Biographien Rezensionen Diskutieren im versalia-Forum Das versalia.de-Rundschreiben abonnieren Service für Netzmeister Lesen im Archiv klassischer Werke Ihre kostenlose Netzbibliothek

 



Save Ukraine!
Save Ukraine!


Love all Animals

Literaturforum: Aufgelaufen


Aktuelle Zeit: 27.07.2024 - 07:11:49
Hallo Gast, Sie sind nicht eingeloggt!
Suche | Mitglieder | Neu | Statistik

Heute ist der 140. Geburtstag von Ernst Bertram.

Forum > Prosa > Aufgelaufen
Seite: 1
[ - Beantworten - ] [ - Drucken - ]
 Autor
 Thema: Aufgelaufen
michy
Mitglied

47 Forenbeiträge
seit dem 14.07.2005

Das ist michy

Profil Homepage von michy besuchen      
Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 20.10.2010 um 11:20 Uhr

Cut Up aus Aufgelaufen - Road Movie (Teil 1)

’Ich war schon überall, hatte Sieg und Niederlage vor Augen ’, rotierten Pauls Gedanken, krallten sich fest - und gaben ihm endlich den Rest, ’und jetzt werde ich in dieser schäbigen Bude sterben, ermordet von meinem Sohn; ausgerechnet’, ging es weiter, - ausgerechnet von ihm, der sonst über das Sterben durchaus positiv dachte. Doch jetzt, als sein letzter Atemzug begann, als die von Gott geliehene Seele die Form eines zerknüllten Papiertaschentuchs annahm, als der Odem aus dem Torso zog, hin zu neuen Horizonten, als das eben noch blendend weiße Papiertaschentuch zerknüllt und aus dem Fenster geworfen, und der sanfte Flug durch Raum und Zeit begann, der nie enden würde; als Schmerzen und Schuld nachließen, da war er endlich in der ewigen Sekunde der Vergangenheit und in der Erlösung von allem Übel durch den Herrn. Und es begann neu.

Paul, hatte sein Vater ihn genannt. Ein treudeutscher Vater, sein Vater, der Wilhelm hieß. Martha die Mutter.
Doch die hatte zu Pauls Namensgebung nur stumm genickt, denn eigentlich wollte sie ihn Harald nennen.
Der junge Paul wusste bald, warum der Vater Wilhelm hieß und seine Ehre die Treue war. Denn zumindest Verdun hatte Wilhelm hinter sich. Und eine Pickelhaube im Schrank. Das Kaiserbild im Wohnzimmer. Die frühen Striemen von Züchtigungen im Waisenhaus trug er auch noch. Jetzt mit Stolz. Auf Rücken und Hintern. Im Hirn. In der unwichtigen Wichtigkeit. Und Gott war sein Vater; Herr aller Schlachten. Doch, ja, der Name Wilhelm erfüllte ihn mit Stolz. Die Erinnerungen an schwul-perverse Handlungen im Waisenhaus weniger. Egal. Stolz, Zucht und Ordnung hatte er sich nach dem Annaberger Vorbild auf den Rohrstock geschrieben. Auf einen Prügel, den auch Paul tagtäglich wie das Essen gereicht bekam.

’So lange du die Füße unter meinen Tisch stellst ...’, brüllte Wilhelm, mit deutscher Fahne oder ohne. Doppelkorn. Bier. Mit weißen Blasen an den Lippen, den Schaumkronen des Wütens einer Bestie. Die Mutter nickte zu Allem; war weiß und nüchtern wie Milch. Und das, bis Paul achtzehn war.
Später gab Paul diese Art von Erziehung ohne schuldhaftes Zögern an seinen Sohn Alfred weiter, der sich ab irgendwann Pierre nannte. Den Schlägen entkam er trotz Namenwechsels nicht. Und, ja ,die Art des Schlagens war gleich die, wie es sein Vater tat: innen auf den Unterarm, erst den einen, dann den anderen, und manchmal über den blanken Hintern. Alles gleich, nur der Rohrstock war ein anderer. Verständlich. Alles nutzt sich mit der Zeit ab. Die ehemals nickende Mutter auch. Die starb als erste. Weiß.

