„Ci vuole un sacrificio, così la casa venga piu solida“ erklärt Rocco (Alain Delon) am Tag seines größten Erfolgs und die Kamera schwenkt auf ein Foto seines Bruders Simone, der zur selben Zeit, als Rocco im Ring seinen wichtigsten Kampf gewann, ihre gemeinsame Geliebte erdolchte. Tatsächlich braucht es viele Opfer (sacrifici), damit eine Familie stärker wird, die kurz davor steht, auseinander zu fallen. Luchino Viscontis Film aus dem Jahre 1960 beschäftigt sich mit einem klassischen Thema, klassisch italienisch: Die Familie Parondi aus Lucania im Süden Italiens wandert in den Norden aus, nach Mailand. Ohne Familienoberhaupt, also Vater, dafür aber mit einer umso resoluteren Mamma, wie man es aus anderen italienischen Klischees kennt, wagen es die fünf Brüder auf der Suche nach Arbeit ihre Heimat zu verlassen, denn Norditalien ist ein anderes Italien als das, was sie kennen, worauf im Film einige Male hingewiesen wird, resp. Was überhaupt ein Thema ist, bei Visconti, man erinnere sich an „Der Leopard“ (1963), eines seiner bekannteren Werke. Auf der einen Seite Industrialisierung und Entfremdung, auf der anderen Seite rurale Bedingungen, aber dafür Solidarität und Menschlichkeit. Der Kampf von Rosaria und ihren fünf Söhnen ums Überleben ist geradezu archetypisch für die italienische Wirklichkeit und hat auch heute, 50 (!) Jahre nach Erscheinen dieses Films, nichts von seiner Aktualität verloren.
Vincenzo, der älteste der fünf Brüder, hat schon eine Arbeit in Milano und sogar eine Braut gefunden. Ginetta (Claudia Cardinale) ist wunderschön, doch gleich bei der Ankunft der zukünftigen Verwandtschaft aus dem Süden, zerstreiten sich die beiden Schwiegermütter und so hängt gleich von Anfang an der Haussegen schief. Eine grandiose Szene zeigt die beiden Familien am Tisch, an den sich die Neuankömmlinge gleich hinsetzen, und die lauten Mammas beginnen – typisch italienisch – zu schreien und eine große Szene, „una pantomima“, zu veranstalten. Vincenzo darf Ginetta fortan nur mehr heimlich treffen und spielt dann im Film eigentlich gar keine so wichtige Roller mehr, außer vielleicht um das gestörte Verhältnis der Mutter zu ihrer Schwiegertochter zu illustrieren, denn auch das ist „typisch italienisch“, wie sich noch herausstellen wird. Simone, der bald die Boxerkarriere seines Bruders übernimmt, verliebt sich nämlich ausgerechnet in die Prostituierte Nadia und das wird für die gesamte Familie noch geradezu grausame Konsequenzen haben und zu einer heftigen Zerreißprobe führen. Als dieser nämlich gegen Ende des Films seine Geliebte ermordet, verteidigt seine Mutter ihn gegen die Angriffe von Ciro, der ihn bei der Polizei anzeigen will. „Und sonst noch was!“, schreit sie, „Sie hat nur gekriegt, was sie verdient hat, diese Puttana“ und ohrfeigt Ciro, der sich sogleich auf seine Vespa schwingt und davonrast. Eine Mutter, die ihren figliolo (Söhnchen) selbst dann noch verteidigt, wenn er zu einem Mörder geworden ist. Ist das auch „typisch italienisch“? Ciro, dem von der Familie Verstoßenen, bleiben dann noch die weisen Schlussworte am Ende des Films. Er drückt - mit den Arbeitssirenen des Automobilkonzerns Alfa Romeo im Hintergrund – seine ganze Hoffnung aus, dass zumindest sein jüngster Bruder, Luca, es einmal, in ferner Zukunft besser haben wird. Gleichsam gezähmt trottet er in die Fabrikshalle, küsst noch einmal seine herangeeilte Verlobte, und fügt sich in sein Schicksal. Eine weitere grandiose, sozialdramatische Szene, die nicht nur inhaltlich den Höhepunkt des Films markiert, sondern auch in ihrer Dramaturgie einfach genial ist.
