|
Literaturforum:
Selbstauskunft

 Forum > Begrüßungssaal > Selbstauskunft
|
Autor
|
|
Thema: Selbstauskunft
|
Matze
Mitglied
   719 Forenbeiträge seit dem 09.04.2006

|
| Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 09.04.2006 um 09:37 Uhr |
Als Adept von Johannes Gensfleisch borge ich mir seine beweglichen Metall-Lettern. Nie habe ich etwas Eigenes geschrieben, alles ist compiliert. Ich bin ein melancholischer Schrotthändler: Aus Abfällen zimmere ich meine Ansichten. Alles ist drin, aber nichts passt zusammen. Die Sprache hinkt und klemmt an allen Ecken und Enden. Das ist ein trauriges, aber mein liebstes Spiel. Ein Spiel fast ohne Regeln. Wie bei jedem Spiel ist das einzig Wahre das Spiel selbst.
Schon früh war ein ausgeprägtes Interesse an Literatur vorhanden. Ich habe als Pennäler systematisch die Klassiker gelesen und mich gleichzeitig mit zeitgenössischen Autoren auseinandergesetzt. Meine Begeisterung für Literatur ist sehr früh von einer fast atemlosen Verzückung für Heinrich von Kleist geprägt worden, was bis heute ganz sicher meine Vorlieben für zeitgenössische Autoren, die ich mag, und andere, die ich weniger mag, beeinflusst.
Nicht nur halte ich die Kategorien rechts und links für untauglich in der Kulturpolitik, sondern auch die Zuordnung zu Avantgarde oder Tradition – als handelte es sich hier um zwei Optionen, zwischen denen die Kulturpolitik wählen dürfte. Ich bin mit Leidenschaft dafür, dass Künstler sich mit grandioser Einseitigkeit auf das konzentrieren können, was sie spannend finden – und dass sie den Rest für völlig belanglos halten dürfen. Mit der gleichen Hartnäckigkeit bestehe ich darauf, dass die Kulturpolitik das nicht darf. Die Kulturpolitik muss die Tradition genauso ernst nehmen wie die Avantgarde – und umgekehrt. Deswegen wäre mir außerordentlich unbehaglich, wenn die großen politischen Lager in Deutschland sich in einer Mischung aus Übermut und unzureichender Aufklärung für eines dieser beiden großen Felder – Avantgarde oder Tradition – als heimliche Schirmherren exklusiv verantwortlich fühlen würden. In der großen Zeit des Bildungsbürgertums war diese Verbindung vielleicht lebendiger.
Von den Print–Medien kommend habe ich als Schwarz/Weiss–Mann mein ganzes Leben der Schrift gewidmet, den Buchstaben und Zeichen, die keine Halbtöne kennen. Mein oberstes Ziel ist zugleich mein eigentliches Problem: die optimale Lesbarkeit. Der Leser soll durch einen Wald voller Lichteinfälle laufen, nicht durch Betonwüsten in der Vorstadt. Mein Leben ist eine Reise in die Welt der Zeichen, Buchstaben und Symbole. Natürlich ist das Leben in Farbe, aber Schwarz/Weiss ist realistischer.
Weil mein Leben alles andere als aufregend verlaufen ist, halte ich es nicht für nötig, über mich zu schreiben. Die Vorstellungskraft eines Essayisten muss über die engen Grenzen der eigenen Existenz hinausreichen. Das Schreiben ist für mich ein Akt des Erkundens, mit dem Ziel, das Fremde und Andere besser verstehen zu können. Der Drang des Entdeckens führt dazu, dass ich mich weder auf die Erzählstimme beschränke noch auf die Perspektive des Angehörigen einer Minderheit. Meiner Meinung nach ist ein Essayist weder Politiker noch Sprecher für irgendeine Sache, ihm muss unabhängig von Ideologien die totale Freiheit der Imagination zustehen.
