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Rezensionen  
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Julien Green - Leviathan
Die destruktive Kraft des kleinbürgerlichen Milieus
Der in Frankreich im Jahr 1900 geborene Sohn eines amerikanischen Geschäftsmannes Julien Green lebte dort bis nach dem I. Weltkrieg, ging dann in die USA, wo er bis 1945 blieb, um in sein Geburtsland zurückzukehren, wo er bis zu seinem Tod 1998 zahlreiche Romane schrieb. Sein bis heute von der Kritik als bedeutendstes Werk gefeiertes ist der Roman Leviathan, der im Jahr 1929 erschien und zuletzt von der Bibliothek der Süddeutschen Zeitung 2004 wieder aufgelegt wurde.
Die Handlung des Romans lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen: Der aus Paris stammende und in der französischen Provinz lebende Privatlehrer Guéret erfährt eine große Enttäuschung in seiner Liebe zu der jungen Wäscherin Angèle, als er erfährt, dass diese schon über beträchtliche Erfahrung im Gewerbe der Prostitution verfügt. Von unerträglicher Demütigung getrieben, misshandelt Guéret das Mädchen, flieht und tötet auf seiner Flucht einen alten Mann, von dem er glaubt, er stelle sich ihm in den Weg. Guéret taucht unter, kommt aber an den Ort seiner Tat zurück, wo er letztlich das Opfer zweier Frauen wird. Die eine verzeiht ihm nicht die Liebe zu dem jungen Mädchen, die andere, die Zuhälterin des Mädchens, nicht die Zerstörung ihrer Einnahmequelle durch die Misshandlung. Kongenial liefern diese beiden Frauen Guéret ans Messer und das Mädchen stirbt auf dem Weg zu selbigem, der ihr nach einem nochmaligen Treffen versprochen hatte, mit ihr zu fliehen und das Land zu verlassen.
Ist die Handlung an sich keine Geschichte, die als Garantie für literarischen Ruhm ausreichen würde, so erwirbt sich die Schilderung des kleinbürgerlichen Milieus und der in ihm wuchernden Charaktere in der französischen Provinz eine Qualität, die am besten durch die Bedrückung zu messen ist, die bei der Lektüre entsteht. Da tauchen Menschen auf, die durch ihre Oberflächlichkeit wie eine Beleidigung für die menschliche Existenz erscheinen. Allesamt, vom reichen Couponschneider, über die gichtige Puffmutter, die strenge erkaltete Bürgersfrau, die neugierige Tratsche bis hin zum Heer der Freier, die als Apotheker oder Handwerksmeister im Ort eine hohe Reputation genießen, unterliegen dem trügerischen Bild der kleinbürgerlichen Werteordnung, in der das Maß einer freien, aufgeklärten Welt durch die Engstirnigkeit des intellektuellen Pöbels durchbrochen wird. Verlangen ist für sie Liebe, Herrschaft verwechseln sie mit Macht, Dummheit gilt ihnen als rein, Demut als Schwäche und Armut als Makel. Der Ausgang jeglicher Handlung muss in einer Welt mit diesen Prämissen im Debakel enden und der Tod erscheint wie eine göttliche Erlösung.
Die Unbestechlichkeit, mit der Julien Green die destruktive Kraft des kleinbürgerlichen Milieus darstellt und die Sprache, die das Frugale dieser Welt zum reden bringt, ist das Ergebnis akribischer Beobachtung und disziplinierter Logik. Da wurde nichts aufs Papier geworfen, um Effekte zu erzielen, sondern die soziale Nachricht mit höchster Akkuratesse in große Literatur geformt. Die Kenner des Genres werden es genießen und die Apologeten einer neuen kleinbürgerlichen Wertigkeit sollten es lesen, bevor es zu spät ist!
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2009-08-11)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.
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