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Marco Ferreri - Das große Fressen

„Der Geschmack des Puddings erweist sich beim Essen“, soll Bertolt Brecht einmal gesagt haben. Ob er dabei allerdings an „das große Fressen“ gedacht haben mag, bleibt dahingestellt. Die Geschichte von „la grande bouffe“ (Originaltitel auf Französisch), dem tatsächlichen „Großen Fressen“ ist eigentlich schnell erzählt: vier Freunde treffen sich in einem Landhaus, um sich totzufressen. Und das passiert dann auch. Aber wie es passiert, ist von einer Raffinesse, die seinesgleichen sucht, und hatte damals, bei Erscheinen des Films, 1973, einen veritablen Skandal ausgelöst.

Noch dazu sind die vier Freunde nicht irgendwer: „Marcello“ wird von Marcello Mastroianni gespielt, „Michel“ von Michel Piccoli, „Ugo“ von Ugo Tognazzi und „Philippe“ von Phillippe Noiret. Man könnte fast sogar meinen, die vier Herren spielen sich selbst, zumindest wenn man an den Frauenheld Marcello denkt, dem in dem selbstgewählten, idyllischen Exil, eine französische Villa am Stadtrand mit großem Garten, als erstes natürlich die Frauen abgehen. Die vier älteren Herren Marcello, Michel, Ugo und Phillippe haben ihre besten Jahre bereits hinter sich und vielleicht beschließen sie deswegen, gemeinsam zu sterben, um einem „Altern in Würde“ rechtzeitig noch – und rüstig genug - entgegenzutreten. Vielleicht spielt aber auch einfach die Langeweile eine Rolle, alles zu haben und sich auch alles leisten zu können und dennoch nicht glücklich werden zu können. Der materielle Überfluss und die mangelnden geistigen Herausforderungen, mögen ebenfalls zu ihrem Entschluss beigetragen haben. „L`ennui“ als existentialistische und konsumkritische Metapher des sich formierenden postfordistischen Akkumulationsmodells sozusagen, das einzige Antidot das noch bleibt, der Freitod.

Drei von Marcello herbeigerufene Callgirls und die üppige Lehrerin „Andrea“ (Andréa Ferréol), die sich extra für diesen Film 20 kg an Leibesgewicht anessen musste, sollen ihnen dabei Gesellschaft leisten. Aber den Callgirls wird das alles bald zu viel, auch deswegen, weil sie anarektisch sind oder einfach nur nicht sterben wollen, und so bleibt ihnen nur die wackere Andrea, die zwar in Philippe verliebt ist, aber dennoch von allen vier Männern gleich oft geteilt wird und ganz im Sinne der Kulturrevolution der Sechziger Jahre wählt das die Frau, Andrea, auch selbst so.

Eine besonders berühmte Szene ist, als Philippe dem Ausräumen des Fleischlieferwagens beiwohnt, sich einen Kuhkopf schnappt und zu einem Shakespeare-Monolog ansetzt. Es werden Lämmer, Rehe, Schweine und vieles andere Getier mehr aus dem Kühlwagen ausgeräumt und Hektor, der verdatterte Hausdiener, schüttelt nur den Kopf, über das, was sich „la jeunesse“ da alles bringen lässt. „Indianer sind nie müde und Häuptlinge schon gar nicht“, ermuntern sich die vier Herren nach dem ersten Gelage, während schon der nächste Gang mit der „chinoise“ (ein spitzzulaufendes Sieb zum Passieren von Gemüse) vorbereitet wird. Den restlichen Menüverlauf müssen Sie sich aus dem Internet herunterladen, mir fehlt die Erinnerung und die Muße dafür.

Marcello trägt übrigens bis zu seinem Tod eine gestrickte, weiße Wolljacke, was deswegen interessant ist, weil Michel, der seine Rolle später übernimmt, weil er Marcello vermisst, in diese hineinschlüpft. Der Symbolismus scheint augenfällig: Marcello der Wolf im Schafspelz, der in einem Bugatti, der vor der Haustüre steht, erfriert. Michel Piccoli hingegen trägt ein Art Gustav-Klimt-Überhang, was einen Schüler, der an der Hausglocke läutet, verwirrt, weil er ihn für einen Araber hält. (1973 gab es davon in Frankreich wohl noch nicht so viele.) Ugo wiederum macht mit aufgeklebten Schnäuzchen auf „Pate“ oder zumindest auf Marlon Brando in derselben Rolle, die Ähnlichkeit ist tatsächlich verblüffend.

Als einer der vier an Verstopfung leidet und ihm für (oder gegen) seine Blähungen Kartoffelpüree verabreicht wird, kann man schon erahnen, wer das nächste Opfer sein wird. Auch wenn dann noch ein paar Mehlspeisen oder ein Omelett mit Grand Marnier nachgeworfen werden, nämlich in den Rachen: das Sodbrennen hätte sich ohnehin kaum vermeiden lassen. Als endlich die erlösenden „Gase“ kommen, muss auch schon der nächste dranglauben: er hat sich zu Tode gefurzt. Wenn die beiden dann vom Eisschrank aus auf die (noch) Lebenden blicken, die ihr Gelage munter weiter fortsetzen, wird die Ironie wirklich auf ihre Spitze getrieben, oder soll ich besser sagen, in den Kühlschrank? „Eierschalen gelten bei den Juden als Symbol des Todes“, sagt Ugo und schaufelt munter seine Cognactorte in sich hinein, bis auch er in den Gefrierschrank kommt. Die zweite Lieferung des Fleisches mit dem Lieferwagen wird wohl auch aus diesem Grund im Garten über die Bäume und Sträucher verteilt: es ist ganz einfach kein Platz mehr, überall nur mehr Leichen, menschliche und tierische. Einzig Andrea überlebt am Ende, sie ist auch die einzige die nicht sterben wollte, aber die lieben Herren zumindest noch die letzten Stunden ihres Todes in vollen Zügen genießen ließ und auf Ewig versüßte.

Marco Ferreris preisgekrönter Skandalfilm besticht nicht nur durch sein hochkarätiges Darstellerensemble, sondern vor allem auch durch perfekten Bildaufbau und geniale Kameraführung (Mario Vulpiani). Am Drehbuch arbeiteten auch Rafael Azcona und Francis Blanche mit. Die DVD-Extras beinhalten ein Interview mit Andréa Ferréol und ein Trailer-Interview mit Rafael Azcona. Weitere Filme des Regisseurs, Marco Ferreri, sind bei Arthaus auch in einer Edition erhältlich, die folgende Filme von ihm enthält: „Dillinger ist tot“, „Affentraum“, „Bukowski“ (mit Ornella Muti!), „Berühre nicht weiße Frau“, „Mein Asyl“, „I love you“. Bei vorliegendem Film ist das DVD Bild: 1,66:1 (anamorph) und die DVD Sprachen in Deutsch und Französisch (Mono Dolby Digital), sowie der DVD Untertitel auf Deutsch. Ein köstliches Vergnügen, das auch ihre Phantasie beflügeln wird und ihnen Appetit machen wird für ein nettes Abendessen mit Freunden!

Marco Ferreri
Das große Fressen
(1973)
www.arthaus.de
2007
€ 9,95

[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2010-09-28)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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