Seit Jahren beschäftige ich mich mit den „Essais“ von Michel de Montaigne. Was ich an ihm schätze, ist seine vorurteilsfreie Menschenbetrachtung und sein liberales Denken. Mit dem Begriff ´Essay´, zu Deutsch in etwa ´´Versuch“, distanzierte sich der Meister bewußt von der Wissenschaft, seine ´´Versuche´´ sind vielmehr von subjektiver Erfahrung und Reflexion geprägte Erörterungen. Für mich bedeutet eine geistreiche Abhandlung eine Herausforderung meiner stilistischen und gedanklichen Fähigkeiten. Ich versuche mich dem Gegenstand der Überlegungen zu nähern und ihn aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.Vielleicht gelingt es mir, der literarischen Kunstform des Essays eine aktuelle Variante abzugewinnen. Möglicherweise irre ich mich auch, jedoch nicht umher, eher auf dem Weg, den der geschätzte Montaigne beschritten hat: frei flottierend. Die Reise geht weiter, die Schreibbewegung geht weiter, und solange das Schreiben den Tod aufschiebt, kann auch das Leben weitergehen. Vollendet ist das Werk, wenn der Essayist es losgelassen, es unvollendet hinterlassen hat.
Mein liebster „Schrottplatz“ ist www.vordenker.de. Dort findet sich das von mir lektorierte Projekt Kollegengespräche. Als Rollstuhlfahrer habe ich das Glück, in A.J. Weigoni einen Betreuer zu haben, der mich fordert. Da Weigoni die "Drecksarbeit" für mich erledigt, unterstütze ich ihn als Lektor. Ich beneide Menschen, die waidgerecht eine Metapher ausnehmen, eine Figur in einem Satz festnageln, sich an Geopolitik oder Neurochemie wagen können, ohne dass ihnen dabei der Schweiß auf der Stirn steht. Ich beneide sie um das Gefühl für die Richtigkeit ihres Tuns.
Wenn ich beobachte, wie sich jemand bückt, um einem anderen zu helfen, glaube ich, dass er die Arbeit aller tut, den menschlichen Job. Ich bewundere diese Menschen, aber ich beneide sie nicht. Paul Celan hat auf die etymologische Verwandtschaft von Denken und Danken hingewiesen.
Ausgangspunkt der Kollegengespräche war die Rezeption von Literatur im neuen Deutschland. Mit seinen Gesprächspartnern stimmte A.J. Weigoni weitestgehend darin überein, dass man Literatur nicht nur den "Fachleuten" überlassen sollte. Der Begriff ‘Immunität’ hat unsere Weltanschauung, das Selbst– und Weltbild des modernen Menschen, nachhaltig geprägt. Sprache ist demzufolge ein Virus, das sich – von Mund zu Mund, von Buch zu Buch, von Website zu Website – schneller vermehrt, als die Diskurspolizei erlaubt. Das scheint ganz besonders für die Sprache der Infektion selbst zu gelten, von der Semantik der Ansteckung. Dies geschieht umso leichter, wenn die fraglichen Wörter ihrerseits bereits mit Bildern infiziert sind, die ursprünglich nicht der wissenschaftlichen Sphäre entstammen, sondern der poetischen. Kann es eine Sprache zwischen Buchdeckeln geben, die den Lesern nicht auf die Nerven geht?
Für diese Form von Gesprächen nahmen sich die Schriftsteller Zeit. Viel Zeit. Oft mehrere Monate. Mit einem etwas veralteten Medium – dem Briefeschreiben – stellten sie sich Fragen, die auch eine breitere Öffentlichkeit interessierte. Im Laufe der Zeit ergab das allmählich die Form einer journalistischen Gattung, des Interviews, bei dem im günstigsten Fall zwei Insider über das reden, von dem sie mehr verstehen als "Literatur–Wissenschaftler".
Deutschsprachige Literatur als demoskopisches Küchenstück?
Obzwar unter den Zeltschrägen eines gemeinsamen Umschlages, bilden die Schriftsteller dieses Projekts keine einheitliche Gruppe. Es gibt keinen gemeinsamen arspoeticagleichen Ansatzpunkt als den, Literatur anders einzuordnen, um schließlich eine Art literaturkritischer Mutation hervorzuzaubern. Eben durch die Verschiedenheit der Texte, durch die Unvereinbarkeit der gezielten Darlegungen und dank dieser Inkompatibilität werden die Autoren selbst zum Sinnbild der gegenwärtigen Lage der kulturellen Gesellschaft. Der Literaturbetrieb gleicht einem Adler, der in die Lüfte aufsteigt, obzwar er gebrochene Füße hat, die ihm jedwede Landung verwehren. Heutzutage scheint Literatur der Inbegriff des Fragmentarismus, der unsere Zeit ansteckt, dadurch charakterisiert und die typisch fin–de–siècle–belastete Verwirrung und Fassungslosigkeit der Methoden, der existentiellen Werkzeuge zum Ausdruck bringt. Diese Autoren wagen, jeder auf seine Art und Weise, eine Berufung der Methode einzulegen, indem sie eine Berufung der Rhetorik heraufbeschwören. Die alten Fragen der Literatur bleiben erhalten, wie die nach dem Geschlechterverhältnis oder dem Rest Unerklärlichem, das sich der menschlichen Erkenntnis entzieht. Deshalb sollte sich die neue Literatur nicht frontal gegen die Religionen stellen. Aber sie muss die sogar bei Atheisten bislang unzureichend ausgebildete Anschauung stärken, dass Moral und Ethik keineswegs nur über religiöse Überzeugungen funktionsfähig werden. Es geht um eine Erweiterung des literarisches Feldes.
