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Der Weg ist das Ziel (People who have Problems)
Autor: Dieter Hellfeuer · Rubrik:
Anekdoten

»Many has changed, you know.« Der alte Panagiotis lehnt sich mit verschränkten Armen in seinem Stuhl zurück und blickt seufzend auf die papierene Tischdecke, die Anna gerade zwischen uns ausgebreitet hat und die sie nun mit einigen Klammern an den Tischkanten befestigt. Die Oberfläche ist mit einer von lustigen Delphinen umschwärmten, bunten Karte von Ikaria bedruckt, die für Touristen interessanten Orte sind als rote Punkte eingezeichnet. Sogar der Flecken, in dem ich gleich mein erstes griechisches Frühstück nach acht Jahren einnehmen werde, wurde berücksichtigt. Ja, es hat sich wirklich vieles verändert, denke ich.
1986, als ich diese in der Ostägäis gelegene Insel zum ersten Mal betrat, war das einem Zufall zu verdanken gewesen. Mein Freund Peter und ich hatten bereits drei Wochen Inselhopping hinter uns, nun wollten wir von Samos kommend nach Naxos und von dort weiter nach Amorgos. Doch dann hielt ein Sturm unsere Fähre über Nacht im Hafen von Ikaria fest. Als auch am Morgen das Wetter nicht besser wurde, beschlossen wir, es eben hier zu versuchen. Viel mehr als den Namen der Insel, und dass Mikis Theodorakis einige Jahre auf Ikaria in der Verbannung gelebt und ein ziemlich düsteres Lied über diese Zeit geschrieben hatte, wussten wir nicht. Im Kafenion am Hafenkai von Agios Kirikos hatten wir dann einen Engländer kennengelernt, der uns von einem im Nordwesten gelegenen Ort namens Nas berichtete und davon, dass er dort ganze zwei Monate lang am Strand gepennt hatte: »No problem.« Das gefiel uns.
Am späten Abend dieses ersten Tages erreichten wir eine aus breiten Sandstränden bestehende Bucht, an die sich ein archaisch zusammengewürfelter Häuserhaufen schmiegte. Die Fahrt von Agios Kirikos nach Armenistis hatte fünf Stunden gedauert und uns über zwei Bergketten geführt, die der altersschwache Bus nur im Schritttempo zu bewältigen gewusst hatte. Der Busfahrer gab uns zu verstehen, dass hier Endstation war. Als wir ihn nach Nas fragten, grinste er nur abfällig und deutete auf einen von der Straße abzweigenden, ungepflasterten Weg: »Five Kilometers«.
Nachdem wir die letzten Häuser von Armenistis hinter uns gelassen hatten, war es endgültig finster geworden. Der sich in unzähligen Kurven und einem stetigen Auf und Ab entlang der Küstenbrandung schlängelnde Weg war in einem derart schlechten Zustand, dass sowohl Peter als auch ich alle paar Meter ins Stolpern kamen, und gleichzeitig schien dieser Weg kein Ende zu nehmen. Nach etwa einer Stunde Herumgestolpere wäre ich am liebsten wieder umgekehrt, und gerade als ich diesen Vorschlag äußern wollte, tauchte aus dem Nichts ein schwacher Lichtschein auf.
Das Special Omelett, das Anna mit einer lakonischen Geste auf die Papiertischdecke bugsiert, war ursprünglich eine Eigenkreation von einem aus der Provence stammenden Kunstmaler gewesen, der im ersten Jahr eine Zeitlang neben uns am Strand geschlafen hatte. Das Rezept ist denkbar einfach: Außer drei bis vier Eiern besteht es aus fast allem, was die Gegend hier so hergibt, von Schafskäse und Speck über Tomaten, Auberginen, Zwiebeln und Oliven bis hin zu ganzen Knoblauchzehen. Hatte der Franzose anfangs noch skeptische Blicke geerntet, wurde dieses Omelett recht schnell zu einem kulinarischen Renner in Nas, sättigte es doch locker bis zum Abendbrot und kostete damals obendrein fast nichts.
Anna, die 1986 noch ein kleines Mädchen gewesen war, wartet, bis ich die ersten Bissen probiert habe. »Is it okay?«, fragt sie mit einem kecken Lächeln. Sie hat es selbst zubereitet, vielleicht auch deswegen, weil ich mich in einem der Zimmer ihres Ehemanns Dimitris einquartiert habe. »Perfect«, erwidere ich kauend.
Nas stellte sich als genau das heraus, was Peter und ich auf unser ersten Griechenlandtour gesucht hatten: Ein abgeschiedener Ort mit einer malerisch gelegenen, zangenförmigen Meeresbucht, in die ein kleiner Fluss mündete, zwei Tavernen sowie einem Krämerladen. Auch die Bevölkerung war überschaubar. Außer einigen verschrobenen Alten und den Familien, die die Tavernen und den Laden bewirtschafteten, bestand sie aus gut zwei Dutzend am Flusslauf oder am Strand campierenden Rucksackfreaks, Leute aus allen Teilen der Welt, mit denen man tagsüber Backgammon oder Karten spielte, abends den bitteren, nach Kräutern schmeckenden Ikaria Grassi trank und nachts in die Schlafsäcke gehüllt und den Sternenhimmel der Ägäis vor Augen über die Existenz von Gott philosophierte. Bereits im Jahr darauf verbrachte ich hier fast die gesamten Semesterferien, und auch in den folgenden Jahren waren vier Wochen das Minimum. Nas war in diesen Jahren zu meiner zweiten Heimat geworden, und bis über die Mitte der Neunziger hinaus schien der Ort sich dabei beharrlich jeder Veränderung zu widersetzen, selbst nachdem irgendwann eine Schweizerin eines der halbfertigen Häuser am Berghang gekauft und zu einer Sanyassin-Herberge gemacht hatte. Die zumeist in Orange gewandeten „Neuen“, die bald darauf in Nas auftauchten und abends unten am Strand im Schein von Fackeln um die Ruinen eines der Göttin Artemis geweihten Tempels hockten, waren als Gruppe zwar anstrengend, einzeln aber durchaus liebenswert. Unter den Einheimischen galten sie trotzdem nur als die »People who have problems«.
