Einlenken bereit, aber der Verdacht, er habe Jerry Hall nach dem Fiasko mit Bianca absichtlich „nicht richtig“ geheiratet erhärtet sich, wenn man sich seine zahlreichen anderen Sparsamkeitsneurosen ansieht. So habe er Co-Songwriter Bill „Resopal“ Wyman oder Mick Taylor und auch später Ron „Ameisenbär“ Wood stets abgewiesen und auch Charlie „Schildkröte“ Watts nur als Angestellten bezahlt, aber niemals als Vollmitglied der dienstältesten Rockband der Welt akzeptiert. John Pasche wiederum, der Erfinder des berühmten Stones-Logos soll sogar mit einer Zahlung von läppischen 50 Pfund abgefunden worden sein, so Norman.
Oh, I’m a Rollin’ Stone
Keith Richards und Mick Jagger seien sich sogar schon früher als erst mit 18 an jenem Bahnhof in Dartford begegnet, so Norman, also anders als es die Legende erzählt.. Mit acht Jahren gingen sie nämlich zusammen auf die Wentworth County Primary Grundschule und Richards sei vor allem durch seine abstehenden Ohren und weniger durch rebellische Aufmüpfigkeit aufgefallen. Als sie mit Ian Stewart dann auf die R&B Schiene abfuhren und mit Buddy Hollys Song „Not Fade Away“ auch mit amerikanischem Rock’n’roll reüssierten waren die als langhaarige Schwuchteln und weiße Nigger verschrienen „Rollin’ Stones“ bald nicht mehr aufzuhalten. Die Schuljungs aus Dartford sollten zwar vor allem schwarze Bluesmusiker als Vorbilder haben (ihr Name stammt von einem gleichnamigen Muddy Waters Song und einer Textzeile in „Mannish Boy“: „Oh, I’m a Rollin’ Stone“), aber dennoch als die größte Rock’n’Roll Band der Weltgeschichte den Planeten gleich mehrmals umrunden. Ihr geschätztes heutiges Vermögen beläuft sich auf 2 Milliarden Pfund, ihre letzte Tournee „A bigger bang“ brachte ihnen 558 Millionen Dollar Einnahmen. Und das obwohl ihr Ex-Manager bei Decca sie um die Rechte und Tantiemen ihrer bekanntesten Songs wie „Satisfaction“, „Jumping Jack Flash“ oder „Sympathy for the Devil“ geprellt hatte.
Das Unternehmen Rolling Stones
Der sagenhafte Reichtum, den sich - zumindest die beiden Leader der Band – erspielt haben führte natürlich schon in den 70ern zu so manchen Eskapaden. Keith Richards leistete sich eine Heroinsucht, Mick Jagger eben eine Sexsucht. Drogen habe letzterer übrigens nie viele genommen, abgesehen davon dass er in den Sechziger ein Jahr lang auf LSD gewesen sei und ab und zu Heroin geraucht habe, wie er Jerry Hall später einmal gestand. Jagger, der Bachelor der LSE, war eben mehr der Geschäftsmann, das sollte auch Richards merken als er in den 80igern endlich aus seinem selbstverschuldeten Drogensumpf aufwachte und erst den wahren Jagger „erkannte“: der war nämlich nicht mehr sein „Freund“ aus den Schultagen von Dartford, sondern ein eiskalter Entrepreneur. Philip Norman erwähnt auch, dass die Stones ihren ersten eigenen – also selbstgeschriebenen Hit – für Marianne Faithfull verfasst hatten. „As Tears Go Bye“ wurde Faithfulls erster und für lange Zeit letzter Hit, da sie sich ebenso wie Anita Pallenberg in die Drogensucht verabschiedet hatte. Praktisch vor allem für Mick Jagger, der sich damit einiges Geld ersparte. Zuvor hatten die Stones drei (!) Alben mit Coverversionen rausgebracht und waren auf mehr oder weniger erfolgreichen Tourneen in den Staaten, wo sie nicht nur ausgebuht, sondern auch verprügelt worden waren: ihr Reingewinn der ersten USA-Tournee war pro Kopf 50 Penny.
