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Inge Hannemann - Die Hartz IV Diktatur
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Hannemann, Inge - Die Hartz IV Diktatur bestellen
Hannemann, Inge:
Die Hartz IV Diktatur

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(Bücher frei Haus)

Inge Hannemann ist eine ehrenwerte, unerschrockene, energische Frau und hinfort hat sie auf dem Kerbholz, diesen Buchtitel an sich gerissen zu haben, der überfällig war, ihrem Werk aber nicht zusteht, damit eine Medienresonanz erfahren zu haben, die nachvollziehbar ist, die eigentliche Problematik aber ein weiteres Mal eher verdrängt.
Eine verschenkte Affäre, ein verschenktes Aufrüttel-Taschenbuch.

Hannemann, für deren Zähigkeit stehen soll, dass sie seit ihrer Kinderzeit unter Rheuma leidet, Behinderte ist, dennoch keinen Tag ohne Laufsport zubringt, ist in Norddeutschland geboren worden, in den achtziger Jahren im liberalen, bildungsbürgerlichen Klima des südbadischen Markgräflerlands aufgewachsen, in Freiburg in Bürojobs tätig gewesen, bevor sie sich zur freien Trainerin und als Coach qualifizierte. Als solche zog sie in ihre Traumstadt Hamburg um, wo sie, nach einigen Jahren als „Dozentin im Auftrag“ des Arbeitsamts, sich initiativ beim Jobcenter bewarb und eine Aufgabe in der besonderen Vermittlung von unter-25-jährigen Langzeitarbeitslosen und Schwervermittelbaren übertragen bekam.

Schnell wurde sie hellhörig und kritisch, als sie die beiderseitige Verbitterung bei den Fallmanagern wie den „Kunden“ mitkriegte. Sie sah sich im Internet nach Betroffenenforen um, begründete ihren eigenen Blog. Im Jahr 2013 wurde sie suspendiert, da es ihr an Loyalität zum Arbeitgeber mangele und sie das Risiko für Jobcenter-Angestellte, von den „Kunden“ tätlich angegriffen zu werden, vergrößert habe. Für die Medien - Hamburger Tageszeitungen, Rundfunk - war sie schon vor Erscheinen des rororo-Taschenbuchs „die Hartz-IV-Rebellin“ und durfte zur Bürgerschaftswahl als solche der Liste der Linken mit einer (aussichtslosen, von vornherein als Zeichen intendierten) Kandidatur Glanz verleihen.

Ganz zutreffend erkannt hat Inge Hannemann - und sagt es im Buch an mehreren Stellen, allerdings eher im Vorbeistreifen -, dass die Hartz-Sätze von Anfang an mit Bedacht zu niedrig bemessen waren, den Betroffenen eine angemessene Teilhabe am bürgerlichen Leben dieser Gesellschaft nicht wirklich erlaubten. Hinter „Fordern und Fördern“ steckte das neoliberale „Nicht leben und nicht sterben“ als „Marktanreiz“. Wer lange und hart genug getriezt wird, wird irgendwann jegliche Arbeitsbedingung als Segen für seine Existenz akzeptieren. Das senkt die Kosten insgesamt auf Unternehmerseite, ist kapitalistisch gut und richtig. (Gesamtgesellschaftlich durchaus nicht, denn es gibt auch andere „Kosten“ innerhalb einer Gesellschaft als die der freien Unternehmer und Finanzminister.)

Versprochen wurde - von einem, in die Medienbredouille geratenen Kanzler der große Befreiungsschlag, der sowohl mehr Menschen in Arbeit bringen wie die Sozialbudgets verschlanken (Defizite verringern) werde. Beide Pläne sind über Jahre gescheitert. Jeder weiß das an sich. Es gehört aber zu den heiligen Kühen, doch immer wieder zu betonen, in Deutschland lägen die Dinge heute so ähnlich wie in Griechenland, Spanien, mindestens Frankreich, wären nicht Gerhard Schröder und dieser VW-Hartz davor gewesen.