Was konnte auch schlecht sein an dem, was der Vater ihm tat, das ihm geholfen hatte ein Mann zu werden, fragte Wilhelm der Erste, in einer schwachen Minute einmal seine Frau Martha die Letzte.

Auch Paul fragte mit glubschenden Augen in einem eher seltenen wie volltrunkenem Moment seine Frau, die Allerletzte, der er sonst nie eine Frage stellte. Da die allerletzte Frau nickte, wie zu erwarten, gab er sich die Antwort wieder einmal selber: war er nicht ein gerechter Mann für Führer Volk und Vaterland, der eigentlich nie fragte, nicht wahr? Der alles mit trug, egal was. Er, Mann in schwarzer Uniform mit in tief stehender Lebenssonne und blitzenden Runen. Dienend Odin, - der tausendjährigen Neuzeit im einig Reich. In einem Krieg, der zu führen war. Hurra! Den Schwüren, die zu schwören waren. Hurra! Hurra! Hurra! Dem Eid an der Fahne, usw., usw. Den Versprechungen. Dem Endsieg. Der Verwundung. Dem Tod. Der Gefangennahme. Hunger. Folter. Schlägen. Demütigungen. Dem Bergbau. Dem Dreck. Den Eiswüsten Sibiriens. Den Flüchen. Der Angst. Der Flucht. Dem Ankommen; ohne Schuld und schuldig sein. ... hatte er nicht schließlich mit seinen Idealen dafür bezahlt, und nun mit dem Leben ...?
’Führer befiehl, wir folgen’, hieß es einst. Paul meinte es ernst, folgte, und war überall, wo der Führer ihn haben wollte. Und wäre noch ganz woanders, wenn ... Doch das hatte er hinter sich, glaubte er. Ja die Frau, später der Sohn, dass ihn verurteilende deutsche Gericht, die zwei Jahre Haft, die in den Schulen gelehrte Geschichte, und das ewige Geplärre der Juden rund um den Globus waren Schuld am irgendwann verlorenen Denkbild. Wäre er bloß nach Argentinien geflohen; vieles hätte er sich erspart. Ach, wie war der Einmarsch in Polen leicht. Diese freudigen Beutezüge durch Belgien, Holland. Ach, wie hoch stand die Sonne in Frankreich. Bis in den Süden hin. Und was hatte er nicht alles an Ländern und Mösen erobert. Den Herzen in Schmerzen. Hatte gelebt, geliebt, gesoffen. Mit Führer, Papst und Gott diese leichten Erfolge im Krieg, im Leben, in der Liebe und im Suff. Das Dasein wie eine überreife Kirschen gepflückt. Was für ein jubelndes Herz. Ein stets bereiter Schwanz. Ein unnutzes Hirn, doch das wusste er nicht. Und was hätte noch alles kommen können in tausend Jahren Selbstgerechtigkeit, Ignoranz, Hochmut und Heuchelei. Ja, dass Deutsche Reich auf eine höhere Treppenstufe der Zivilisation stellen, dass das Ziel - und kein Tabu, das es nicht gelte zu brechen, als er freiwillig nach Mauthausen, nach Auschwitz ging, um an der Menschenauslese mitzuhelfen; was gab es Wichtigeres? Er fragte nicht. Er folterte ohne Entrüstung. Im Prinzip ohne Menschenwürde. Alles in Klarheit und Substanz. Notwendig, und von oben begründet. Schließlich hatte der Staat Würde und Leben seiner Bürger vor Untermenschen und Ihresgleichen zu schützen. Punkt und auch Ausrufungszeichen. Paul gliederte sich in die Gilde der Massenmörder ein, ohne sich selber Gewalt anzutun. Wie alle. Er war der Oberen Werkzeug. Unterließ eigenes Denken und Handeln. Zerschlug Menschen durch Schmerz, Angst, Verlassenheit und Tod. Erst in Pflichterfüllung, dann vergaste, erschlug, erschoss er sie in Willkür, - mit Freude und Wut, aus Spiellust und elementarem Vernichtungswillen. Später tröstet er sich, wenn überhaupt: es war unwertes Fleisch. Nur das. Und die Tortur des Tötens Technik. Was sonst? Sterben war nötig! Wie anders wäre ein großdeutsches Reich möglich?