In den Gesprächen mit den AutorInnen: Karlheinz Barwasser / Holger Benkel / Patricia Brooks / Barbara Ester / Klas Ewert Everwyn / GRAF–X / Wolfgang Kammer / Bruno Kartheuser / Axel Kutsch / Jens Neumann / Ulrich Peters / André Ronca / Ioona Rauschan / Dieter Scherr / Robert Stauffer / Angelika Voigt / Dieter Walter / Eva Weissweiler können wir einen Blick in die Arbeitszimmer der Schriftsteller der 1990–er Jahre tun. Wir erfahren viel über ihre Arbeit an Lyrik, Prosa, Drama und über Arbeitstechniken im Studio, auf der Bühne oder im Internet. Und das nicht über "Literatur–Wissenschaftler", sondern aus erster Hand. Die Verflechtungen von Poesie, Kunsttheorie, persönlicher Biografie und politischen Ereignissen, von Leben, Film und Literatur, von Querverweisen zwischen Literatur und Kunst und von Bezugslinien zwischen Vergangenheit, Gegenwart und schließlich sogar der Zukunft machen die „Kollegengespräche“ zu einer komplexen Lektüre. Die Unmittelbarkeit und Dringlichkeit des Schreibens aber wiegen die Beschwernis der labyrinthischen Gedankenwege, die lesend nachvollzogen werden müssen, wieder auf. Ich bin entschieden der Auffassung, dass die Literatur eine Dimension beiträgt, die für die Gesellschaft völlig unverzichtbar ist. Literatur ist nicht nur Dekor des Lebens, das neue Gesellschaftsmodell benötigt neue Literaturformen. Über Verfremdungen drückt Literatur die Befindlichkeiten, Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen der Menschen aus. In Zeiten tiefgreifender Veränderungen verschwimmen deshalb auch die Grenzen zwischen den so genannten Literaturproduzenten und dem so genannten Publikum.
Die Literatur ist weniger als jeder anderer Bereich bereit, die Fixierung auf das, was ist, slso auf die Realitäten, die man vorfindet, zu akzeptieren. Genau deswegen entwickelt sie die Dynamik, die eine Gesellschaft dringend braucht, wenn sie nicht auf der Stelle treten will. Das ist Aufgabe der Literatur, nicht der Kulturpolitik.
Wir leben in bürgerlichen Verhältnissen, doch wir sind keine rationalen Kreaturen. Die deutsche Geschichte beweist das. Die europäische Aufklärung, die mit Newton, Kant und Voltaire begann, die erfolgreich den Glauben an den menschlichen Verstand predigte,die Philosophie, die unsere Politik dominierte, ist gescheitert. Die Sprache kann mit den Augen nicht mithalten. Jede Gesellschaft über verfügt Formen von Öffentlichkeit, selbst autoritäre Systeme müssen benennen und erklären, was war, was ist und sein soll. Vor allem aber werden Begriffe gebraucht von den Bewegungen, die gegen die hergebrachte Ordnung aufbegehren und etwas Neues erstreben – selbst wenn dieses Neue als Rückkehr zu einem idealen Alten dargestellt wird. Der aufgeklärte Mensch handelt nicht notwendigerweise zu seinem Besten. Unsere Mitbürger werden weiterhin morgens aufstehen, ins Auto steigen und zur Arbeit fahren, aber in ihren Köpfen geht etwas Gefährliches vor sich. Denn sie leiden unter der bürgerlichen Langeweile. Die Konfliktlinien der Gegenwart lassen sich nicht mit den klassischen Gerechtigkeitsfragen beschreiben, die sich zwischen Arbeit und Kapital stellten. Der Bewegungsbegriff der Globalisierer lautet: Innovation. Er hat alte Kampfbegriffe wie Fortschritt und Emanzipation abgelöst. Die zentralen Innovationen haben die Gesellschaft insgesamt verändert, ob es sich um den Buchdruck oder das Internet handelt. Der Beweggrund für Neuerungen ist der Distinktionsgestus. Schriftsteller wollen sich unterscheiden. Wollen aktueller, cooler, avancierter sein als die anderen. Wollen sichtbarer sein auf dem Hintergrund des Überkommenen. Als sie in die Welt kamen, war das eine Welt, in der es sie nicht gab; sie mussten sich erst schaffen. Bei bewusster Betrachtung der Welt stellen sie fest, dass sie so gut wie abwesend sind. Ihr Leben verbringen sie damit, ein Bild von sich zu erzeugen und es dann immer weiter zu korrigieren, zu präzisieren – und dabei sterben sie. Ihr Ziel ist es, sich selbst ins Weltbild zu setzen, sich zu positionieren.
