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Der ewige Kreislauf
Autor: Katrin Bock · Rubrik:
Kurzgeschichten

Der ewige Kreislauf –
Die Geschichte eines Regentropfens und was er auf seinem Weg zur Erde erlebte


Ein neuer Tag brach an. Die Sonne stieg langsam über den Wolken auf und ließ sie in ihrem rotgoldenen Licht erstrahlen. Heute war aber nicht irgendein Tag – nein, es war DER Tag für den kleinen Regentropfen – SEIN Tag, auf den er schon sein ganzes Leben lang gewartet hatte.
Bald würde er seinen Weg antreten – seinen Weg zur Erde, wo die Menschen lebten. Wo all die Wunder waren von denen die anderen Regentropfen ihm schon erzählt hatten.
Langsam ballten sich die Wolken zusammen. Ein Donnern ließ die Himmelswelt erzittern und ein Blitz erhellte die sonst düstere Erde, die die Sonne noch nicht erreicht hatte.
Endlich war es soweit. Langsam tropfte der kleine Regentropfen aus seiner Wolke und fiel zur Erde. Seine lange Reise hatte begonnen.

Ein lauer Wind war aufgekommen. Der kleine Regentropfen ließ sich einfach tragen. Es war ein schöner Tag, die Sonne schien an einigen Stellen durch die Wolken und ließ den kleinen Regentropfen in allen Farben leuchten. Die Berührung ihrer Strahlen war warm und kitzelte den kleinen Regentropfen. Er lachte leise in sich hinein.
Dann wanderte sein Blick zur Erde.
Er sah das Land, von dem alle erzählt hatten. Das Land der Menschen. Er sah Flüsse, die sich glitzernd im durchbrechenden Sonnenlicht wanden und am Horizont verschwanden. Er sah Wälder, so dicht, dass er den Boden durch ihre Kronen hindurch nicht mehr sehen konnte.
Dann sah er die Berge. Sie waren hoch; so hoch, dass sie unüberwindlich schienen und so lang, dass sie in die Unendlichkeit zu verschwinden schienen.
Der kleine Regentropfen begriff.
Er sah auf der einen Seite der Bergkette die Welt der Menschen, in der sie lebten und arbeiteten. Die Wirklichkeit, wie sie es nannten. Eine düstere Welt, hart und kalt.
Getrennt von dieser Welt, auf der anderen Seite der Berge, sah der kleine Regentropfen die andere Welt. Die Welt der Träume; die Welt, in der die Menschen ihre Gedanken und Gefühle – und somit ihre Träume – verbannt hatten. Abgeschottet und vergessen lag sie da.
Der kleine Regentropfen staunte. Diese Welt war völlig anders. Überall war Licht und so viele Farben …. So viel Wärme ging von diesem Land aus.
Der kleine Regentropfen traf seine Wahl. Diese Welt wollte er sehen – nicht die kalte Wirklichkeit. Er wusste, in dieser Welt könnte er länger existieren. Er würde aufgefangen und fortgebracht werden….sich woanders wieder finden. Er beschloss, den anderen Weg zu wählen. Den Weg der kurzen Existenz – aber voller Wunder.

So trug ihn der Wind auf die erleuchtete Seite der Bergkette.
Er ließ sich von ihm über Wälder und Wiesen tragen - bis er an den Fluss gelangte. Langsam tropfte der kleine Regentropfen ins Wasser.
Die fließenden Wasser trugen ihn mit sich fort und zeigten ihm all die Wunder, die es dort gab.
Der kleine Regentropfen sah Wiesen….grüne Wiesen, voller bunter Blumen. Schmetterlinge flatterten über das Wasser – sie schillerten in allen Regenbogenfarben und wirkten so frei – so gelöst.
Er hörte das Singen der Vögel in den Wäldern. Sie klangen fröhlich.
Der Fluss folgte seinem Weg und der kleine Regentropfen sah ein Wesen, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte…und von dem er noch nie gehört hatte. Es war ein Drache. Er war von goldener Farbe und in seinen Schuppen brach sich das Licht der Sonne und ließ sie in allen Facetten erstrahlen.
Er wirkte friedlich. Seine Größe flößte dem kleinen Regentropfen keine Furcht ein.
Die Flussgeschwindigkeit nahm zu und der kleine Regentropfen wurde plötzlich hin- und hergewirbelt. Er lachte und erfreute sich an der Bewegung.
Der Fluss ergoss sich in einem kleinen Wasserfall und endete in einem See. Einem See, glatt wie ein polierter Spiegel. Er war rund und eingebettet in ein Meer von Blumen. Der kleine Regentropfen blickte nach oben und sah ein Schloss auf einem Felsen. Ein Schloss, dass in allen Farben erstrahlte und so schön war, dass der kleine Regentropfen kaum noch atmen konnte. Ein Schloss, geformt aus reinem Kristall.
Am Ufer des Sees sah der kleine Regentropfen einen Menschen.
Es war ein alter Mann in einem langen Gewand. Er hatte ein gütiges Gesicht und lange, weiße Haare. Ein langer Bart floss an seinem Körper herab.
Aber seine Augen…seine Augen waren nicht alt. Sie waren blau, so blau wie der Himmel und so gütig, dass das Herz des kleinen Regentropfens ganz warm wurde. Aus ihnen sprach eine Weisheit, die den kleinen Regentropfen erschauern ließ. Diese Augen schienen die Welt gesehen zu haben – lange bevor der Mensch auch nur ein Flüstern auf der Erde war. Dieser Mann, so wusste der kleine Regentropfen, war nicht böse. Er war ein Wesen, entstanden aus den Träumen eines Menschen…aus den Vorstellungen einer reinen Seele.
Und der kleine Regentropfen begriff. Die Träume waren nicht verloren. Sie existierten in den Herzen der Menschen und so lange es nur einen Menschen gab, der sich an sie erinnerte - der sie lebte und an sie glaubte – so würden sie immer da sein. Es gab keinen Grund zu trauern.
Der kleine Regentropfen war glücklich…er versank in den Augen des weißhaarigen Mannes. Er war glücklich, als die Sonne höher stieg und den See erwärmte und er war voller Frieden, als die Wärme ihn durchdrang und ihn langsam auflöste…ihn verwandelte und in den Himmel hob. Seine Reise näherte sich dem Ursprung….dem Ort an dem alles begann. Zurück an den Ort, an dem der ewige Kreislauf wieder wieder seinen Anfang nehmen würde.
Der kleine Regentropfen lächelte ein letztes Mal. Er bereute nichts. Er warf einen letzten Blick in die lächelnden Augen des Mannes. Er hatte die Träume gesehen.
Der kleine Regentropfen schloss glücklich die Augen.
Er lächelte und verging.

© Katrin Bock / 08/2004
Ursprünglich 1997/98….aber Original leider verlegt. Damals war ich 13 Jahre alt ;-)


Einstell-Datum: 2004-08-11

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

Bewertung: 1 (1 Stimme)

 

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