Eigener Schmerz ist dem Sein abträglich; ist gefährlich und irreführend wie Liebe. Man muss vieles von Allem ertragen und nichts sagen. Nie kapitulieren. Lieber lügen und nicht gestehen, das man nichts oder viel begangen hat, dass man in sich aber weiß begangen zu haben oder nicht, das muss man versteckt halten wie sich selber. Paul handelte nach dem Motto: Rettet Unschuldige wie mich, lasst sie dem Wissen über Schuld widerstehen. Denn über den Sieg entscheidet die Gewalt, nicht das Denken und Reden darüber, das Wissen. Der Sieg gehört dem Stärkeren, dem der nicht zögert und denkt, sondern dem, der das Denken ausschaltet und einfach tut. Diese alles sprengende Feuerkraft in Disziplin mit Lust, dem Kampfgeist, der Moral, - der eigenen. Und nicht zu Letzt gerade der die und das. Ich tat, was mir befohlen. So schrieb er den Brief: Martha, meine Frau. Ich bin verwundet, erhielt vom Iwan einen Oberarmdurchschuss. Ich habe Schmerzen. Doch es geht alles vorbei, denn ich bin hier im Feldlazarett in guten Händen. In ein paar Wochen werde ich auf Urlaub zu Hause sein, dann werde dir ein Kind machen. Es wird ein Junge sein. Der Führer braucht Soldaten für den Endsieg. Er wird Alfred heißen. Gruß aus Russland.
Heil Hitler!
Paul

Pierre, der als Junge Alfred hieß, hatte ein solches Ahnen durch die Kindheit begleitet. Dazu die Trauer der Mutter. Das Heft mit Notizen. Und die Fotos, - nun. Rücksichtslos und ohne Hemmungen in unmenschlicher Nacht war die dunkle Gestalt des Vaters um ihn, in ihm, wenn er schlief, träumte, oder nur so tat. ’Alfred!’ drohte der. Und auch deshalb benannte er sich um in Pierre; ’Alfred ...’
Hatte sich eine Glatze schneiden lassen; das machte den Kopf klarer, die Körperpflege einfacher. Der Frachterkapitän verschob nebenbei Waffen; weil er Frau und Freundin hatte, weil er ein Haus bauen wollte, weil er tausend Gründe hatte reich werden zu wollen. Pierre sagte dazu nichts, war teilnahmslos. Faul im Hamsterrad. Hatte Höhlen in seinen Wangen, zog sich eine Decke über beide Ohren und horchte ins Dunkel.

Ja, er würde aufräumen müssen. Wie jedes Mal nach solchen Explosionen; wie ständig in seinem zerplatzten Leben. Die Gedanken sortieren, hatte sie gesagt, als sie noch in ihm lebte. Gedanken sortieren, hatte er gefragt, kann man das?; - denn sein Wollen traf jedes Mal auf Leere, wenn er was sortieren wollte. Du musst dich konzentrieren, ermunterte sie ihn. Ja, wie denn? Da hatte sie sich zu ihm gesetzt, seine Hand gehalten und ihn zur Ruhe gemahnt. Na wie denn, ruhig sein, war er unsicher. Ganz einfach, atme tief durch, denke an nichts -, dann wird’s schon. Und dabei hatte sie von ihrem Odem abgegeben, als wenn sie ihm davon schenken wollte. Atmen, an nichts denken, loslassen? Heiß war ihm geworden, wenn er ihren Arm an sich gedrückt spürte, ihre Hand auf seiner lag, ihr Atem ihn streichelte. Lust auf sie hatte er dann empfunden. Liebe? Egal. Jetzt war nichts von dem. Jetzt war ihm kalt, und sie nicht mehr da, und er spürte demzufolge auch ihre beruhigende Hand nicht. Überreste sah er. Sie und sich. Sein Leben. Was davon da war. Geblieben. Und das endlos neu auf dem Prüfstand. Jeden Abend. Oft die ganze Nacht. Schon morgens spürte er neu die Angst vor dem Abend. Kalte Angst, die er nur mit Alkohol herunter spülen konnte. Die Angst vor Geburtstagen und sowieso. Schon wenn er von irgendwelchen Feiern in der Zeitung las. Trotzdem feierte er die annoncierten Tage mit. Er feierte alles. Seine Misere. Und seit sie nicht mehr war, versumpfte er tagtäglich. Was soll’s, dachte er danach.

