Der Mensch als Industriepalast ist eine der eindruckvollsten Informationsgraphiken aus dem umfangreichen Werk Fritz Kahns und zeigt – „präzise wie ein Dalì und ironisch wie ein Duchamp“ – den schematischen Querschnitt eines menschlichen Kopfes und armlosen Rumpfs, Irrgärten voller Apparaturen, Homunkuli in Arbeitskleidung und natürlich Organe, Muskeln, Nerven als Maschinen in anthropomorpher Form, so die Herausgeber dieses Taschen-Prachtbandes im Vorwort. Das amüsante und unterhaltsame und dennoch sehr informative Werk über den Universalgelehrten, Arzt im Berlin der Weimarer Republik, Aufklärer und Bestsellerautor Fritz Kahn (1888–1968) ist bei Taschen in einer Luxusausgabe von 25 x 31,7 cm in Hardcover erschienen und zeigt den Menschen in all seinen inneren Manifestationen. Der 125. Geburtstag Fritz Kahns wird so gebührend gefeiert. Körperteile als Avatare
Die mehr als 350 eindrucksvollen Illustrationen und kreativen Darstellungen, die seine Bestseller abdruckten und eigentlich einem quasi volksaufklärerischen Plan, biologische und physikalische Vorgänge einem breiten Laienpublikum verständlich zu machen folgten, sind in beinahe plakatfähiger Größe abgebildet und werden durch drei Texte aus Kahns Feder, einem Vorwort von Steven Heller und einem ausführlichen Essay zu Kahns Œuvre und Bedeutung ergänzt. Die Körperteile als Avatare und das lange bevor es die neuen Medien gab zeigen etwa ein Auge als Balgenkamera, eine Lunge aus Kupferrohren und Magen und Darm als Förderbänder. Der Pionier der Informationsgrafik liebte es aber auch, geistreiche Zitate von sich zu geben, wie etwas dieses: „Der Zellenstaat ist eine Republik unter der erblichen Vorherrschaft einer Geistesaristokratie. (…) Die Wirtschaftsform ist aber ein strenger Kommunismus.“ Metaphysik und Wissenschaft
Der „Heartfield des Körpers“ vermochte es, auch dem „begriffstutzigsten Menschen ein Loch in den Schädel zu hauen“, wie es ein anderer Rezensent Kahns drastisch und wortgewaltig ausdrückte. Sein „technischer Stil“ – eben Naturvorgänge im Inneren des Menschen in Form bekannter technischer Prozesse darzustellen – wurde gerne in den Zusammenhang der neuen Sachlichkeit und formal ähnlicher Darstellungen von René Descartes und Julien Offray de La Mettrie gebracht, schreiben die Herausgeber in der Einleitung. In Opposition zu den Letztgenannten betrachtete Kahn Metaphysik und Wissenschaft aber nicht als Gegensätze, sondern als „Himmel und Erde der menschlichen Seele“. Kahn glaubte an die Selbstoptimierung des Menschen durch einen starken Willen und auch an den Fortschritt mithilfe von Wissenschaft und Technik und das obwohl er im Ersten Weltkrieg dienen musste und später von den Nationalsozialisten aus Deutschland ausgewiesen wurde. Dein Körper – das unbekannte Land
Den Leser und Betrachter diees außergewöhnlichen Werks erwartet eine abenteuerliche Reise in ein nahezu unbekanntes Land – den eigenen Körper. „Die Utopie von gestern ist die Wahrheit von heute. Die Utopie von heute ist die Wahrheit von morgen“, so Kahn in einer Illustration über die Organtransplantationen im Jahre 1931 (!). Ein faszinierendes Werk, das endlich wiederentdeckt gehört und auch gemahnt, wieviel geistiges und menschliches Kapital aus der Mitte Europas in den Dreißiger Jahren vertrieben wurde und beinahe vergessen wird. Auch deswegen ist es so wichtig, dass es solche Bücher gibt, natürlich ganz abgesehen von dem äußerst unterhaltsamen Surplus und den vielen amüsanten Stunden, die man mit diesem Werk verbringen kann. Im Appendix befindet sich zudem eine Biographie Fritz Kahns und weitere Illustrationen und Fotos aus seinem Leben, sowie Zeitungsartikel seiner Zeit.
Uta und Thilo von Debschitz
Fritz Kahn
Taschen‚Hardcover, 25 x 31,7 cm, 392 Seiten
€ 39,99
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2014-10-26)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.