Es ist mitten in der Nacht. Der Tag hat noch nicht begonnen. Eine alte Frau hält ihren erwachsenen Sohn in den Armen. Seit Monaten hat die verwitwete Frau ihn gepflegt, nachdem er schwer erkrankt wieder nach Hause zurückgekehrt war. Nun ist er tot, wie sie schon registriert hat.
Noch vor Tagesanbruch führt sie mit ihrem Sohn ein langes Gespräch, und erst nachdem die Sonne schon lange aufgegangen ist, wird sie den Arzt anrufen. Zuvor führt sie einen Monolog, der ihr sowohl dazu dient, sich zu erinnern als auch zum ersten Mal dem Sohn ein lange gehütetes Geheimnis zu offenbaren:
„Man muss alles aussprechen. Und wenn man es nicht aussprechen kann, dann muss man es aufschreiben. Ich habe alles aufgeschrieben. Auch wenn die Hand zittert. Auch wenn es nur ein paar Seiten in meinem Spiralblock sind.“
Sie erinnert sich an ihr Leben im Nachkriegsdeutschland. Ein Leben mit einem Ehemann, der als Versehrter aus dem Krieg heimkehrte, an den Aufbau eines gemeinsamen Textilgeschäftes, an die Arbeit und das Streben nach Anerkennung im Dorf. Wie sie alles für ihren einzigen Sohn taten, ihm sogar ein schwarzes Klavier kauften. Der Versuch ihm zu helfen, sozial aufzusteigen. In einer kurzen Bemerkung erfahren wir, dass er das später wohl auch schaffte. Über sein sonstiges Leben erfahren wir nichts.
Die Frau, der die wohl seit langem in ihrer Kehle und im Herzen steckenden Worte nur so heraussprudeln, hat ihren Sohn über alles geliebt, und doch ist er ihr immer fremd geblieben. Denn sein Leben verdankt sich möglicherweise einer traumatischen Gewalterfahrung, die die Frau auf der Flucht vor den Russen machen musste, ohne dass ihr Mann eingreifen und ihr helfen konnte. Für die Ehe hatte das Folgen:
„Obwohl mein Mann und ich uns seit diesem Ereignis näher denn je waren, geradezu miteinander verschweißt, sind wir uns seit diesem Tag im Januar 1945 zugleich auf schmerzliche Weise fremd geworden, um nicht zu sagen: verloren gegangen. Miteinander verschweißt und füreinander verloren. Wir haben es beide gespürt und nie darüber gesprochen. Weder damals noch später. Man kann nicht alles aussprechen.“
Und so erzählt sie sich, sich endlich befreiend von dem, was sie jahrzehntelang gedrückt hat, durch die Nacht hinein in den Tagesanbruch. Der erste Tag eines Lebens, das sie von nun an ganz allein führen wird. Ob sie wagt, noch einmal neu anzufangen mit dem Leben, das ihr bleibt? Ob es ihr gelingt, ihren Sohn und die dramatische Geschichte seiner Entstehung loszulassen und sich trotz ihres Alters noch einmal zu öffnen für andere Menschen?
Als ich das schmale Bändchen mit dieser berührenden Novelle ausgelesen hatte, habe ich es mit diesen Fragen im Herzen beiseitegelegt, spürend, dass ich seine Geschichte noch lange in Erinnerung behalten werde.
Hans-Ulrich Treichel, Tagesanbruch, Suhrkamp 2016, ISBN 978-3-518-42525-1
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2016-06-14)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.