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Der Greis mit dem grauen Bart
Autor: Gerd Stargard · Rubrik:
Erzählungen

Der erste Erwachsene, der mir besonders auffiel, war ein Greis mit einem grauen Bart. Ich sah ihn in Saarn, meistens auf dem Holunderweg, der mich bis zur Klostermarktschule führte. Zuerst war es nur der Bart, den ich an ihm bewunderte. Ich hatte noch nie einen Menschen mit einem solchen Vollbart gesehen! Dahinter verbargen sich große und ausdrucksstarke Augen, die sehr gütig und freundlich auf mich herabblickten, sobald sich mein Weg mit seinem kreuzte. Er grüßte mich jedes Mal durch langsames und würdevolles Kopfnicken. Ich hatte den Eindruck, dass er mich seit ewigen Zeiten kannte. Bisher hatte mich noch kein fremder Mensch gegrüßt! Mochte er meine große Brille? Die Mutter hatte mir beigebracht, dass ich alle älteren Menschen, die mich kennen, zuerst grüßen müsse, schließlich sei ich als kleiner Junge zuerst bei bekannten Erwachsenen zum Grüßen verpflichtet, doch dieser alte Herr grüßte mich von ganz alleine. Ich hatte keine Ahnung, ob er jeden anderen fremden Menschen auf der Straße ebenfalls grüßte, aber mich erfüllte es mit unbändigen Stolz, dass er mir zunickte, wenn er mich sah.
Ich hörte von der Klassenlehrerin Fräulein Flocken im Unterricht, dass der liebe Gott einen langen wallenden Bart trug. Er ist auch schon sehr alt, sagte sie, doch niemand kennt sein hohes Alter genau. Jetzt wurde mir klar, es war der greise Herr, den ich manchmal auf dem Schulweg traf. Weswegen er mich grüßte, wusste ich nicht. Ich sah, dass er gemütlich, aber unerkannt durch die Straßen und Wege spazieren ging. Seinen Aufenthalt auf Erden hatte ich zuallererst bemerkt. Fräulein Flocken ahnte nicht, dass ich den lieben Gott getroffen hatte. Sie würde ihn jedoch nie finden, denn sie ging immer einen anderen Weg als ich, bevor sie in die Schule kam.
Er ging nicht alleine durch Saarn spazieren. Ein Hund war sein treuer Begleiter, wenn er unterwegs war. Ob es sich dabei um einen kleinen oder großen, lang- oder kurzhaarigen Hund handelte, das habe ich vergessen. Ich kann mich nicht mehr an den Hund erinnern, denn ich blickte nur in seine Schnauze, als sähe ich in einen Höllenschlund!
Ich erzählte der Mutter von dem lieben Gott. Sie fragte mich, ob er mich schon angesprochen oder gar mit Süßigkeiten beschenkt hätte. Nein, er redet kein Wort, sagte ich, er nickt mir nur freundlich zu, wenn er mich sieht. Aber er kennt dich doch nicht!, rief die Mutter ängstlich. Doch, sagte ich, er kennt jeden auf der Welt, ich weiß es ganz genau. Wie willst du das wissen?, fragte sie mich. Er trägt einen grauen Bart und ist sehr alt, erklärte ich ihr. Dazu konnte sie nur lächeln. Da werde ich Frau Breithaupt mal fragen, erwiderte die Mutter, ob die Gabi den lieben Gott auch kennt. Gabi war die Tochter von Frau Breithaupt. Sie ging wie ich in die erste Klasse. Wir wohnten nebeneinander als Nachbarn im zweiten Stockwerk des gleichen Mietshauses. Gabi schüttelte den Kopf, denn sie hatte den lieben Gott noch nicht gesehen, obwohl sie von ihm genauso viel als ich erfuhr. Sie kam oft im letzten Moment in die Klasse gestürmt, da sie viel zu lange schlief und zu spät aus dem Bett kroch. Da befand sich der liebe Gott bereits auf seinem Spaziergang. Gabi konnte ihn deswegen nicht treffen.
Frau Breithaupt war eine alleinerziehende Mutter und weckte die Tochter immer pünktlich, bevor sie zur Arbeit ging. Danach träumte Gabi noch eine Weile im Bett, meistens von dem Vater, der die beiden eines schönen Tages verlassen hatte, bevor sie in die neue Wohnung umgezogen waren. Jetzt erfuhr Frau Breithaupt so nebenbei, dass die Tochter leider vor sich hintrödelte und deshalb fast immer zu spät in die Schule kam. Darüber war Frau Breithaupt sehr enttäuscht, denn sie konnte sich keine zusätzlichen Sorgen mehr erlauben. Am nächsten Tag fragte mich die Mutter, ob ich mit Gabi ab morgen gemeinsam in die Schule und mit ihr nach dem Unterricht nachhause gehen würde. Ich hatte nichts dagegen. Mir war es sogar recht, dass sie mich begleitete. Dadurch hatte ich bald einen Zeugen parat, der mir bestätigen würde, dass der liebe Gott in unserer Nähe wohnt.
So gingen Gabi und ich gemeinsam in die Schule. Dieses Mal kam der liebe Gott mit seinen langen und langsamen Schritten aus einem alten Haus heraus. Er stand vor einem prächtigen Garten. Ich war erstaunt, dass er dort wohnte. Er lief uns schnurstracks entgegen. Das Haus lag gegenüber von unserem Schulhof. Da ist er, sagte ich leise zu Gabi, ohne sie dabei anzusehen. Das kann ich gar nicht glauben, flüsterte sie zurück, der kann ja gar nicht richtig gehen! Dem lieben Gott fiel das Gehen dieses Mal ziemlich schwer, aber er war ja auch viel älter als alle Menschen zusammen, die ich kannte. Er hantierte mit einem schwarzen Stock herum, was mich selbst überraschte. Schau nur genau hin, sagte Gabi, er stützt sich mit einem Krückstock ab. Nein, das ist ein Zauberstab, erklärte ich ihr. Das hast du dir soeben ausgedacht, meinte Gabi, ich werde ihn lieber fragen. Das hatte ich bisher noch nicht gewagt. Ich verehrte den lieben Gott, aber ich fürchtete mich vor dem Hund. Er war wie immer in seiner Nähe. Ich lief sonst immer sehr ängstlich um ihn herum und schaute ihn erst gar nicht an, um ihn nicht noch zu reizen! Gabi mochte jedoch den Hund und strahlte über das ganze Gesicht, als er sie vor Freude anbellte. Ich konnte es gar nicht glauben.