Der Zeitpfeil dreht sich und zielt direkt ins Herz der Gegenwart. Wir können heute nicht wissen, welches Wissen wir morgen brauchen. "Innovation" ist, richtig verstanden, das schöpferische Leben der Gesellschaft. Es beinhaltet einen riesigen Speicher von Erfahrung und Phantasie. Was es nicht braucht, ist die schriftgewordene Angst. Nicht Bildung muss man abbauen, sondern Vorschriften. Deutschland war ein Land der Ideen, das Land der ´Dichter und Denker´; wir können es wieder werden, wenn es gelingt, uns mitsamt Pferd aus dem Sumpf der gepflegten Depression zu ziehen.
Das ‘selbstbestimmte Individuum’ ist eine Lüge der Aufklärung. Blinder Zukunftswahn und transzendentale Obdachlosigkeit sind die Stützpfeiler im Weltbild des Menschen des 21. Jahrhunderts. Jede Ordnung ist ein endloses Experimentieren der Menschen mit sich – unter der dauernden Gefahr, dass die mühsam eingerichtete Ordnung wieder zusammenbricht. Jede Form der Ordnung ist eine temporäre und prekäre Artikulation kontingenter Praxen.
In einer medialisierten Gesellschaft bewegt sich das Selbst auf einem Markt, wo nicht Ware gegen Geld, sondern Darstellung gegen Beachtung getauscht wird. Wer hier ins Licht der Scheinwerfer gerät, nimmt teil – ob er das will oder nicht – an jener eigentümlichen Ökonomie, die auch Person und Persönlichkeit noch zur Ware macht. Bei dieser Wirtschaftsform wird die Banken– und Börsenfunktion von den Massenmedien übernommen. Sie kontrollieren Zahlungsmittel und Tauschwerte auf einem Markt, der früher exklusiv den Reichen, Schönen und Bedeutenden vorbehalten war und heute jedermann offen steht. Sein kostbarstes Gut ist das Authentische, ein Merkmal, das sich gut vermarkten lässt. Die Individuen, die sich dieser neuen Ökonomie unterwerfen, hoffen auf die Spiegel– und Echoräume der Mediengesellschaft. Diese soll ihnen nicht nur Prominenz und Karriere, sondern auch Identität vermitteln: Unbewusstes Ziel des selbstdarstellerischen Akts ist die identitätsstiftende Spiegelung im anderen. Im mentalen Tauschverhältnis enthüllt dabei der Narzissmus seine eigentlich verborgene zwischenmenschliche Dimension.
Die Erinnerung wurde mit einem Buch verglichen. Unvergessliches und Erinnerbares sind nicht dasselbe, das wahrhaft Unvergessliche kann keinem Archiv anvertraut werden; da sowohl im individuellen als auch im kollektiven Gedächtnis den Anteil des Unvergesslichen den des bewussten Eingedenkens bei weitem übertrifft. Nur die Gesellschaft ist gesund, in der die Spannung zwischen dem Denkwürdigen und dem Unvergesslichen lebendig bleibt. Kein Material ist ohne Aura, also ohne Vorgeprägtheit, ohne Welt– oder Vergangenheitsbezug. Sie haben gelesen, wie ich mich gestaltet habe. Warten Sie, bis ich mich auflöse, dann werden Sie sich möglicherweise wieder über die eigentlichen Inhalte der Gutenberg-Galaxis beugen.
Matthias Hagedorn
Info:: www.vordenker.de/kollegen/kollegen.htm
|
|
Forum > Begrüßungssaal > Selbstauskunft
Buch-Rezensionen:
|
|