„A Mars a day helps you work, rest and play“
„Satisfaction“– eigentlich ein Song über Onanie – brachte sie dann 1965 plötzlich ganz groß raus, wahrscheinlich weil sich so viele Teenager nicht nur mit dem Text identifizieren konnten, sondern auch die unmissverständliche Botschaft, nämlich von allem viel zu viel zu haben und sich zu langweilen, endlich in die Tat umsetzen wollten. „Aftermath“ – das Album zum Song – erschien 1966 und enthielt erstmals ausnahmslos Jagger/Richards Songs. Ihren eigentlichen Erfolg verdankten sie aber einer sog. covert action der englischen Regierung, die durch eine fingierte Drogenrazzia im Domizil von Richards, in Redlands, Mick und Keith wegen Drogenmissbrauchs in Untersuchungshaft brachte. Spätestens dadurch wurden die Stones zu Identifikationsfiguren der aufkeimenden Rebellion, die den Rest der Sechziger das Geschehen in der gesamten Welt dominieren sollte. Bei der Razzia wurden übrigens nicht nur Drogen gefunden, sondern auch ein Marsriegel, der sich zuvor an einer ganz bestimmten Stelle befunden haben soll: „a Mars a day helps you work, rest and play“. Marianne Faithfull, die nur mit einem Pelz bekleidet war, ließ diesen bei ihrer Perlustration anscheinend so fallen, dass man ihre nackte Haut sehen konnte. Der Drogenkoffer eines gewissen Snyderman wurde jedoch unbeachtet liegen gelassen.
„Schnee von gestern“
Das sog. „Urteil von Chichester“ wurde dann aber doch abgemildert und Mick sogar in eine Diskussionsrunde bei der TV-Serie „World in Action“ mit dem Establishment geladen, in der er sich ausgesprochen kollaborativ verhielt. Dreißig Jahre später sollte sich herausstellen, dass die Razzia in Redlands von dem Dealer Acid King David Snyderman in Zusammenarbeit mit dem FBI als Teil der großangelegten Cointelpro (Counter Intelligence Program) angelegt war. Cointelpro richtetee sich seit den 50er Jahren gegen sog. subversive Elemente, also Kriegsdienstverweigerer, Bürgerrechtler, Black Panthers, Kommunisten. Auch die Rolling Stones wurden so zu Opfern des Kalten Krieges. Mick Jagger sollte einer der größten Skandale der Nachkriegsgeschichte später nur ein Schulterzucken wert sein. Das sei doch „Schnee von gestern“. Der „Sohn eines Sportlehrers“ hätte mehr als einmal die Chance gehabt, das sog. Establishment an die Wand zu spielen, Geld hätte er inzwischen ja genug gehabt. Stattdessen verhielt sich der einstige Rebell kooperativ und besann sich auf seine Rolle als ewiger „Schwerenöter“. Damit wurde er zu einer Karikatur seiner Vätergeneration, das, was man gerne als „alten geilen Sack“ bezeichnet, ein Macho par excellence, nur mit dem nötigen Charme und Verve halt.
Think the time is right für palace-revo-loo-shun?
Eine kleine Retourkutsche für die eingangs erwähnte Anschuldigung Keith Richards’ bezüglich Jaggers „physischer Ausstattung“ findet sich auch bei Philip Norman. Allen Ginsberg, der wohl bekannteste Beatnik-Autor und Schwule der 60er Jahre soll beim Anblick von Micks Samthose, die ihm im Schritt spannte, laut Marianne Faithfull herausgeplatzt haben: „Was hast du da nur für ein Riesenpaket!“. Natürlich war das eher auf seine Eier bezogen, denn den Rest bekam Ginsberg ja nie zu sehen. Dafür vielleicht David Bowie? Jaggers Androgynität, seine Spielerei mit Transvestie, seine Tanzbewegungen (die er sich von James Brown abgeschaut habe) waren sicherlich eine Befreiung für den männlichen Körper, der bis dahin streng in Uniformen gesteckt war. Selbst die Beatles und ersten Musiker mussten solche Bühnen-Uniformen noch tragen, die Stones waren die ersten, die das abschafften. Auch was die sexuelle Befreiung betrifft, ist der Ober-Stone sicherlich als Vorkämpfer zu bezeichnen, auch wenn er ein machistischer Chauvinist war, die Frauen liebten es ja und wollten ihn gerade deswegen. Manch andere Legende wird aber auch hier gebrochen, wenn etwa Marianne Faithfull zitiert wird, dass sie im Bett häufig ein Bollwerk aus Büchern zwischen sich errichtet hatten und einander viel vorlasen. Sex war für sie immer ein Problem gewesen. Hatte Mick deswegen das „droit de seigneur“ oder ius prima noctis? Dieser Scherz der Bandmitglieder untereinander, sollte auch Bianca abschrecken und selbst Jerry Hall gelang es nicht den „Löwen“ zu bändigen geschweige denn zu domestizieren.
