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Literaturforum: Kafkas Amerika-Roman: Die Komik des Schreckens


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Forum > Literaturgeschichte & -theorie > Kafkas Amerika-Roman: Die Komik des Schreckens
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 Thema: Kafkas Amerika-Roman: Die Komik des Schreckens
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 13.02.2014 um 14:20 Uhr

Von Kafkas nachgelassenen Romanen ist „Der Verschollene“ - manchen noch unter dem von Max Brod gewählten Titel „Amerika“ bekannt – gewiss der nebenbei auch amüsanteste. Elemente der Komik durchziehen ihn wie Erzadern. Man muss sie nicht aufsuchen, man stößt en passant beim Lesen auf sie und fragt sich: Was war das eben? Man kann dabei den Autor förmlich sehen, wie er beim Schreiben – ja, was: gelacht hat? Mir scheint, die an solchen Textstellen aufscheinende Gemütsverfassung wird sichtbar auf jener Fotografie, die Saul Friedländer zum Titelbild seiner Kafka-Biografie von 2012 bestimmt hat. Sie zeigt den Dichter auf dem Altstädter Ring in Prag, die Hände vor dem Unterleib verschränkt, die Augen von der Hutkrempe beschattet, der Mund verschlossen, die Mundwinkel, so scheint es, von einer seltsamen Befriedigung auseinandergezogen – kurzum: Kafka schmunzelt tiefgründig in sich hinein. Das ist nicht mehr der todernste Kafka, der uns wie ein Fahndungsfoto von den Rückseiten der Fischer Bücherei seinerzeit anblickte.

Zu Kafkas Lebzeiten wurde vom Amerika-Roman allein das erste Kapitel unter dem Titel „Der Heizer“ veröffentlicht. Seltsam, dass komische Effekte hier nur wenige zu finden sind, während sie ab dem zweiten Kapitel sich häufen. Leicht komisch ist die kurze Passage, in der Karl Rossmann und der Heizer die Schiffsküche passieren, wo es von den lachenden Mädchen und ihren Schürzen etwas anzüglich heißt: „Sie begossen sie absichtlich.“ „Der Onkel“ (Kap. 2) ist ergiebiger. Schon die Figur eines superreichen Onkels in Amerika an sich ist ein witziger Griff in die Kiste banaler Klischees – und trefflich ausstaffiert ist er, dabei nicht unverdächtig, er hat Züge eines diskreten Sadomasochismus. Er lässt den Neffen extrem früh aufstehen, zwingt ihm ein närrisch überladenes Erziehungsprogramm auf und berauscht sich an Karls Rezitation eines Gedichtes über eine Feuersbrunst. Die leise Komik erreicht ihren Höhepunkt, wenn sich frühmorgens zackiger Reit- und übermüdeter Englischlehrer in der Reitschule ein Stelldichein für Karl geben müssen. Ins Satirische hinüber spielt die Darstellung der Betriebsabläufe in einem der Unternehmen des Onkels: Das Grüßen ist da gänzlich abgeschafft.

Noch grotesker geht es danach in „Ein Landhaus bei New York“ (Kap. 3) zu. Das Essen dort gerät zur Tortur, die Tochter Klara neigt zu knabenverschlingendem Ringkampf, ein Fenstersturz wird knapp vermieden. Und: „Das Haus war eine Festung, keine Villa.“ Aber überall Zugluft und Kerzenflecke. Onkels Scheidebrief, mit dem das Kapitel schließt, ist ein prachtvolles Kabinettstück in einem halb sentimentalen, halb sarkastischen Tonfall.

Auf dem „Weg nach Ramses“ (Kap. 4) erweist sich der zu Beginn des Romans verloren gegangene, zuletzt glücklich zurückerhaltene Koffer – nur störend inzwischen der Geruch nach der Dauersalami in ihm - als schwere Last und Ausgangspunkt der Entzweiung mit den neuen Gefährten Delamarche und Robinson. Hier wird besonders ein Hauptmechanismus der Komik bei Kafka deutlich, es ist wie bei den altbekannten Tantalusqualen: Dem Versprechen auf Glück und Befriedigung folgt die Enttäuschung auf dem Fuß, und zwar auf eine den Leser leicht belustigende Weise. In dieser Richtung geht es auch im „Hotel Occidental“ (Kap. 5) weiter. Die goldglänzende Uniform des Liftjungen, in die man Karl steckt, ist atembeklemmend eng und überdies feucht von altem Schweiß.