Seit Effie lebte er im Hamburger Umland und hatte, als einzigen Luxus, das Kreisblatt abonniert. Warum und wozu auch immer.
Später wusste er, es war Schicksal, - und dass er im Grunde nicht alleine sein wollte. Ein Jahr, nachdem sie nicht mehr da war, fing er damit an, durchstöberte einschlägige Annoncen. Erst las er die lediglich. Malte sich aus, wer dahinter stecken könnte. Dann, nach zwei drei Monaten Lesens und Fantasierens wer, wie, was, schrieb er auf Inserate. Im Anschreiben an die Betreffende erzählte er nichts Persönliches. Er schrieb nur so la la und gab seine Telefonnummer an. Einen Absender nie. Kaum waren die Briefe raus, begannen die Anrufe. Von morgens bis abends. Viele des Nachts. Die nervten besonders. Und, mein Gott, das waren Erfahrungen. Wer ihn da alles anrief. Die verrücktesten Geschichten hatte er gehört, und er war, wie man so sagt, eigentlich abgebrüht, was Leid und Enttäuschungen betraf. Trotzdem, bei manchen der Geschichten, bei den Frustrationen, die ihm in intimen weingeschwängerten Telefongesprächen anvertraut, wurde er unsagbar traurig. Einfach so. Am nächsten Tag lag dann prompt sein eigenes Leben in Schutt und Asche. Sein Zuhause. Die Gespräche vom Abend lagen wirr auf dem Boden. Viele der abgestürzte Gedanken der Nacht pappten auf Zetteln geschrieben an den Wänden. Dann kam der Tag, da lernte er sie kennen, die er glaubte bereits aus einem früheren Leben zu kennen. Die, die eine Stimme hatte - und, als er sie dann traf, auch Effie ähnelte. Doch sie ähnelte Effie lediglich äußerlich; das hatte er gleich in den ersten Momenten kennen lernen gemerkt. Sie hieß Mona und war habgierig- , denn sie wollte gleich wissen was er arbeitete und verdiente. Ob er ein Haus hatte. Vermögen auf dem Konto. Ein luxuriöses Auto, usw. Das war’s dann, und all seine weiteren Bemühen über Bekanntschaftsanzeigen mit sich ins Reine zu kommen waren sowieso Fehler, wie sein Leben ein einziger Fehler war, - wie er wusste. Nur das mit Effie nicht, das war kein Irrtum, kein Fehler, das war Leidenschaft und Liebe. Es begann und endete so. Effi war die Geliebte seines Vaters.
Und gleich als er sie das erste Mal sah, verliebte er sich in sie, - und diese Gemeinsamkeit schien auch die einzige genetische Verbindung zu seinem Alten zu sein. Und, bei einer folgenschweren Auseinandersetzung um Effie kam sein Vater zu Tode. Gut so ... Ich hätte mich schon viel früher von dem Alten befreien sollen, schon vor der Legion, dachte er nach dem Totschlag am Vater. Dann hätte ich nicht vor meiner Wut in einen Krieg fliehen müssen, - nicht jetzt für die Folgen des Totschlags in den Knast.

Ja- ja- ja, hilfreich und gut, so ein Tier, dass weiß doch jeder. Später, irgendwann, kam sein Geist für einen Moment in die Realität retour - und er fand sich in die Trümmer seiner Existenz. Und ohne wirklich zu wollen, dachte er an gestern. Er hasste Tage wie jenen; dem Kalender nach hatte er Geburtstag. Doch solches Fest feierte er nicht. Zu keiner Zeit. Betrunken hatte er sich wegen etwas anderem. Heftig besoffen, um ehrlich zu sein. Wie immer - in den letzten Monaten. Der Totalschaden an seinen Klamotten, die wirren Gedanken in seinem Kopf, die zeugten wie immer vom Exzess.