In Wahrheit wurde eine Klasse von Sündenböcken erschaffen. Jeder, der immer noch nicht arbeitete, wollte eben auch nicht, der wollte lieber die fleißigeren Mitbürger ausbeuten, war ein Übeltäter. (Nicht das Kapital beutet in Deutschland den Werktätigen aus, die Leute, die keine Arbeit bekommen, machen das.) Jeder, dem das Hartz-Schicksal erspart geblieben ist, der nun weiß, nach zwölf Monaten könnte er sich dennoch jederzeit unter Assis wiederfinden, wurde dafür diszipliniert, sich dem Austeritätskurs seiner Großen Koalition, der Unternehmer und der Gewerkschaften, anzuschließen. In Jahren, in denen die Wertschöpfung der Volkswirtschaft immer wuchs, wurden (in der Relation) jedes Mal die Armen ärmer, die Superreichen superreicher. Beim Mittelbau stagniert es maßvoll vor sich hin, sodass es noch genug Wähler gibt, denen es ja nicht schlecht geht. (Eine wichtige Lektion mit Hartz: Wer ausgesteuert ist, wählt nicht. Mit der AfD scheint das inzwischen nicht mehr ganz so zu stimmen.)

Niedriglohnsektor und „moderate Tarifabschlüsse“ ermöglichten den deutschen Unternehmen, bei steigender Produktivität ihres eingesetzten Kapitals, die Konkurrenz durch vergleichsweise gut bezahlte italienische, französische, spanische Arbeiter mit einem vorzüglichen Preis-Leistungs-Verhältnis am Markt zu schlagen. Der deutsche Boom, wie er auch jetzt herrscht, fußt nicht auf wirtschaftlichem Austausch im eigenen, deutschen Markt, sondern auf dem Export, vor allem nach Europa, in die EU- und Euro-Länder. Die gemeinsame Währung nimmt unproduktiver wirtschaftenden Ländern ihre Rettungsmöglichkeit, die Währung ab- bzw. die deutsche aufzuwerten, deutsche Importe wieder teurer zu machen.

Eine andere Große Koalition, neben der der politischen Parteien, hat sich in der Harmonie zwischen Unternehmern und Beschäftigten gebildet: Lieber billiger produzieren, indem der Produzierende auf seinen Wertzuwachsanteil verzichtet, als zulassen, dass andere EU-Länder uns den deutschen Marktanteil in ihren jeweiligen Inlandsmärkten abjagen! Eines Tages wird das den Euro zerreißen und mit ihm die EU in verschiedene Blöcke. Damit wird der Auslandmarkt für die Unternehmen des verbleibenden Deutschlandblocks zusammenbrechen und wird die Schwäche des Inlandsmarkts diesen Vorgang nicht kompensieren können, die seit langem hereinschleichende Deflation zuschlagen, ein Chaos auch bei uns anrichten. Inklusive eines Heers aus Rentnern, die man - nach Jahren der Hartz-Unterversicherung - in millionenfache Lebensende-Armut entlassen hatte.

Von solchen ökonomischen und historischen Abläufen weiß und schreibt Frau Hannemann wenig. Sie weiß jedoch, dass in diesem Land Arme als Drückeberger stigmatisiert werden und sie findet das so unzutreffend wie verheerend für die Zukunft des Gemeinwesens. Sie weiß aus eigener Anschauung, dass ein Staat (der doch immer zu viel ausgab, zu viele Schulden machte, zurückgefahren werden musste) täglich Unsummen an Steuerzahler-Subventionen in die Privatwirtschaft pumpt, nur dafür, dass sie tut, was ihr Ding sowieso sein müsste: Leute einstellen und bezahlen, damit diese Leistungen produzieren und verteilen, für die es Bedarf gibt.

Daran ist schuld - und hier sind wir bei Inge Hannemanns schwarzem Monster - die im Gefolge des Hartzsystems erzeugte Augenwischerei, was Erfolgszahlen angeht. Hartz ist ein Fehlschlag geworden. Wohl das größte deutsche Politikerversagen seit Hallstein-Doktrin oder Radikalenerlass. Aber keiner, der in der gegenwärtig herrschenden Ordnung was zu melden hat, würde persönlich jetzt gerade profitieren, wenn dies ehrlich gesagt werden könnte. Also wird schöngeredet. Schöngerechnet, mit angeblichen Ziffern-Fakten belegt.

