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Ulrich Bräker - Der arme Mann im Tockenburg
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Bräker, Ulrich:
Der arme Mann im
Tockenburg

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(Bücher frei Haus)

Ulrich Bräker (1735 – 1798) war keine der großen Gestalten der Literatur seiner Zeit. Dennoch sind er und sein Hauptwerk, eine Autobiographie, bis heute unvergessen. Das hat im Wesentlichen drei Gründe: reiches sozial- wie kulturgeschichtliches Material, die teilweise fesselnde Lebensgeschichte und eine vielschichtige Darstellung und Selbstinterpretation.

Bräker entstammte ärmlichen Verhältnissen im Ostschweizer Gebirgstal Toggenburg. (Die Schreibweise Tockenburg wird bei der Angabe des Titels bis heute meist beibehalten.) Er war das älteste von elf Kindern eines Salpetersieders, der glücklos zeitweise eine kleine Landwirtschaft betrieb. Die Familie beschäftigte sich auch mit dem Spinnen von Baumwollgarn, wechselte wiederholt den Wohnort, und vorübergehend wurde ans Auswandern nach Amerika gedacht. Der junge Bräker hütete erst Ziegen und beschreibt diese Jahre im „Armen Mann“ als bukolische Idylle. Dann war er einige Zeit Knecht, bis er beim Vater dessen Handwerk erlernte. In diese frühen Jahre fallen erste intensive Beziehungen zu Menschen jenseits der Familie. Da gibt es einen Jugendfreund, auf den sich die vielleicht dunkelste Stelle des Buches bezieht. Die beiden unterhalten auch einen lebhaften Briefwechsel. Dazu der alte Bräker: „Er war mir darin noch viel lieber als in seinem persönlichen Umgang … bis einst ein unverschämter Nachbar allerlei wüste Sachen über ihn aussprengte; denn obschon ich’s nicht glaubte, verringerte sich nun … meine Zuneigung gegen ihn von dem Augenblick an. Ein paar Jahre nachher (es war vielleicht ein Glück für uns beide) fiel er in eine Krankheit und starb …“ Worin dieses „Glück“ bestanden haben mag, man erfährt es nicht.

Der erste erotische Begegnung mit dem anderen Geschlecht – das ist eine alte Vettel, mit der sich die Bräkers zeitweise die Wohnung teilen müssen. Ulrich Bräker stellt sie so dar: oft nackt und betrunken und ihm schamlos nachstellend. Ganz anders wenig später sein Ännchen, die unerfüllt gebliebene Jugendliebe. Gewiss dürfte die hübsche Wirtstochter ein frisches, angenehmes Wesen gehabt haben, doch scheint der Autor Bräker die Innigkeit der Gefühle später entsprechend literarischer Muster ein wenig zu vertiefen. Tatsächlich hat sich Ännchen rasch neu orientiert - und er ihren Verlust leicht verschmerzt.

Das Werk umfasst 81 meist nur kurze Kapitel. Dabei bilden die Kapitel 33 – 58 den Schwerpunkt des Buches. Ihretwegen vor allem ist es bis heute lohnende Lektüre geblieben. Die Abenteuer vom Herbst 1755 bis zum 26. Oktober 1756 stellen mit Bräkers großer, unfreiwilliger Wanderung durch das damalige Mitteleuropa den Hauptstoff seines Buches wie Lebens dar. Von einem Landsmann unter Vortäuschung schöner Perspektiven an einen preußischen Werbeoffizier vermittelt, diente er diesem anfangs in Schaffhausen und Rottweil als Diener. Er hat wenig zu tun, lebt angenehm. Nach Berlin beordert – wohin er wie stets zu Fuß reist -, wird er nun gegen seinen Willen als Rekrut betrachtet und für den drohenden Siebenjährigen Krieg gedrillt. Berlin unter Friedrich dem Großen, das sind in seiner Rückschau vor allem die dürftige materielle Lage der Soldaten, die Leiden der Kranken und Siechen in der Charité, der Spießrutenlauf anderer, Eindrücke aus einem Tollhaus und von der großen Heerschau – bevor es ins Feld geht. Er schildert die Märsche durch Brandenburg und Kursachsen, die Plünderungen, das große Heerlager bei Pirna. Wie viele andere wartet er auf die Gelegenheit zum Desertieren. Sie kommt im Verlauf der Schlacht beim böhmischen Lobositz. Gerade dieser Abschnitt (Kap. 55, 56) ist aufgrund von nüchterner Detailgenauigkeit wie dichter Atmosphäre hervorragend für den Schulunterricht geeignet. Da hat einer den Krieg beschrieben, wie er damals wirklich war – Krieg von unten gesehen.

