Auf dem karierten Blatt führte ich unter der Überschrift der Vorlesung sorgfältig aus:
Day after day love turns grey
Like the skin of a dying man.
In der rechten Ecke machte sich eine tragische schwarze Zeichnung eines toten Baumes breit, der mit seinen kahlen Ästen, zugegeben, einem abgefallenen Affenbrotbaum ähnelte. Als den Lektor unerwartet ein spärlicher verschlafener Applaus ereilte, befand sich das nächste Meisterwerk in meinem Heft auf seinem Höhepunkt. Ich ging gerade dazu über meinen Text kunstvoll fortzuführen:
Night after night we pretend it’s alright
But I have grown older and you have grown colder
And nothing is very much fun anymore…
Ich erinnerte mich nicht genau wer eigentlich älter und wer gleichgültiger geworden war, so dass ich die Vollendung des Werks auf das nächste Seminar verschob, und als einer der Letzten das Auditorium verließ.
Jan wartete schon auf mich neben dem Kopiergerät für unseren unabänderlichen Gang in den Speisesaal. Wir gingen dahin, ich betrachtete mir die Tannenbäume vor dem Hintergrund eines graumatten Himmels, und wischte mir hin und wieder Tropfen aus dem Gesicht, die von oben geflogen kamen. Jan hatte, außer einem Schnupfen, Schwierigkeiten bei der Regelung eines Wechsels von seiner Universität irgendwo in Deutschland nach Frankreich. Er wollte dahin, weil auch seine Freundin nach Paris fuhr, die in Prag ein Stipendium für ein Jahr an der Sorbonne gewonnen hatte. Ich nickte, er redete, und während dieser Gespräche kamen wir an die Reihe, bezahlten, und setzten uns sogar an einen Tisch. Dann beklagte ich mich darüber, dass es in diesem Sommer unmöglich sein wird zu zelten, und beim Kompott unterhielten wir uns schon über Musik. Ich zeigte die neue CD von Marilyn Manson hervor, die ich von einem Mitstudenten bekommen hatte, und es wurde beschlossen sie bei Jan anzuhören, der großspurig fünf Minuten Fußmarsch entfernt in einem zerlumpten Zimmer im sechsten Stock des Hauptgebäudes der Universität wohnte.
Wir tranken in Tassen aufgebrühten Tee und lauschten zerstreut dem Gezeter des Schock-Rockers.
„Er hat bestimmt Tabletten genommen, als er das geschrieben hat.“ (Trotz allem ist der deutsche Akzent äußerst drollig.)
„Ja, kann sein. Überhaupt ist er so ein boshaftes Onkelchen … Und hast du schon mal solche Teile gegessen?“
Er verstand was mit Teile gemeint war, immerhin lebte er schon sieben Monate in Russland.
„Ich habe zweimal … nein, einmal probiert. By the way, ich hab grad welche da…“
„Wo hast du sie hier her!?“ - ich verschluckte gar ein Teeblatt vor Verwunderung. (trotz allem ist Jan ein ungewöhnlicher Deutscher.)
„Hier war ein Usbeke. Und als er weggefahren ist, hat er sie mir da gelassen.“
„Und hat er dir gesagt wie sie wirken?“
„Hat er. Du isst drei Tabletten, wartest zwanzig Minuten, und es beginnen, wie sagt man … hallucinations. Man darf sich nur nicht viel bewegen, dann lässt der Effekt nach.“
Ich schaute zum Fenster. Dann auf meine Schuhe. Ich sah in die Tasse hinein. Und mein Entschluss stand fest.
„Los, gib her! Es gibt eh nichts zu tun...“
„Machst du Witze, oder was?“ Jan langte in den Schrank und warf die Packung auf den Tisch. Ich studierte die unklaren Zeichen auf der Rückseite.
„Ich esse drei. Kann ich?“ Ich richtete den Blick auf den Deutschen. Er fing an zu lachen und schüttelte sich:
„Na los!“
Ich nahm drei kleine weiße Dingerchen heraus in meine Handfläche. Mit der anderen Hand füllte ich die Tasse mit Wasser auf. Toitoitoi, warf ich sie ein und trank nach. Nach ungefähr einer halben Stunde antwortete ich Jan, dass man ihn betrogen hatte: ich merkte sicher nichts. Wir spekulierten noch über den Grund der Niederträchtigkeit des Usbeken: sei es Nation oder Individuum, und gingen getrennter Wege. Jan begab sich ins Internetcafe, und ich verließ das Hauptgebäude, ging zum Lehrgebäude, kaufte Wasser, und machte mich auf den Weg in mein Wohnheim.