Während ich Annas spezielles Omelett verspeise, erzählt mir Panagiotis, was hier in den letzten acht Jahren so alles Wunderliches geschehen ist. Dabei sind seine Berichte eher Kommentare dessen, was ich seit meiner Ankunft am gestrigen Abend mit eigenen Augen sehen konnte. Die Anzahl der Tavernen hat sich verdoppelt, den Ortseingang flankieren zwei terassenförmige Pensionen, eine davon mit einem kitschigen Springbrunnen vor dem Eingang, und zum Strand hinunter führt statt jenes halsbrecherischen Eselpfads von damals nun eine akkurat gemauerte Treppe. Unten angekommen, wird man von drei Schildern empfangen: Nacktbaden verboten, Campen verboten, Baden bei hohem Wellengang verboten, das Ganze viersprachig, auch in Deutsch. Als ich diesen Morgen kurz nach Sonnenaufgang schwimmen war, bauten bereits eine Handvoll Holländer ihre Liegestühle auf, und zwar an der schattigsten Stelle, genau dort, wo ich 1987 fast zehn Wochen lang meinen Schlafsack liegen hatte.
Während ich den letzten Bissen des Omeletts mit einem Schluck Frappé herunterspüle, setzen sich an einen der Nebentische zwei junge Griechen und klappen einen Kasten auf, allerdings kein Backgammomnspiel, sondern einen Labtop. »Yeah«, brummt Panagiotis und schiebt seine weiße Schirmmütze tiefer in die Stirn. „Now in Nas we make big money.“
1998, bei meinem letzten Urlaub auf Ikaria, war es ein in EU-Blau gehaltenes Schild gewesen, das mir am Ortsausgang von Armenistis auffiel. Unter dem Sternenring stand da zu lesen, dass der Weg von Armenistis nach Nas mittels EU-Fördergeldern asphaltiert würde. Als ich abends Annas Vater Kostas darauf ansprach, strahlte er. Für den Ort wäre der Bau dieser Straße ein Segen, könnten nun endlich auch die vielen Touristen aus Armenistis einen Abstecher nach Nas machen, auch für Taxis oder Busse sei das dann kein Problem mehr. Klaus aus Stuttgart, einer der People who have problems, der unserem Gespräch zugehört hatte, meinte daraufhin mit prophetischer Miene, dann wäre die »Magic« hier wohl bald vorbei. Kostas hatte ihn nur verständnislos angesehen, und ich konnte seine Reaktion sogar verstehen. Besonders viel hatten er und seine Familie an mir und den anderen »Nassies« nämlich wirklich nicht verdient, noch nicht mal halbwegs Griechisch hatten wir in all den Jahren gelernt. Noch vor meiner Abreise waren dann die ersten Bagger aufgetaucht.
Panagiotis fragt, ob er mich nach Armenistis mitnehmen soll. Er will noch ein paar Sachen für sein Haus oben in Christos besorgen, jenes Haus, an dem er herumwerkelt, seit er Pensionär ist und wir uns das erste Mal begegnet sind. Wie viele Ikarianer ist er früher zur See gefahren.
Ich überlege, ob ich sein Angebot annehmen soll, lehne dann aber ab. Dabei habe ich heute tatsächlich noch vor, Armenistis aufzusuchen, aber das will ich zu Fuß erledigen, wie die unzähligen Male zuvor, die ich diesen Weg gegangen war, in der Mittagshitze und tief in der Nacht, durstig und betrunken, verliebt und verlassen. Denn dieser Weg gehört in meinen Erinnerungen ebenso zu dieser Insel wie die Menschen, die Landschaft und das Meer, weil er all die Jahre ein zwar anstrengender aber auch ehrlicher Zuhörer meiner Gedanken gewesen war. Doch die EU-Gelder haben ihn gezähmt, haben aus ihm eine Schnellstraße gemacht, vor allem aber haben sie ihn seiner Wächterfunktion beraubt gegenüber diesem einstmals verwunschenen Flecken am Rande Europas.
»How long will you stay here«, fragt mich Panagiotis zum Abschied. Ich zucke mit den Achseln und werfe einen Blick zum Strand hinunter, der inzwischen von bunten Sonnenschirmen gesprenkelt ist. Eine gute Frage, denke ich, das wird ein echtes Problem. Panagiotis und ich verabreden uns dann noch für später zum Backgammon.
Nach einer Weile kommt Anna an meinen Tisch und räumt das Frühstücksgeschirr weg. Zuletzt knüllt sie die Papiertischdecke mit der Karte von Ikaria zusammen und lässt sie in einer blauen Plastiktonne verschwinden.
»No wash«, lacht sie.


Einstell-Datum: 2007-10-03

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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