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Literaturforum: Peter Altenberg und der bürgerliche Selbsthass


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Forum > Literaturgeschichte & -theorie > Peter Altenberg und der bürgerliche Selbsthass
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 Thema: Peter Altenberg und der bürgerliche Selbsthass
ArnoAbendschoen
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seit dem 02.05.2010

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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 26.07.2013 um 18:33 Uhr

Peter Altenberg wurde vor allem von Karl Kraus und Arthur Schnitzler entdeckt. Er war damals bereits Mitte dreißig und eine im bürgerlichen Sinn gescheiterte Existenz. Ihm war wegen Neurasthenie dauernde Berufsunfähigkeit ärztlich längst attestiert worden, er war vollständig von Zuwendungen der Familie abhängig. Nun wird er der Öffentlichkeit als das poetische Wunderkind mitten aus der Wienerstadt präsentiert - und war doch eher typisch für die Untiefen einer literarischen Kaffeehausgesellschaft.

Altenberg ist begabt, originell und ein fleißiger Schreiber. Nach dem ersten Sammelband von 1896 („Wie ich es sehe“) folgen noch viele weitere, meist im Abstand von zwei, drei Jahren. Altenberg wird anerkannt, geschätzt, eine kleine Berühmtheit. Er stilisiert sich immer mehr zum un- und antibürgerlichen Original, zum Dichtergenie. Und er wird zum Stammvater des kunstvollen Feuilletons: Altenberg, Robert Walser, Polgar, Tucholsky, Kästner, so wird die Reihe einmal lauten. Auf dieses Podest kann man ihn stellen, dort kann man ihn stehen lassen – oder auf seinen Boden herunterholen.

Zwei Sammelausgaben aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führen exemplarisch vor, wie man mit Altenbergs Werk heute umgehen kann. Philipp Reclam jun. Stuttgart veröffentlichte 1968 in seiner Universal Bibliothek die Sammlung „Sonnenuntergang im Prater“. In dem gelben Bändchen finden sich 55 Miniaturen von fast durchgehend hoher Qualität. Es fällt auf, dass die Masse dieser Texte aus den frühen Sammelbänden stammt. Ganz anders „Die Lebensmaschinerie“, 1980 vom Ost-Bruder Reclam Leipzig herausgebracht. Das ist ein Taschenbuch mit knapp 250 Seiten und Hunderten oft sehr kurzer Einzeltexte. In ihm sind alle Schaffensperioden vertreten, die späteren in größerer Zahl, die von den Stuttgartern bevorzugte frühe viel weniger stark.

Der chronologisch angelegte Leipziger Band liefert ein viel genaueres Bild des Gesamtwerks wie auch des Autors selbst und seiner Entwicklung, die ein allmählicher Verfall war. Nicht zu übersehen ist der fortschreitende Qualitätsverlust der Texte. Wo sie vor und um 1900 präzise Beobachtung und geschliffenste Prosa aufweisen, machen sich um 1910 und erst recht in Altenbergs letzten Jahren Zufällig-Banales, Verzicht auf jede Durcharbeitung und ein salbadernder Predigerstil breit. Der Dichter spielt den Sittenrichter, kopiert Abraham a Sancta Clara und Karl Kraus, doch ohne Berufung dazu und vor allem ohne Selbstdisziplin. So liest man sich durch seine öden, oft konfusen Tiraden voller Hass auf die bürgerliche Welt von damals. „Idiot“ ist eine Lieblingsansprache eines imaginierten Adressaten, allein schon bezeichnend für diese Art hohler Kraftmeierei. Zwar schreibt er noch immer einzelne bewundernswerte Texte, doch auch „Die Lebensmaschinerie“ kann das Bild des Werks nur durch behutsame Auswahl zu retten versuchen. Die Herausgeberin Elke Erb schreibt jedenfalls: „Er lässt Glanzstücke neben solchen stehen, die ihn in einem durchaus schäbigen Licht erscheinen lassen. (Im Gegensatz zu Robert Walser wäre eine Gesamtausgabe seiner Skizzen eine Zumutung für den Leser.)“

