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Rezensionen  
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Anita Augustin - Der Zwerg reinigt den Kittel
Herodot schreibt in seinen Historien über ein indoeuropäisches Reitervolk, die Massageten, die ihre Alten aufgegessen hätten. Im Aufgegessen werden bestand aber ein „hohes Glück“ zitiert die Autorin den römischen Geschichteerzähler, denn wenn ein Alter krank war, wurde er den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen und nicht von seinen Angehörigen oder seinem Stamm verspeist. In Japan hingegen wurde Senilität mit einer gewissen Nähe zum Göttlichen assoziiert. Wer seinen senilen Vater oder seine senile Mutter pflegt, sei quasi eine Art Priester, ein „Pflegepriester“ und habe Anteil am Göttlichen (außer der der Sache mit den Zehennägeln natürlich wie Anita Augustin süffisant hinzufügt). Und wie sieht es im Mitteleuropa des 21. Jahrhunderts mit der Altenpflege aus? Nun, genau damit beschäftigt sich dieser unterhaltsame Schelmenroman der österreichischen Dramaturgin aus Berlin, die ihr Diplom in einer Barkeeperschule gemacht hat und sich mit 42 Jahren wohl noch lange auf ihre Pension vorbereiten kann.
Klammheimliche Freude
Augustin versteht es, ein eigentlich sehr trauriges Thema mit subtilem Humor zu erzählen und natürlich ist auch eine ordentliche Portion Gesellschaftskritik und klammheimliche Freude an ihren Sabotageakten dabei. Frau Almut Block leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTB) und erzählt in verschiedenen Sitzungen dem Herr Doktor Norbert Klupp, Anstaltsarzt, ihr „kleines“ Problem, das irgendwie mit einer gewissen Ingeborg Bachmann zu tun hat, nur, dass die Leidtragenden nicht sie selbst, sondern ihre drei Freundinnen sind, die sie fortan immer begleiten, auch während ihres Aufenthaltes in der sog. Residenz (Altersheim) natürlich. Mehr soll aber über das PTB von Almut hier gar nicht verraten werden, denn das nähme dem Roman, der irgendwie dem Krimigenre zuzuordnen ist, die wohlverdiente Spannung. Und tatsächlich liegen die Nerven bloß, wenn man die Ministerin für Gesundheit und Soziales so reden hört, denn es ist nichts anderes als eine kleine Verschwörung im Gange, eine Verschwörung gegen die Alten unserer Gesellschaft.
Graue Panther wie du und ich
Wer bisher glaubte, das Alter als Periode des Ruhestandes und Stillstands definieren zu können, hat sich geschnitten, Au! Denn diese obsolete Vorstellung aus dem 20. Jahrhundert wird von der Ministerin in Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie endgültig begraben. „Geben wir ihnen das, was sie selbst einfordern: das Recht auf Pflicht“, so die entfesselte Ministerin, die vom „Defizit- zum Aktivitätsmodell“ wechseln möchte, denn die Alten sollen „wieder zu einem Gewinn werden, nicht einer Belastung“! Mit teilweise beißendem Spott und köstlicher Ironie macht sich Anita Augustin über eines der letzten Tabuthemen unserer Gesellschaft her und zeigt, wohin diese Diskussionen über die Demographie und die Bevölkerungsurne statt –pyramide auch führen könnten. Senioren sind aber eben auch nur Menschen wie du und ich, graue Panther zwar, aber noch lange keine „Turbosenioren“ und sie wollen zu ihrem Recht kommen. Anita Augustin zeigt, wie es zumindest Almut schafft. Absolut lesenswert für alle jene, die sich einem der letzten Tabuthemen auf intelligent humorvolle Weise annähern wollen.
Anita Augustin
Der Zwerg reinigt den Kittel
336 Seiten
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2012-12-14)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.
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