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Rezensionen  
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Joris-Karl Huysmans - Gegen den Strich
"Ah! brich zusammen, Gesellschaft. Stirb, alte Welt" - das ist vielleicht die Essenz, aus der Joris-Karl Huysmans 1884 erschienener Roman "Gegen den Strich" (orig. "À Rebours") gemacht ist. Aber eigentlich ist das Werk schon wegen seiner liebevoll gepflegten Handlungsarmut gar kein Roman, zumindest kein gewöhnlicher. Und es gibt auch jemanden, der dies gewissermaßen zu verantworten hat, wenn man ihn einfach als tatsächliche Existenz hinstellt, von der einer zwangsläufig einmal berichten musste:
Es ist der Protagonist Jean Floressas Des Esseintes, ein anämischer französischer Adliger, der letzte seines verdorrten Geschlechts, dreißig Jahre zählt er, ist also nicht mehr jung aber auch noch nicht alt zu nennen. Der von Huysmans als grazil beschriebene Herr verachtet die Menschheit inbrünstig und möchte sich die "Wirklichkeit durch den Traum von der Wirklichkeit ersetzen". Die finanziellen Mittel dazu besitzt er, den feinen Geschmack, der nötig ist, um die Wirklichkeit eigenmächtig gegen eine bessere zu ersetzen, - meint Des Esseintes selbst - wohl auch. Und so zieht er in ein Haus am Rande von Paris, wo er seine dekadenten Träume ungestört in tiefer Einsamkeit ausleben kann. Aber dies ist ein langweiliges Sein, eine nicht endende Jagd nach immer neuen, noch feineren Reizen: eine wuchernde Neurose, die sich von seltenen Kostbarkeiten nährt: Exotische Pflanzen, aufwendige Einzelausgaben von Durchschnittsmenschen unbekannten Büchern, edle Steine, Kreationen eigener Parfüms... Dies ist ja nicht viel mehr als nur ein Dasein! --- wenn auch grell geschmückt.
Des Esseintes Liebhabereien werden von Huysmans mit der Detailtreue einer ausschweifenden Enzyklopädie zu dem jeweils gerade behandelten Thema geschildert, was das Buch über weite Partien nicht besonders lesenswert macht, aber irgendwo hat dieser sinnfreie Formalismus auch seinen Reiz - durch eben seine gewissenhaft umgesetzte und sehr penetrante Sinnfreiheit. Des Esseintes ist ja ein armer gescheiterter Kerl, habe man etwas Mitleid mit und ein klein bißchen Interesse an ihm. In einer Jesuitenschule wurde er als Adelsbub erzogen, der Katholizismus ist das untergründig in ihm wirkende Element, und wenn er an die bereits verflossenen Lebensjahre zurückdenkt, dann sieht er nur wenige Lichtblicke in ihnen, beispielsweise und mit Wehmut einen 16-jährigen Knaben, der ihm - einst auf der Straße angetroffen - "so verführerisch wie eine Dirne" vorkam...
Décadence, das ist Niedergang, das ist Verfall, das ist zuweilen eine ziemlich mühselige Angelegenheit. Des Esseintes gibt sich ihr ganz hin. Aber als ihm der Magen versagt, helfen auch die hübschen prosaischen Gedichte Mallarmés nicht mehr, den Organismus zu erhalten. Den grundlegenden Wirklichkeiten kann man schwerlich entrinnen; Des Esseintes in der Verzweiflung herbeigerufener Arzt weiß um diese fürchterliche Banalität und verordnet seinem absonderlichen Patienten ganz energisch die Rückkehr in die stinkichte Zivilisation: "jetzt ist alles zu Ende; wie eine Springflut steigen die Wogen der menschlichen Mittelmäßigkeit gen Himmel". Da bleibt dem Christen, der Des Esseintes doch tief in seinem Inneren ist, nur noch die Anrufung Gottes: "Herr, erbarme Dich".
Joris-Karl Huysmans selbst hat in seinen letzten Lebensjahren den Weg (zurück?) zu Gott gefunden, als er sich als Laienbruder in ein Pariser Benediktiner-Kloster aufnehmen ließ. Sicher war das nicht nur ein frommer Weg zu Gott, sondern auch der Weg in eine brüderliche Gemeinschaft von Geschlechtsgenossen, wie sie das Christentum besonders katholischer Prägung seit Jahrhunderten protegiert: Immer schön gegen den nach außen kommunizierten Strich.
[*] Diese Rezension schrieb: Arne-Wigand Baganz (2009-01-09)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.
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