Mr. Brenda „Beef Curtain“
Der erste Manager der Stones, Andrew Loog Oldham, hatte 1962 den Rebellen Mick Jagger erfunden und die Rivalität zwischen Beatles und Stones als Mythos genährt. In Wirklichkeit waren die Pilzköpfe und die Moosköpfe die besten Freunde und Mick Jagger ein einfacher Geschäftsmann oder wie Truman Capote ihn nannte: ein Buchhalter. Mr. „Beef Curtain“ wurde in einer tragischen Verkehrung der tatsächlichen Umstände zur Ikone der Sechziger stilisiert und verdankte seinen millionenschweren Erfolg gerade diesem Mythos. Dabei war „Brenda“ – wie ihn das Satiremagazin Private Eye nannte – eigentlich nichts anderes als ein alter geiler Sack, ein chauvinistischer Macho, der bis dato bis auf ein paar Wohltätigkeitskonzerte für Erdbebenopfer rein gar nichts für die Menschheit getan hatte. Eigentlich ist Mick Jagger also nichts anderes als der Prototyp des kapitalistischen Entrepreneurs, der sich – so tatsächlich geschehen – etwa an den Tisch seines „alten Freundes“ Bill (Wyman) setzt, den teuersten Champagner bestellt und ehe die fette Rechnung kommt, wieder verschwunden ist. „God gave me everything“ heißt nicht umsonst einer seiner letzten Hits: Geltungsbedürfnis, Selbstsucht und Geldgier sind Eigenschaften mit denen wahrlich nicht jeder gesegnet ist. Insofern ist Mick Jagger‘s missglückte Schauspielkarriere – die ihm sein Biograph nachsagt - eigentlich doch sehr erfolgreich verlaufen: die ganze Welt ging ihm bei seiner Maskerade auf den Leim.
Wild Horses und Brown Sugar
Philip Norman ist in seiner Biographie von Mick Jagger bemüht, ein möglichst ausgewogenes Bild des Frauenhelden zu präsentieren und spart nicht an Details, etwa wenn es um den Tod von Brian Jones oder die viel zitierte „Hölle von Altamont“ geht. Dass er schon zu John Lennon eine Biographie geschrieben hat merkt man auch diesem Werk an, denn der coolste Beatle taucht immer wieder auf. Ein Verdienst Normans ist sicherlich auch, dass er die vorherrschende Legende der „guten“ Beatles und „bösen“ Stones in das Reich der Popmythen verweist. Das Titelbild zeigt einen Mick Jagger bei der Beichte, der sein verschmitztes Lächeln hinter gefalteten Händen versteckt. Auch wenn das Buch keine Beichte geworden ist, ist es doch spannend zu lesen und man bekommt richtig Lust, die Texte der Stones, die Norman oft zitiert und mit Hintergrundinfos (etwa wie „Brown Sugar“ ursprünglich hieß) ausstattet, nochmals live zu hören. Wer wissen will, wer die Stones zu einem ihrer größten Hits inspirierte, lese bitte auch die Rezension zu Bulgakow auf unserem Portal, denn die von mir angedachte These wird von Philip Norman bestätigt. Was bleibt sind natürlich die grandiosesten Songs der Rockgeschichte und nicht weniger als ein Mythos. 2013 wird zeigen, ob die Stones ihre eigenen Rekorde noch einmal brechen werden können…
Philip Norman
Mick Jagger
Droemer Verlag
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2013-02-11)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.