Durch die von tausenden Beinpaaren unserer Wissenschaftselite zertrampelte Allee schritt ich ohne Eile dahin, im Kopf zum hundertsten Mal „Comfortable Numb“ mit verschiedenen Stimmen singend. „Bequeme Erstarrung“ wechselte zu Nervosität als vor mir lange glutrote Rosen in raschelndem und gesäumtem Polyethylen auftauchten mitsamt zugleich dem Besitzer des Straußes. Im letzten Jahr war das Toschik – ein Freund meiner Julka, und gleichzeitig meiner, doch in den letzten fünf Monaten – Guschin, der neue Freund von Julia Andrejewna Romaschenko, der jungen Lehrerin für Erstsemestler. Im Gehen tauschten wir einen Händedruck aus, und aus Reflex lobte ich die Blumen. Ich verlor wohl völlig meinen Glanz bei solchen Aufeinandertreffen. Obwohl Guschin nett war: einmal schenkte er mir eine Dur-Mundharmonika “Charkyv”, und manchmal kaufte er meiner Julka teure Zigaretten. Doch schon fast ein halbes Jahr lang, sozusagen auf meine Initiative hin, hat sie mein Zimmer verlassen, in welchem, mich dabei mitreißend, ein neuer Mitbewohner einem ausgelassenem Studentenleben frönte. Man hätte Guschin sagen müssen, dass sie Blumen nicht mag. Diesen uneindeutigen Fakt erfuhr ich schon vor zwei Jahren, auf der buntesten Etappe unseres Beziehungsflirts. Da hatte noch niemand gedacht, dass wir eineinhalb Jahre zusammen verleben. Und ich hab ihr während der ganzen Zeit nicht ein einziges Blümchen geschenkt, vielleicht mal eine Gynura in einem Topf, und auch die eher mir selbst. Und vielleicht mochte sie Blumen ja deshalb nicht, weil ich ihr keine schenkte, denn sie sagte, dass es nicht lohnt, und ich hab es mir so leicht gemacht. Und die Gynura, die mir geblieben war, hat eine Nachbarin verfaulen lassen.
Meine Gedanken brachen ab, weil ich vor mir einen bekannten Rücken, Miniaturhandtasche, und abgewetzte Jeans bemerkte. Olja ging graziös, rote Locken wehten aufflammend vor dem Hintergrund der hinter einem Hot-Dog-Zelt untergehenden Sonne. Gleich nach der Vertreibung von Romaschenko war ich mit ihr zusammen. Nach einem Monat trennten wir uns wieder, weil „es unmöglich ist, mit einem Mann zusammen zu sein, der dich durch das Prisma einer anderen Frau betrachtet.“ Diesen ihren Satz hatte ich mir gemerkt, weil es die Wahrheit war. Als ich sie eingeholt hatte, schlich ich mich von hinten an, griff ihr an die Schultern und sagte: „Bu!“. Sie erschrak, alle waren zufrieden, und, uns daran erinnernd, wie es uns gefallen hatte zusammen spazieren zu gehen, machten wir uns zu fuß auf den Weg in unser Haus der Studenten. Der Weg nahm zwar eine halbe Stunde in Anspruch, doch die Zeit verflog so schnell, dass beschlossen wurde, die Metro öfter außen vor zu lassen. „Wie schön wäre es, wenn die Lokführer die Passagiere anstatt der stickigen Fahrt dazu einladen würden, einen solchen Spaziergang zu machen.“ – stellte sie klar.
Wir zogen das Thema weiter ins Absurde, und lachten, das Gebäude betretend, aufrichtig, als mein zweifellos funkelnder Blick auf das kesse Lächeln der laut lachenden Julka traf. Guschin und sie saßen auf einer Bank, und warteten darauf, dass sie im Ausweiskontrollbüro an die Reihe kamen. Mein Herz fing an zu hämmern, der Atem stockte. Sofort drehte ich meinen Kopf zur entgegen gesetzten Seite und stieß mit der Schulter an irgendeinen Koreaner. Ich entschuldigte mich nicht, und wenn er probiert hätte, etwas zu sagen, ich hätte ihn auf der Stelle erschlagen – so sehr zornig machte mich ihr freudiges Aussehen mitsamt diesen verteufelten Rosen auf ihren Knien. Meine gerade noch da gewesene Gefährtin vergessend, ging ich schnell durch zu den Fahrstühlen, und lehnte mich in Erwartung, dass einer kommt, an die abgescheuerte Wand.
Ich fühlte, dass meine Beine zitterten, nein, ich zitterte überall, und der Hass mit einem unerklärlichen Bündel aus Angst verschmelzend, wummerte in meiner linken Brust. Aller Wahrscheinlichkeit nach, vorausgesetzt die Abwesenheit von Polizei, Moral, und Gewissen – würde ich, nicht denkfähig, Guschin den Schädel zerschmettern, und mit seinen Beinen den Matsch aufwischen.