Dass Controlling sich unterm Wundermanager Frank-Jürgen Weise zu einer Kirche in der Kirche entwickelte, war (vor Hannemanns Buch) jedem spürbar, der mal über die Schwelle eines Jobcenters getreten ist. „Es muss sich mit positiven Zahlen vorzeigen lassen, sonst hat es null Sinn“, so in etwa ließe sich dieses Controlling, für das, laut Hannemann, die Mitarbeiter fast die Hälfte ihrer Arbeitskraft aufwenden, zusammenfassen.

Sie erzählt, wie ein junger Mann, dem sie sein ehrliches Verlangen, kein Leben aus Maßnahmen und Leiharbeit zu führen, sondern doch noch was aus sich zu machen, durch Streichung des Aufstocker-Hartzes aus seiner vorläufigen Arbeitstätigkeit, an die sich eine Ausbildung hätte anschließen sollen, gezwungen wird, um stattdessen an einem der ewiggleichen, sinnlosen Motivations- und Bewerbungs-Trainings teilzunehmen. (Welche vor jedem Jahr vom Jobcenter schon mal blind bestellt werden, das heißt, ins System dann ihren eignen Bedarf einbringen, mit Teilnehmern bestückt zu werden.) Fürs Controlling: Wer in einer Maßnahme ist, geht in die Arbeitslosenstatistik nicht ein. Auch nicht, die vorübergehend bei Zeitarbeitsfirmen geparkt wurden, nicht die Kranken, nicht die, die Kinder betreuen, und so weiter. Dafür geht der Akt, diesen Hartzer in eine Trainingsmaßnahme abgeordnet zu haben, als „Vermittlungserfolg“ für den Sachbearbeiter ins Leistungs-Controlling ein. Hier ist eine dauerhafte Beschäftigung, die sowohl vom „Fall“ selbst wie von seinem (vorläufigen) Arbeitgeber beabsichtigt war, blockiert worden, der Beschäftigungs- oder Trainingsgesellschaft allerdings ein Zugewinn aus Steuermitteln zugeschanzt worden. Wir Zeitungsleser lesen es in der FAZ als Ingrediens einer Arbeitsagentur-Erfolgsmeldung, zahlengestützt.

Inge Hannemann kann den Wahnsinn, der Tag für Tag im Namen des Bürgerbesten durchgedrückt wird, nicht ertragen. Sie erlebt ihr Burn-Out und sie will ihren Gedanken Luft machen. Sie greift nach der Schleuder des kleinen Davids, zum Internet-Blog.

Dabei offenbaren sich aber auch die Schwächen der Heiligen Johanna der Minijobber. Sie hat keine umfassenden Konzepte und keine volkswirtschaftliche Theorie. Ihre Vision ist das Grundeinkommenskonzept vom dm-Unternehmer Götz Werner. Recht neoliberal wird dabei der Zuwachs an Wohlstand des Gemeinwesens nicht auf alle seine Teile, sondern jeweils unter die „was Wagenden und was Leistenden“ verteilt, während eine breite Schicht von Abgehängten auf einem auskömmlichen Level des Ruhiglebens still gehalten wird. (Hartz für alle, aber ohne Überwacher und Sanktionen.)

Inge Hannemann klebt zu gerne am Einzelfall. „Meine 25-Sub waren so wunderbare Menschen, in denen enormes Potenzial steckte, auf das nie einer geachtet hat.“ Durchaus richtig gesehen: Das Hartz-System hat die Prinzipien Misstrauen, Überwachung, Druck und Strafe zur Ethik einer Gesellschaft werden lassen. Wenn Hartz-Werte tatsächlich deutsche Werte sind, schippert dieses Land inzwischen auf den Eisberg zu! Sofort mit ihrem Eintreten hat Hannemann das für ihr eigenes Büro umgedreht. Aus Prinzip wollte sie an die Fähigkeiten, Gaben und Wünsche jedes Einzelnen glauben, sich von innen her als eine Dienstleisterin begreifen, die assistieren wird, irgendwie und irgendwo diese auch mal produktiv anzubringen.