Einmal, bei solchem Weinen und Stöhnen, stieg ’klein’ Alfred (heute Pierre) aus dem Bett, um sie zu trösten, um zu sehen, was der Ursprung davon war. Ob es Angst, innere Not, oder äußerer Zufall war. Oder alles zusammen? Als er wusste, sah, was geschehen und geschah, onanierte er regelmäßig zur Melodie Wissens im Takt. Das gab Trost im Verlust und stärkte ihn in der Begreiflichkeit Unbegreiflichen. Ja, die Mutter hatte sich neu verliebt. Liebte neben ihm, den Sohn, den Mann, Erich. Einen Kriegskameraden des Vaters. Doch auch Erich konnte ihr nicht das wahre Leben ersetzen, so wie sie es verstand, - was wiederum keiner verstand. Denn nichts hatte geklappt, was sie erwartet hatte, so was wie Liebe und Vertrauen, wie Leidenschaft und geschäftlichen Erfolg, wie Ehre, Geld und Ruhm. Wohl auch deshalb fing sie an zu stehlen. Dies und das. Lebensmittel. Schnaps und Zigaretten. Und immer kam sie an der Kassiererin ungeschoren vorbei. Die sah sie nicht einmal prüfend an, so wie sie aussah, so rein und unschuldig, so freundlich durchdrungen, so ernst und wahrhaftig. So einfach ehrlich. Egal wie, einige wenige Lebensmittel bezahlte sie trotzdem immer. Die Flasche Schnaps, meist war es Asbach, die Zigaretten, Marke Juno, bezahlte sie nie. Diese Beute verschwand ungesehen in Pierres Schultasche - und sie ging mit ihm an der Hand jedes Mal langsam und selbstbewusst aus dem Laden hinaus, als ob nichts gewesen wäre. Einmal trank Pierre (vormals Alfred) vom Asbach, rauchte dazu, wie seine Mutter, mit abgespreiztem kleinen Finger eine Zigarette. Der Schnaps schmeckte fürchterlich, die Zigarette brachte ihn ins Husten. Beides zusammen hatte eine immense Wirkung. Ihm wurde glühend heiß, wie im Fieber, dann hundekalt, so dass er sich nackend auszog und wieder an, wieder aus, wieder an. Und so fort. Seine Mutter, als sie ihn fand, war um ihn besorgt. Fragte, ob alles in Ordnung sei. Pierre antwortete mit ja und litt. Etwas besseres fiel Ödipus nicht ein. Ab diesem Tag trank er abends Bier, das er selber gestohlen hatte. Rauchte. Und nicht nur das Bier beruhigte ihn, sondern auch das Wissen, selber etwas leisten zu können. Ansonsten änderte sich über die Jahre nichts. Der Vater war weg. Mutter betrank sich. Erich besuchte Mutter. Pierre onanierte. Nur seine Lehrer waren immer weniger von seinen schulischen Leistungen erbaut. Und als sie ihn rauchend, trinkend, onanierend auf dem Schulklo erwischten, war die Geduld aller zu Ende. Seine auch. Der Junge gehört ins Internat, verschaffte sich der Onkel freies Schussfeld. Was Pierre am Arsch vorbeiging. Onanieren, rauchen, trinken, kann man anderswo auch. Und er sagte zur Mutter: dann gehe ich eben, - ungeliebt wie er sich fühlte. Immerhin blieben ihm Bier, Juno, Gliederschwäche, Blutarmut, Herzflimmern und jede Menge Flecken auf Hemd und Hose. Das war nicht schlecht. Für den Anfang. Meinte er.

Warum er denn ins Internat gekommen wäre, fragte der Typ von der Jugendgerichtshilfe, als er das erste Mal in U-Haft saß.