Plötzlich fing der liebe Gott zu reden an. Er wollte wissen, ob wir beide ´I-Dötzchen´ seien, also ABC-Schützen. Du wirst bestimmt Professor werden, meinte er mit Kennermiene. Vielleicht dachte er dabei an meine große Brille? Einige Mitschüler nannten mich allerdings "Brillenschlange", obwohl ich keine war. Seltsam fand ich, als er Gabi fragte, ob ihr die Schule Spaß mache. Ich finde die Schule interessant, dachte ich, aber er fragt mich ja leider nicht. Gabi log, als sie sagte, dass sie sehr gerne in die Schule ging. Das machte mich zum ersten Mal stutzig: Ich dachte nämlich, dass der liebe Gott sich nichts vormachen ließ. Nun stellte sich heraus, dass er wie jeder Mensch auch Fragen stellte, um klüger zu werden.
Unerwartet ertönte die Schulglocke. Gabi nahm mich an der Hand, als ginge ich noch in den Kindergarten. Wir müssen uns beeilen, brüllte sie mir ins Ohr, sonst kommen wir beide nicht mehr pünktlich in die Schule. Deshalb rannten wir beide das letzte Stück über den Schulhof, um durch das Portal die Treppenstufen zum Klassenzimmer hinaufzueilen. Aber erst kurz vor der Tür hielten wir inne und gingen dann langsam in das Klassenzimmer, doch Fräulein Flocken war noch nicht zum Unterricht erschienen.
Seitdem ich mit Gabi gemeinsam in die Schule ging, hatte sich der liebe Gott in Luft aufgelöst. Ich konnte mir sein Verschwinden nicht erklären. Nach einigen Wochen hatte ich ihn vergessen, denn als Kind macht man sich keine allzu große Gedanken. Der Religionsunterricht wurde für mich recht langweilig. Wahrscheinlich hatte Fräulein Flocken unrecht, als sie uns den lieben Gott als Greis mit grauem Bart beschrieb. Wenig später sah ich ihn jedoch zu meiner Überraschung wieder, als ich mit den Eltern und dem Bruder in den Saarner Auen spazieren ging. Ich sah ihn aus der Ferne. Er ging einen anderen Weg entlang und war zu einer anderen Zeit unterwegs. Leider war er von uns sehr weit entfernt. Zu einer unmittelbaren Begegnung sollte es leider nicht mehr kommen.
Die Mutter konnte sich erst an ihn erinnern, als sie einmal in einer Sonntagszeitung herumblätterte. Sie tippte dort auf ein Bild und hielt es mir plötzlich vor die Nase. Ich sah darauf einen alten Mann vor einem alten Haus stehen: Es war der liebe Gott, den ich dort sah! Er stand vor dem gleichen Haus, wo ich ihn zuletzt mit Gabi gesehen hatte. Ich freute mich, dass über ihn berichtet wurde! Die Mutter fragte mich, ob das der liebe Gott sei, von dem ich ihr erzählt habe? Als ich nickte, las sie mir den Text vor, der unter dem Bild stand:
"Der weltberühmte Bildhauer, Maler und Graphiker Otto Pankok - in seiner beeindruckenden Würde ein wenig wie Gottvater aussehend - auf einem Besuch vor seinem Geburtshaus in Saarn. Am 6. Juni 1893 wurde er dort als drittes Kind des Landarztes Eduard Pankok in Saarn bei Mülheim geboren. In wenigen Tagen feiert die Stadt den 70. Geburtstag ihres berühmtesten Sohnes. Der Künstler ist nach wie vor ´ene Saarnsche´, wie er selbst zu sagen pflegt, und fühlt sich sehr stark mit dem Haus in Saarn verbunden. Der Familie Pankok gehört es schon seit vielen Jahren . . . " .
Dann hörte die Mutter zu lesen auf, und sie schaute mich sehr mitleidig an. Ich konnte es nicht glauben, aber der Greis mit dem grauen Bart war gar nicht der liebe Gott, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, so wie die Mutter, die sich täglich um mich kümmerte! Du hast dich nur geirrt, aber das ist doch menschlich, sagte sie, um mich zu trösten. Er war nur ein Künstler, der jedoch viele seiner Werke den Verarmten und Ausgestoßenen widmete, insbesondere den Zigeunern, die er in den Mittelpunkt seines Schaffens stellte. Zeitweilig hatte er sogar mit ihnen zusammengelebt. Er war mit ihnen auf Reisen gegangen. Ich erkannte ihn als freundlichen und liebenswerten Menschen. In den wenigen Momenten, in denen ich ihn sah, hatte er mich wegen seiner gütigen Augen fasziniert. Er ging nie mit einen Menschen spazieren - nur sein Hund war ein treuer Begleiter.

Aus den Kindheitserinnerungen eines Mannes, die unter dem Titel "Auf beiden Seiten" vorbereitet werden.

Copyright by Gerd Stargard


Einstell-Datum: 2010-06-24

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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