Die Jahrzehnte zwischen Heimkehr und Niederschrift werden nur summarisch wiedergegeben. Über ihnen liegt etwas wie „Verlorene Illusionen“. Es geht nüchtern, prosaisch zu, und Bräker leidet darunter. Erst ist er wieder Salpetersieder, dann wird er Zwischenhändler im Textilgewerbe, später auch selbst kleiner Garnproduzent. Er heiratet eine Frau, mit der er nicht harmonieren kann. Sie ist nach seiner Darstellung zänkisch, herrschsüchtig und jedem geistigen Höhenflug des Gatten feind. Er erträgt sie nur, indem er sie als das notwendige Korrektiv zur eigenen, etwas phantastischen Persönlichkeit versteht. Aus der Ehe gehen sieben Kinder hervor, von denen drei früh sterben, darunter die sehr geliebten beiden Erstgeborenen. Lange bedrücken Schulden, Bräker steht zeitweise vor dem Bankrott, er hat Suizidgedanken. Er flüchtet sich nacheinander in Sektiererei, in Lektüre und schließlich ins Schreiben. Dann wird er in eine literarische Gesellschaft aufgenommen, wird als Autor entdeckt, als Naturbegabung aus dem Volk gefördert. Seine Autobiographie erscheint erst in einer Zeitschrift, später als Buch. Mit den Tagebüchern und sonstigen Schriften findet er weniger Anklang. Vorübergehend ist die literarische Desillusionierung so groß, dass er die Lust am Schreiben verliert und sich mit mehr Erfolg als früher seinem Beruf widmet. Nach Selbstkritik (Kapitel 79: „Geständnisse“) erreicht er doch noch einen relativ hohen Grad von Zufriedenheit. Er hat sich beruhigt, wird weiter viel lesen und noch manches schreiben.

Bräker ist noch stark vom Pietismus geprägt. Der persönliche Gott, der Teufel, die Bibel, das sind die Richtmarken, die er auch unter dem geistigen Einfluss der Aufklärung nie aus den Augen verliert. Oft klingt es beschwörend, wenn sich sein Glaube ausspricht, sich selbst mühsam versichernd, dass man auf festem Boden stehe. Es sind unruhige Zeiten, in denen sich weite Teile Europas grundlegend zu verändern beginnen. Die ländlich übervölkerte Ostschweiz wird mit dem Aufblühen der Textilindustrie früher als die meisten anderen Regionen von diesem Prozess ergriffen. Man lebt noch auf und von der Scholle und produziert zugleich in Heimarbeit schon Fertigwaren für halb Europa. Und man ist frühen Wirtschaftskrisen ausgeliefert, die zu Hungerkrisen werden. Immerhin wird die Kartoffel neuerdings angebaut, Baumwolle aus Übersee kommt in die Gebirgstäler und gibt in guten Zeiten Brot. Das Toggenburg ist konfessionell gespalten, hat blutige Wirren hinter sich. Die Herrschaft der St. Galler Fürstäbte hat es nicht geschafft, das Tal ganz zu rekatholisieren. Die evangelischen Bewohner blicken nach Zürich.

Es ist etwas Unentschiedenes, Halbes, fast Zerrissenes an Bräkers Zeit und Welt und seiner Einstellung zu ihnen. Gerade dadurch kann er uns nach gut zwei Jahrhunderten noch berühren. Er schildert sich selbst als „Rätsel“: „So viele richtige Empfindungen, ein so wohlwollendes, zur Gerechtigkeit und Güte geneigtes Herz … Aber dann daneben: Noch so viele Herzensstücke, solch einen Wust von spanischen Schlössern, türkischen Paradiesen, kurz Hirngespinsten … wie sie vielleicht sonst noch in keines Menschen Gehirn aufgestiegen sind.“ Noch nicht modern genug? Dann vielleicht dieses Bekenntnis, das schon so sehr aufs 20. Jahrhundert und das Phänomen Entfremdung vorausweist: „Es wäre wohl gleichviel gewesen, in welchem Berufe ich mich lässig, unvorsichtig und ungeschickt beschäftigt hätte.“

Was noch erwähnt werden soll: Bräker war weitgehend Autodidakt. Und: Die Bandbreite seiner Sprache reicht vom Naturnahen über das religiös Gefärbte bis zum Bildungsbeflissenen. Wie viele originelle Ausdrücke! Da wird nicht hineingeheiratet, nein: „hineingemannet und –geweibet“. Die Lieblingsfundstücke des Rezensenten sind „widerbefzgen“ und „sondertrutisch“.

[*] Diese Rezension schrieb: Arno Abendschön (2013-03-04)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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