Aber wie unbürgerlich war Altenberg tatsächlich? Es fällt auf, wie häufig er das eigene Scheitern, gemessen an bürgerlichen Werten und Lebensentwürfen, thematisiert. Gelegentlich mischt sich dabei ein schmerzlicher Ton hinein, öfter ein heroisch-trotziger, der regelmäßig in aggressive Beschimpfung der Wohlsituierten und Gebildeten umschlägt. Ein gehöriges Maß Misanthropie gehört dazu, vergeblich maskiert durch Kindergemüts- und Dienstmädchenverklärung. Die eigene Neurasthenie wird zum Nährboden von „Idealismus“, den er allgemein dann wieder für ein großes Übel erklären wird. Ambivalenz allen Werten gegenüber ist ein vorherrschendes Merkmal. Sie endet in Negation allen Kulturschaffens, auch des eigenen. Vorher hat er lange im Stil der Lebensreformbewegung Hygiene und Diätetik gepredigt – in Gestalt eines allzu schlichten Materialismus – und sich zugleich mit Alkohol- und Schlafmittelabusus die Gesundheit ruiniert. Altenberg bot so während der letzten zehn Jahre seines Lebens das makabre Bild eines Gesundheitsapostels in Sandalen und mit derbem Wanderstock, der Zugluft predigt und sich die meiste Zeit in Entziehungskliniken aufhält.

Altenberg lässt sich bis zum Schluss materiell unterstützen, nach dem Ruin des Familienvermögens von Gönnern, die ihn als Autor schätzen. Nach seinem Tod kommt heraus, dass es mit seiner Bedürftigkeit nicht so weit her war. Er hat ein hübsches kleines Geldvermögen zu vererben. Altenberg und die Widersprüche: Zu Beginn des Weltkriegs äußert er sich eindeutig pazifistisch, verurteilt Krieg und Massensterben, ähnlich wie Karl Kraus. Später finden sich gelegentlich chauvinistische Stellen in seinen Texten, wie von einem x-beliebigen „Schmock“, seinem Anti-Ideal eigentlich.

Er hat die gleichen Götter wie die gutsituierten Bürger seiner Zeit: Goethe, Bismarck usw. Der deutsche Reichskanzler ist allerdings ein wenig verdächtig, in Österreich schätzen ihn vor dem Krieg vor allem die nach Deutschland orientierten Alldeutschen unter Schönerer, der ein Antisemit ist - wie auch Lueger mit seiner mächtigen Christlichsozialen Partei. Peter Altenberg heißt bürgerlich Richard Engländer und ist jüdischer Herkunft. Er ist aus der mosaischen Religionsgemeinschaft ausgeschieden, hat sich katholisch taufen lassen. Das Thema Antisemitismus kommt bei ihm nicht vor. Seine Vorstellungen von einer besseren Gesellschaft ähneln denen der Christlich-Sozialen: anti-liberal, anti-kapitalistisch, kleinbürgerlich.

Eine Schlüsselstelle findet sich in Altenbergs Text „Die Historie“ aus dem Sammelband „Mein Lebensabend“, erschienen im Todesjahr 1919. Hier wendet er sich gegen die historistische Methode der Welterklärung, lehnt die Beschäftigung mit Historie überhaupt ab und plädiert für – wohl auch gewaltsame - gesellschaftliche Entwicklungssprünge. Bismarck – „mit dem Sperberblicke“ – dient als Kronzeuge. Man soll wie dieser „die kommenden Bedürfnisse einer schwankenden Menschheit erschauen und … historienlos dekretieren.“ Dekretieren! Und wer „man“ ist, bleibt noch offen. Dann fordert er „mit einem Federstrich die Auslöschung der belastenden und unnötigen alten Sprachen Griechisch und Latein in den Jugend-Bildungsstätten“ – um sie zu ersetzen durch das Studium folgender Autoren: Goethe, Schiller, Tolstoi, Dostojewski, Richard Wagner, Chamberlain, Macaulay, Gerhart Hauptmann, Knut Hamsun, August Strindberg, Altenberg … Das ist ein sehr bunter Strauß, in dem ein Name rasch ins Auge springt: Houston Stewart Chamberlain, nach Deutschland ausgewanderter Brite, der in den Wagner-Clan hineinheiratete und mit seinen pangermanischen und antisemitischen Schriften die wichtigste theoretische Grundlage für Hitlers Rassenwahnideologie lieferte - und übrigens ein großer Wien-Hasser war. Wie sehr Altenberg von Chamberlain beeindruckt war, wird z.B. an dem Begriff des „Schlechtrassigen“ deutlich, der regelmäßig in seinen Feuilletons auftaucht. Als am Begriff der Rasse orientiertes Gegenbild dazu hat er schon in „Ashantee“ (1897) edle Wilde vorgeführt und zeitgemäß erotisiert, schwarze Frauen, Männer, Kinder, die in einem Wiener Tiergarten monatelang gegen Geld zu sehen waren, eine „Völkerschau“ à la Hagenbeck.