Es klingt so schön. Aber Inge Hannemann ist die Hundertfünfzigprozentige, wenn es jemals eine gab. Sie will das humanistische Gerede, das man um eine Unterschicht-Kontroll-Bürokratie gewunden hat, jeden All-Tag wirklich erleben. Somit wird sie zur Feindin ihrer eigenen Behörde, wie Luther zu dem des Vatikans wurde. Da weigert sie sich schlankweg zu verstehen, dass ihr Pestalozzitum in manchen Fällen diametral gegen die üblichen Verfahrenswege läuft, gibt sich als eine, die es macht, wie es besser von allen gemacht gehörte. Sie postet dienstliche Erfahrungen als „Meinungsäußerung“ und verschließt sich kollegialen Warnungen, bei Atomkraftwerken, in der Pharmaforschung, dem Finanzsektor oder der Autoindustrie könne auch nicht jeder Angestellte das, was er vor sich habe, öffentlich an der Utopie einer besseren Gesellschaft messen.

Ein Beispiel: Hannemann bekommt es mit einer etwa 23-jährigen Schulabbrecherin zu tun, die seit Jahren den Traum verfolgt, Schauspielerin zu werden. Sie redet nicht nur, sondern hat ihre Sedcards zusammen, erschließt sich Kontakte, hat mal da, mal dort mitgespielt, ist aber von keiner Schauspielschule angenommen worden, seit Jahren ohne feste Stelle, also Hartz IV. Entscheidend ist hier das persönliche Gespräch, weil es Hannemann überzeugt, dass diese Frau eine zielgerichtete Energie in sich trägt und dass sie auf der Bühne etwas ausstrahlen wird. Wen von uns anderen würde es allerdings wundern, dass die Fallmanager von ihrer Arbeitsagentur-Außenstelle versuchen, dieses Mädel in die oder die Arbeitnehmerüberlassung, diese und jene Maßnahme, den und den Aufstocker-Minijob (Textilmarktkasse) zu stecken? Welcher Herr Schröder, Müntefering oder Clement würde das denn nicht so haben wollen?

Außer, sie sitzen ihr zwei Jahre später in einer Talkshow gegenüber und die junge Dame sieht vor der Kamera gut aus, erzählt uns jetzt von ihrem Theater-Engagement (über Monate) auf einem Kreuzfahrt-Hotelschiff.

Man wartet, während das Buch voranschreitet und Inge Hannemann - im angenehm lesbaren Deutsch ihrer Ghostwriterin Beate Rygiert - hin und her switcht zwischen Tageserlebnissen („dann ging das Kennwort nicht“) und fundamentaler Kritik („Die Leute werden in Mini-Jobs hinein sanktioniert, von denen keiner leben kann, damit sie als „in Arbeit vermittelt“ gezählt werden können, der Steuerzahler zahlt anschließend ihr Aufstocker-Hartz, damit ein Boss die Konkurrenz unterbieten kann, wenn die noch Tariflohn zahlt“), ob jener Vorwurf der „Hartz-Diktatur“ irgendwann noch genauer erklärt und untermauert werden wird. Man wartet vergeblich, obwohl Anhaltspunkte so einer Diktatur allenthalben erkennbar wären.

Dafür wird es das Buch eines anderen Autors (unter anderem Titel) noch brauchen.

Zitat:

Nachdem die Geschäftsführung bereits durch meine harmlosen Veröffentlichungen auf meinem ersten Blog aufgeschreckt worden war und mich zum Schweigen bringen wollte, war ich gespannt, was nun folgen würde. Mir war klar, dass man mich beobachtete und meine Seite „altonabloggt“ regelmäßig las, und als mich eines schönen Tages im Oktober 2012 eine Kollegin aus der Zentrale privat anrief, war ich nicht weiter überrascht: Sie informierte mich darüber, dass ich Thema in einer Sitzung gewesen sei. Meine Aktivitäten im Netz wurden schon seit längerem verfolgt. Sowohl auf meinen Blogs als auch in den Erwerbslosenforen. Sie meinte, dass meine „Schreibaktivitäten im Internet in der Zentrale schwer unter Kritik stehen“.
Ich dachte in aller Ruhe darüber nach, wie ich nun am besten vorgehen sollte. Schließlich sprach ich meine Teamleiterin an und fragte sie, was sie darüber wisse. Ihre Reaktion war: „Darüber darf ich nicht sprechen.“ Und damit war ja auch eigentlich genug gesagt.


[*] Diese Rezension schrieb: KlausMattes (2016-03-31)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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