"Ich brauche nicht die Hoffnung, um zu beginnen, noch den Erfolg, um fortzufahren." Der Chefpsychologe Deutschlands, Wolfgang Schmidbauer, widmet sich in seiner neuesten Publikation dem Verhältnis Kind zu Eltern in unserer modernen Gesellschaft. Immer mehr Eltern leiden unter den Vorwürfen ihrer erwachsenen Kinder. Mit Fallbeispielen erläutert der vielgelesene und beliebte Autor verschiedene Perspektiven auf ein verbreitetes Phänomen.
Lob auf die Großeltern
Das Scheitern der ersten Liebesbeziehung führt oft zu den Vorwürfen an die Eltern, dass sie etwas in ihrer Erziehung falsch gemacht hätten. Dabei spielt nicht nur die Verweigerung mit, sich selbst dafür verantwortlich zu fühlen, sondern auch ein angestrebter Opferstatus, der eine/n teilentschuldet. Die Konstruktion "schuldiger Eltern" ist dabei ebenso weit verbreitet, wie der unreife "Umgang mit dem Unberechenbaren", der negative capability, wie der Dichter John Keats es nannte. Oft führen die abgewehrten Wünsche nach einer Wiederherstellung der Symbiose mit der Mutter zu sexuellen Abhängigkeiten, wie einer der Klienten beklagt. Wenn er mit ihr auf Urlaub fahre, müsse er immer für ihr Wohl sorgen, mit einem Freund wäre es hingegen wesentlich unkomplizierter. Aber auch die Mutter hat Angst vor den Vorwürfen des Sohnes. Eine große Rolle bei der Erziehung spielte auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg die Hitler-Anhängerin Johanna Haarer mit ihrem Ratgeber "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind". Sie riet nicht nur dazu, das Kind in der Wiege schreien zu lassen, sondern verteufelte auch die Großeltern. Sie würden mit ihrer weichen Haltung das klare und strenge Regime der Mutter durchkreuzen. Dabei ist es gerade die Triade von Großeltern, Eltern und Kindern, die ein gesundes Aufwachsen ermöglichen, auch die Peergroup/Spielkameraden spielen aber eine große Rolle. Großeltern seien aber gerade das Scharnier zwischen Geschichte und Leben, schreibt Schmidbauer, man gewönne Kontakt zur eigenen Geschichte. Den Zyklus des Lebens veranschauliche am besten das Bild einer Großmutter, die ihren Enkel an der Hand führt: "Sie führt ihn hinein, er führt sie hinaus." Aus dem Leben.
(Kein) Erbarmen mit den Eltern
Unlängst ließ in einer Dokumentation auch die bekannte amerikanische Sängerin Joan Baez mit einem Missbrauchsvorwurf an ihre Eltern aufhorchen. Seit den achtziger Jahren entfremdeten sich in den USA erwachsene Kinder von ihren Eltern, weil sie nach der Lektüre populärer Anleitungen zur Selbsttherapie davon überzeugt waren, in früher Kindheit missbraucht worden zu sein. Das geht sogar soweit, auch von einem "emotionalen Inzest" zu sprechen. Jeder Verdacht darüber habe eine konkrete Ursache, behaupteten die Therapeuten. Die Dämonisierung der Eltern wurde geradezu ein Massensport, schreibt Schmidbauer. Aber jede Opferrolle führe auch unweigerlich in eine Sackgasse. [i]"Wenn den Eltern das absolute Beziehungsversagen zugeschrieben werden kann, wird das eigene Sozialverhalten, so problematisch es sein mag, in besserem Licht erscheinen", so der Autor über die Ausreden der "Opfer". Die Liebesobjekte würden überschätzt, Idealisierung sei die Substanz des Populismus, aber auch des Kults von prominenten Künstlern. Wenn dann die Betroffenen enttäuscht werden, entwerten sie ihre Eltern, um sich wiederum vor deren Forderungen zu schützen. Ideal bleiben eben unerreichbar, denn sie könnten immer noch größer, perfekter und beständiger sein. Schmidbauer betont, dass es zwischen Ursache und Wirkung keine Kausalität gebe, sonder wir selbst deuten Ereignisse als Kausalität und sind völlig überzeugt von der Gültigkeit unserer Wahrnehmung. Aber weder die Parentifizierung noch die Infantisierung der Eltern sei dabei hilfreich, das eigentliche Dilemma aufzulösen. Familie definiert der Psychologe nicht als Ort der Harmonie, sondern als "Bühne, auf der wir unsere Kämpfe um die Verteilung von Liebe und Aufmerksamkeit ausfechten".
Wucht der Differenz
Ohne beides ist kein Leben lebenswert. In unserer modernen, individualisierten Gesellschaft entwerten erwachsene Kinder ihre in der Kindheit idealisierten Eltern gern, um mehr Raum für eigene narzisstisch besetzte Vorstellungen zu erhalten. Als Machtmittel werden die eigenen Kinder gegen die eigenen Eltern eingesetzt: Enkelentzug und ähnliches sind Symptome dafür, dass die eigene Kindheit noch nicht abgeschlossen ist. Schmidbauer rät zu mehr Ambivalenztoleranz, statt die "Terrakottaarmeen der Vergangenheitsvorwürfe" losmarschieren zu lassen. Besser mit dem kleineren Übel anfreunden, statt immer gleich alles zu verteufeln. Wie uns schon die Geschichte des Ödipusmythos lehrte, sollten wir nicht vergessen, dass gerade das Streben, das Unheil zu meiden, dieses beschwor.
Wolfgang Schmidbauer
Böse Väter, kalte Mütter?
Warum sich Kinder schlechte Eltern schaffen
2024, geb. Format 12,5 × 20,5 cm, 176 S.
ISBN: 978-3-15-011467-4
Reclam Verlag
18,00 €
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2024-05-31)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.