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Literaturforum: Über André Gide, Der Immoralist


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 Thema: Über André Gide, Der Immoralist
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 01.06.2020 um 12:19 Uhr

Gides längere Erzählung „Der Immoralist“, veröffentlicht 1902 und im deutschen Sprachraum gern als Roman vermarktet, wirkt inzwischen etwas janusköpfig. Beim Lesen schaut man in eine weit zurückliegende Vergangenheit, wird in Problematiken von damals einbezogen oder distanziert sich von ihnen – und stößt dann im Verlauf der Lektüre auf einen zeitlosen Motivstrang. Um im Bild zu bleiben: Jener Kopf, das ist der Leser von heute selbst.

Die Handlung beginnt so: Der junge Archäologe Michel ist auf Hochzeitsreise von Frankreich nach Nordafrika. Unterwegs erkrankt er an Lungentuberkulose. Bei einem längeren Aufenthalt in der Oase Biskra pflegt ihn seine Frau Marceline. Die Genesung gibt seiner Entwicklung einen außerordentlichen Schub: physisch, intellektuell, moralisch. Er befreit sich im Wüstenklima nicht nur von leiblicher Schwäche, sondern bald immer mehr auch von Skrupeln und anerzogenen Rücksichten. Michel geht nach seiner Rückkehr nach Europa daran, sich endlich selbst zu verwirklichen. Seine Welt ist die der 1890er Jahre, das Buch ein Zeugnis des Vitalismus, Nietzsche schaut oft um die Ecke. Soweit das Kulturgeschichtliche.

Michel scheint sich erst in Algerien seiner sexuellen Identität voll bewusst zu werden. Er bevorzugt sehr junge Männer oder Knaben ab einem gewissen Alter, das sich mit irgendeinem Schutzalter nicht decken muss. Diese Thematik wird – Oscar Wildes Schicksal eingedenk - auf behutsam viktorianische Weise dargestellt, zuweilen hinter allgemeinen Lebensmaximen versteckt. Tatsächlich erlebt der Held wie der Autor selbst sein Coming-out in einer französischen Kolonie mit eingeborenen Minderjährigen. Später wird sich in „Die Falschmünzer“ der Romancier Edouard in Paris analog zu Oberschülern hingezogen fühlen. Kaum vorstellbar, dass einer wie Gide zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch den Nobelpreis bekäme. Allerdings sind wir heute nicht einfach eineinviertel Jahrhunderte weiter als Gide damals. Der Fortschritt hat manchmal extreme Kurven, aus denen man herausfliegen kann: wie die Indianerkommune ab den 1970er Jahren und die von ihr Beeinflussten in Politik und Jugendfürsorge zeigen.

Zentrales Strukturelement des Textes ist das Reisen. Die wechselnden Orte und ihre Klimate sind die Treiber der Handlung. Je nördlicher und je urbaner die Schauplätze, desto leerer die Existenz dort. Michels Krise auf seinem Weg nach Süden war produktiv, seine Rückreise in den Norden beweist es. Die ländliche Normandie, zuerst vielversprechend, kann dennoch kein zweites Algerien sein. Paris ist der Tiefpunkt überhaupt. Marceline hat eine Fehlgeburt und erkrankt ihrerseits an Tbc.

Das Paar wiederholt auf einer zweiten Reise in den Süden die erste mit vertauschten Rollen. Marcelines Vitalität schwindet immer mehr, dann stirbt sie im Innern von Algerien. Wie Michel die junge Frau davor pflegt, wie er sie und sich selbst damit quält, das ist das eigentlich Zeitlose, durchaus noch immer Packende an Gides Erzählung. Sie spiegelt hier den Kontrast von Aufblühen und Absterben, von Engagement und Enttäuschung, von Selbstverpflichtung und schlechtem Gewissen. Wann immer ein Paar sich bezüglich der Vitalität diametral auseinanderentwickelt, es wird sein eigenes Drama hier mitdargestellt finden. Wenn die eine Hälfte stirbt, gerät auch die andere in eine Krise. Die Schwere der Krise zeigt, dass Michel und Marceline tatsächlich ein Paar waren.

Nach dem Tod seiner Frau lässt er verzweifelt seine engsten Freunde nach Algerien kommen. Sie sollen ihm einen Weg weisen, auf dem es für ihn noch Zukunft geben kann – das ist die Rahmenhandlung. Zuvor legt er vor ihnen eine Art Beichte ab. Gides Konstruktion des Textes entspricht der Ambivalenz des Geschehens. Die Handlung verarbeitet dabei halbautobiographisch eigene Reisen nach Algerien und die problematische Ehe mit seiner Kusine Madeleine Rondeaux.

Lassen wir abschließend Gide selbst mit einem Zitat aus „Stirb und werde“ von 1920 zu Wort kommen (Übersetzung: Ferdinand Hardekopf): „Es ist dieses Tal, und es ist unser Anwesen La Roque, das ich in meiner Erzählung „Der Immoralist“ geschildert habe. Die Landschaft hat mir nicht nur den Rahmen geliefert, sondern in dem ganzen Buch habe ich inbrünstig ihre Seele zu erfassen gesucht.“ Diese Seele war zugleich puritanisch und bukolisch. Hier in der Normandie begannen Gides Weg nach Algerien wie auch schon sein Rückweg nach Frankreich und ins Herz der Literatur.

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