Wer sich auf den ganzen Peter Altenberg einlässt, dem kann es ergehen wie dem jungen Stifter, als er bei einer Führung durch die generationenlang verschlossenen Katakomben unter dem Stephansdom dabei war – er stößt auf Gebein, Moder, zerfallene Kostümierungen, Maskeraden, Inszenierungen, eine ganze untergegangene Gesellschaft, zugleich faszinierend und, obwohl abgestorben, noch immer bedrohlich erscheinend.

Habent sua fata libelli: Bücher haben ihre Schicksale – Autoren auch, und der Leser als solcher erst recht.

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ArnoAbendschoen
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1. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 03.08.2013 um 16:40 Uhr

Nachträglich hierzu noch eine Buchempfehlung: Roland Innerhofer, Evelyne Polt-Heinzl: Peter Altenberg - prophetischer Asket mit bedenklichen Neigungen, Picus Verlag Wien 2011.

Ich las das Buch erst nach Veröffentlichung meines Textes hier und sehe mich vor allem durch den Aufsatz von Polt-Heinzl bestätigt ("Peter Altenberg und die zeitgenössische Bildproduktion - Mythen, Legenden und blinde Flecke"). Sie wendet sich darin gegen "eine Handvoll Klischees ..., die sich unhinterfragt tradieren", gegen eine "Generalsalvierung" Altenbergs (die sie z.B. bei Burkhard Spinnen am Werk sieht), gegen "die Unsensibilität, die bislang die wissenschaftliche Beschäftigung mit Peter Altenberg prägt."

Ein Kernsatz der Autorin: "Natürlich sind historische Texte aus ihren Entstehungszusammenhängen heraus zu lesen, aber das kann nicht in der Forderung münden, ihre problematischen Aspekte auszusparen oder als unwesentlich abzutun. Im Fall Altenberg passiert das auf mehreren Ebenen: seine Kriegsbegeisterung, seine antisemitischen Ausritte, seine Sympathie für Karl Lueger oder die literarischen Spuren seiner pädophilen Neigungen - nichts vermag am Bild des schrulligen, aber liebenswerten Repräsentanten der literarischen Moderne zu rütteln."

Polt-Heinzl analysiert insbesondere Altenbergs Pädophilie. Wertvoll war mir außerdem ihr Verweis auf die Parallelen zwischen Altenberg und Otto Weininger.

Arno Abendschön

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Tayo1
Mitglied

1 Forenbeitrag
seit dem 04.03.2014

     
2. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 04.03.2014 um 13:20 Uhr

"Unter Neurasthenie versteht man die Erschöpfung nach leichtester körperlicher oder geistiger Anstrengung. Dabei handelt es sich um eine Somatisierungsstörung bzw. eine neurotische Störung, die sich in körperlichen Symptomen ausdrückt. Oftmals wird das Syndrom der nervösen Erschöpfung auch als Burn Out bezeichnet. Diese Erkrankung hing im Laufe der Zeit von unterschiedlichen historischen und soziokulturellen Kontexten ab. Sigmund Freud etwa ordnete die nervöse Erkrankung den Aktualneurosen zu, so wie es die Hypochondrie oder Angstneurosen sind. In den asiatischen Ländern hingegen dient der Begriff der Neurasthenie dazu, schwerwiegende psychische Erkrankungen wie Schizophrenie oder Depressionen zu kaschieren."

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ArnoAbendschoen
Mitglied

718 Forenbeiträge
seit dem 02.05.2010

Das ist ArnoAbendschoen

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3. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 04.03.2014 um 21:22 Uhr

Ja, Tayo1, der "Krankheitsgewinn" (Freud) war hier so offensichtlich wie banal: Unterhalt des Neurasthenikers durch die Familie. Es fragt sich überhaupt, wie ernsthaft solche Diagnosen à la mode früher tatsächlich begründet waren. Bekannt ist ja, dass auch die Diagnose, aufgrund deren Robert Walser für Jahrzehnte in die Psychiatrie kam, wissenschaftlich unhaltbar ist.

Altenberg allerdings kam später mit handfesteren Leiden zu seinen Klinikaufenthalten.

Arno Abendschön

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