Doch zuerst zur Liebesgeschichte: Simone liebt Nadia, aber Nadia liebt Rocco. Der junge Alain Delon, der diesen Rocco darstellt, spielt eine äußerst schüchterne, sanfte Rolle und nicht, wie es in dem Text auf der Zweitausendeins-Ausgabe fälschlicherweise heißt, einen Killer, das ist auch gar nicht sein Sujet. Vielmehr ist er oft ein charmanter Verbrecher, aber kein Killer. Damit hat seine Rolle also Rocco jedenfalls nur wenig zu tun, vielmehr ist Rocco die Impersonifikation des Guten, ein Engel geradezu, der an das Gute im Menschen glaubt und aus Liebe zu seinem Bruder, seine eigene Liebe zu Nadia begräbt. „Du musst zu ihm zurück gehen“, sagt Rocco zu Nadia, auf dem Dom von Milano, „nur du kannst ihn heilen. Nur die Liebe kann ihn heilen.“ Und obwohl es ihn sehr schmerzt, verzichtet er auf Nadia und schickt sie zu seinem Bruder. Am Ende wird er erkennen, dass gerade dieser Verzicht auf seine Liebe, sein Altruismus, das heraufbeschworen hat, was er immer verhindern wollte. Die Kamera zeigt den Duomo von Milano aus einer Flugzeugperspektive, nachdem sich Nadia und Rocco am Dach getrennt haben und sie sich dann doch nicht hinuntergestürzt hat. Sie folgt dem Rat Roccos und kehrt zu Simone zurück, womit sie einen Selbstmord auf Raten begeht. Auch hier, in der Szene auf dem Duomo di Milano, eine geniale Entwicklung der Scenografia, von Nadias „Ti amo“ am Anfang der Szene, begleitet einen eine fantastische Kameraführung zu Nadias „Ti odio“ am Ende der Szene. Und nur das Dach des Duomo di Milano trägt die Last dieses radikalen Stimmungswandels in der Roccos tröstende Worte „Ci vuole fiducia, non bisogno di aver’ paura“(Vertrauen und keine Angst zu haben) ungehört verhallt.
„Sogar Jesus Christus muss bereuen, was er uns angetan hat“, klagt die Mutter am Ende des Liedes, als Rocco seine Mitschuld am Verbrechen des Bruders erkennt und sich in den armen des Mörders Simone vergräbt. „Schuld“ ist ein großes Thema dieses grandiosen Films, der eine Dramaturgie entfaltet, die selbst die 170 Minuten schnell vergehen lässt. Starke Bilder, exzellente Gestaltung der Charaktere und eine gute Geschichte. In „Rocco und seine Brüder“ zeigt Luchino Visconti ganz großes Kino, das einen tief in der Seele berührt und ebenso packend ist wie die italienische Realität. Auch heute noch. „Familie“ und der Wille, diese um jeden Preis zusammenhalten zu wollen, ist sicherlich ein italienisches Thema, gerade wenn man von den „Terroni“ (Süditalienern) spricht. Der engelsgleiche Rocco und seine Mutter versuchen dies mit sanfter Gewalt, was nicht gelingen kann, denn jedes Familienmitglied braucht seine Freiheit und Entwicklungsmöglichkeiten, die durch das zwanghafte Zusammensein nur erstickt werden. Die Mutter mag vielleicht auch deswegen ihre Schwiegertöchter nicht, denn diese sind die Eindringlinge und nehmen ihr ihre Söhne weg, die sie für ihr eigenes Überleben in Milano dringend braucht. Rocco ist dabei ihr Verbündeter, aber wie ihn sein Bruder Ciro am Ende kritisiert, kann man nicht immer nur gut sein, nicht einmal als Heiliger. Schließlich gilt für einen Boxer dasselbe wie für einen normalen Menschen: kein Alkohol, keine Zigaretten und keine Frauen. So drückt es zumindest einmal der Trainer der Jungs aus, Duillho, eine durchaus finstere Gestalt. Genial ist übrigens auch der Einstieg von Visconti, wenn er am Anfang des Films die Freude der sechs Ankömmlinge aus dem Süden zeigt, die sie mit dem neu gefallenen Schnee haben. Von dieser Idylle aus, dem unschuldigen Weiß des Schnees, entfaltet sich ein soziales Drama an dessen Ende einen Blut und Tränen erwarten.
Luchino Visconti drehte mit „Rocco e i suoi fratelli“ einen zutiefst realistischen Film, der in Deutschland erstmals erst 1993 (!) unzensiert und in voller Länge gezeigt werden konnte. Jetzt liegt er endlich in einer ungekürzten Fassung und im italienischen Original mit deutschen Untertiteln oder auch einfach auf Deutsch bei Zweitausendeins in einer schmucken Edition vor. Das Cover ist beinahe wie ein Buch gestaltet (siehe Buchrücken), ist aus umweltschonendem Pappkarton und nicht Plastik und es lässt sich aufklappen und so in voller Bandbreite genießen, fast so monumental, wie der darin enthaltene Film! Die Gestaltung ist s/w und sehr ästhetisch gelungen, mit vielen Standfotos aus dem Film und einigen Texten zu Regisseur und Film. Der ausgezeichnete, jazzige, Soundtrack stammt übrigens von Nino Rota. Eine Empfehlung für alle, die sich mit der „Italianità“ auseinandersetzen wollen und für die Begriffe wie „Familie“, „Schuld und Sühne“ oder „Liebe“ ein Thema sind. Und natürlich auch für Boxliebhaber!
Luchino Visconti
Rocco und seine Brüder (1960)
Mit Alain Delon, Claudia Cardinale et al
Teil 24 der Zweitausendeins Film Edition