Ich war böse. War knapp elf Jahre alt, hatte erste Haare da unten dran, saß auf dem Sofa und spielte an meinem Ding. Mutter hatte nebenan eine Freundin zu Besuch und die einen Hund. Einen Foxterrier, der ständig kläffte. Ich, im Nebenraum, untersuchte im Licht der Tischlampe meinen Puller auf Ameisen. Früh am Morgen hatte ich mir nach dem Pinkeln im Park eine draufgesetzt. Letzte Woche war’s eine Schnecke. Nach Tagen lag die Schnecke tot in meinem Bett. Eine Eidechse wäre schön, dachte ich, als ich die Ameise nicht gleich fand. Die 25 Wattbirne war eventuell schuld.
Unerwartet ging die Tür einen Spalt auf und der Terrier hechelte herein. Der kann Türen öffnen, war der Besuch meiner Mutter stolz. Der Hund sprang geifernd auf das Sofa und inspizierte seinerseits mein Ding -, wohl nach Ameisen, oder Schnecken, Eidechsen, was weiß ich. Als plötzlich beide Oberlichter flammten, fünfzig Watt, und die Tante, so musste ich den weiblichen Besuch meiner Mutter immer nennen, im Raum stand. Die Tante sah die Szene und keifte los: Du bist das Böse, du Schwein! Und Mutter, die ins Zimmer stürzte, schrie auch: Du bist das Böse! So wusste ich: Ich bin böse!, und pflückte im gleißenden Licht die Ameise ab - und war bereit. Jahre später besuchte ich wöchentlich Mittwochs die Tante. Da geh mal lieber nicht hin, riet meine Mutter, als ich davon erzählte, bei der verkehren nämlich nur böse Leute! Ich ging deswegen und trotzdem, denn die Tante bewirtschaftete eine Kneipe.

Wie jedes Mal, wenn ich kam, lag der Köter wie tot an der Erde und der Mann der Tante hing betrunken hinter dem Tresen.
Die Tante gab mir zu trinken. Und nach dem dritten Wodka folgte ich ihr in den Abstellraum, drehte sie um, schob ihr den Rock hoch und tat ihr in das böse Gesicht, was sie wollte. Bevor ich die Kneipe verlies, nahm ich jedes Mal sämtliche Scheine aus der Tageskasse. Die kleinen bösen Münzen nicht. Der Terrier schlief. Der Alte auch. Bis zum nächsten Mal, du Gute, rief ich dann freundlich der Tante zu.
„Du warst ja ein ziemlich Schlimmer!“, tat der Bewährungshelfer nach der ersten Verurteilung den strengen.

Als das mit der Tante und dem Hund passierte, war der Vater in russischer Gefangenschaft. Pierre hätte ihn brauchen können.

Er wäre ’für die Zukunft’ freudig in den Krieg gezogen, erklärte ihm der Alte später, von Pierre dazu befragt. Er auch, wusste Pierre Jahre später in der Legion. Ja, alles hatte seinen Grund ... Was aber sein Vater anscheinend nicht wusste, dass Hass eine bessere Triebfeder war als ein tausendjähriges Reich.


www.literatalibre.de
E-Mail Nachricht senden Zitat
Seite: 1
[ - Beantworten - ] [ - Drucken - ]
Forum > Prosa > Aufgelaufen



Sie möchten hier mitdiskutieren? Dann registrieren Sie sich bitte.




Buch-Rezensionen:
Anmelden
Benutzername

Passwort

Eingeloggt bleiben

Neu registrieren?
Passwort vergessen?

Neues aus dem Forum


Gedichte von Georg Trakl

Verweise
> Gedichtband Dunkelstunden
> Neue Gedichte: fahnenrost
> Kunstportal xarto.com
> New Eastern Europe
> Free Tibet
> Naturschutzbund





Das Fliegende Spaghettimonster

Ukraine | Anti-Literatur | Datenschutz | FAQ | Impressum | Rechtliches | Partnerseiten | Seite empfehlen | RSS

Systementwurf und -programmierung von zerovision.de

© 2001-2024 by Arne-Wigand Baganz

v_v3.53 erstellte diese Seite in 0.053622 sek.