Von ernsterem Charakter dann „Der Fall Robinson“ (Kap. 6), schon mit deutlichen Parallelen zum späteren Roman „Der Prozess“. Lächerlich ist hier der grundlegende Kontrast zwischen tatsächlich Vorgefallenem und dem immer mehr aufgebauschten Ermittlungsergebnis - ein Unschuldslamm wird zum Verbrecher stilisiert. Kleine humoristische Ornamente fehlen dabei nicht: So wird Karls Rock hinten glatt gezogen, da Falten stören, oder ein Kragen muss noch geglättet werden, während es doch um Karls Rauswurf geht. Der Oberportier ist die gröbere Version eines makaber-komischen Sadisten und er weiß auch, was vergnüglich daran ist, Karl zu piesacken: „Aber da du nun einmal da bist, will ich dich genießen.“ Sagt dieser gemütliche Unmensch.

„Ein Asyl“ (Kap. 7) – da ist schon der Titel, obgleich von Max Brod stammend, reine Ironie. Der Zwangsdienst bei Brunelda ist eher die Hölle, allerdings eine denkbar komisch organisierte. Die verfettete Sängerin inmitten von Schmutz und Unordnung ist zugleich eine pedantische Despotin – und natürlich wieder sadistisch, mit menschelnden Zügen dazwischen. Die herrliche Jagd nach einer Parfümflasche, die gar nicht existiert und auf der sie ihre Geschöpfe Delamarche, Robinson und Karl durch das Zimmerchaos hetzt, das ist eine der größten Possen in Kafkas Werk überhaupt. Mehr Tiefgang hat indessen Karls Blick hinab vom Balkon auf den Wahlkampfauftritt eines Richterkandidaten, auf jene Glatze mit Zylinder. Die Komik liegt in der Perspektive von oben, die die Vorgänge zu ebener Erde scheinbar verzerrt und sie gerade dadurch zurechtrückt. Der Auftritt des Kandidaten endet in einem Tohuwabohu von Anhängern und Gegnern und seine Rede kann jetzt ebenso gut bloß Ruf um Hilfe in größter Not sein - Kafka trifft sich mit Chaplin.

Dem abschließenden Kapitel „Das große Naturtheater von Oklahoma“ fehlt die vorher oft anzutreffende aggressive Note der Komik. Sie ist jetzt zärtlicher, etwa wenn die als Engel verkleideten Trompeterinnen blasen, jeder Seines, eine tolle Kakophonie, es ist auch visuell ein Durcheinander, doch Auge wie Ohr nicht unangenehm. Die Aufnahmekanzleien mit ihren seltsamen Prozeduren sind schon bedenklicher. Immerhin wird Karl angenommen und sein Name erscheint wie der aller anderen Neueinstellungen auf der Anzeigetafel, die sonst die Siegerpferde verzeichnen – wir sind ja auf einer Pferderennbahn, auch dies ein tiefsinniger Scherz.

Das Schlusskapitel ist Fragment geblieben, mithin auch der ganze Roman. Nach Max Brod war ein Happyend geplant. Insofern fällt eine zuverlässige Einordnung der komischen Anteile in die Architektur des vorgestellten Gesamtwerks etwas schwer. Schließen wir daher die Betrachtung mit zwei vielleicht aussagekräftigen Zitaten, die Fingerzeige für weiterführende Interpretation geben könnten:

„´Ich bin doch schon entlassen´, sagte Karl und meinte damit, dass ihm im Hotel niemand etwas mehr zu befehlen habe. – ´Solange ich dich halte, bist du nicht entlassen´, sagte der Portier, was allerdings auch richtig war."

Drückt der letzte Halbsatz nicht auf für Kafka typische Weise eine leise ironische Feststellung der Macht des Faktischen aus? Oder nun die umgekehrte Konstellation:

„´Ja, frei bin ich´, sagte Karl, und nichts schien ihm wertloser."

Die Kafkasche Komik erscheint als das zwangsläufige Nebenprodukt eines mit Isolationsschmerzen verbundenen Freiheitsgefühls, wie das nachhallende Echo der äußeren Welt in der Einsamkeit der inneren.

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