Angekommen auf meiner Etage, setzte ich mich auf den Heizkörper: ich armer, armer Tropf, so gern möchte ich herzlich und edelmütig sein, aber Pustekuchen. Welch eine Blume des Bösen war auf den ehemaligen Gefühlen der Freundschaft, Liebe, Gewohnheiten, und was sonst noch gewachsen. Ein paar Minuten Sitzen erlaubten mit durch den Flur zu schreiten, ich fühlte mich besser – die Wut floss aus meinem Körper ins Gehirn. Bald darauf klopfte ich an meine Zimmertür – mein Mitbewohner hatte aus irgendeinem Grund beschlossen abzuriegeln. Als er erfuhr, wer da ist, öffnete er, und ich drückte seine weiche, und darum unangenehme Hand.
„Ach, du.“ – sagte er mehr zu sich selbst. Eigentlich hatte er mich gern, und seine Kälte erklärte sich durch die Fülle an Denkprozessen, brodelnd im widersprüchlichen Bewusstsein des jungen Schriftstellers.
Mich Jacke und Rucksack entledigend, interessierte ich mich bei meiner Ankunft für Neuigkeiten in seinem Leben.
„Gut, dass du gekommen bist – ich bin selbst erst vor fünf Minuten rein.“ Aus seinem Rucksack zog er eine Flasche Wodka heraus und versperrte erneut die Zimmertür.
„Aha, mal was Neues.“ – stellte ich fest, so wie er es liebte in lauter Gesellschaft zu trinken, mit Pauken und Trompeten.
„Lass uns saufen, Mitbewohner!“ fasste er zusammen, und fing an furchterregend zu lachen.
„Was soll das denn?“ – ich schob ein paar übelriechende Turnschuhe unters Bett, schleuderte Knäuel schwarzer Socken hinterher, und nahm eine Zuhörerpose ein. Slavik rüstete mich mit einem Gläschen „Bogorodskaja“ aus. Ohne Trinkspruch schmeckte es ekelhaft.
„Heute habe ich Marinotschka mit irgendeinem Ami gesehen. Sie hat ihn derart angelächelt, dass ich bereit war, ihn zu töten!“ – er nahm die Brille ab und sprang auf, um durchs Zimmer zu spazieren – „Mich lächelt sie SO nicht an!“
„Nun ja, Menschen höherer Rasse verdienen das Beste.“ – ich sah philosophisch gelassen aus. „Und überhaupt ist er Engländer.“
„Das ist mir scheißegal! Ich schlag das Luder tot! – er saß und fing wieder an zu lachen.
„Ihn oder Marinotschka?“ scherzte ich boshaft.
„Ihn! Beide! Alle! Keine Ahnung … niemanden. Aber ich hasse es schon fast.“ – er schenkte mir das zweite Glas aus.
„Auf den Zusammenbruch Amerikas!“ – wir tranken, ich zog den Schuh aus, um den „Bogorodskaja“ riechen zu können – „Was hat sie dir getan? Sie hat ihr eigenes Leben. Und wenn du ein Teil von ihrem Leben werden möchtest, müsstest du sie zu einem Spaziergang einladen, und dann, in irgendeinem wahnsinnig blendenden Mondenschein, würdest du deine Gedichte vorlesen. Die sind doch schön geworden: Alle langweilen mich, alle … ähmm … ja genau:
Was in allen unpersönlichen Frühlingen
War es mir nicht so hell.
Wichtig ist die richtige Saison! Es ist doch Mai! Du Blödmann, lies ihr Gedichte vor, es ist nicht notwendig jemanden umzubringen. Umarme deinen Feind. Flechte Feldkamille in sein Haar. Wir sind für Inspiration geboren, für süße Töne und all so was. Da, Fedor Michalytsch sieht das genauso wie ich.“ – ich schielte auf das über meinem Bett an der Decke festgeklebte Plakat von Dostojewski – ein Geschenk aus St. Petersburg von Julka. Es war ihr letztes, verspätetes, und deshalb erhielt ich es in einiger Verlegenheit. Schon wieder sie! Slavik begann etwas einzuwenden, aber ich hatte schon aufgehört zuzuhören.
Also, Guschin hat ihr zur fälligen Bestnote für irgendeine Prüfung gratuliert, sie kamen im Wohnheim an, und haben sich in ihr Zimmer eingeschlossen. Sie schneidet die Blumenstiele ab, zieht jetzt ihre einst aus meinen Jeans gemachte Kniehosen an, weil „Julka, sie sind neu, aber mir zu klein, los trag du sie!“ Und dann hebt er mit seinen Zeigefingern ihr T-Shirt hoch, beginnt ihren Rücken zu streicheln, ihre gebräunte, straffe Haut berührend, und sie schließt die Augen und schiebt ihre harten Lippen mit dem winzigen Leberfleck auf der linken Seite dichter heran. Und dann machen sie Liebe, so, dass die Nachbarn das hölzerne Knarren des neuen Betts hören können. Ja, meine Julka ist am schlanksten und liebsten. Sex – die einzige Zeit wenn wir nicht gestritten haben…
„Auf echte Männer!“ – ertönte plötzlich ein Trinkspruch. Dumpf klirrten die Schnapsgläser aneinander, Slavik verschluckte sich und sagte ein unschönes Wort. Ich goss gleich noch mal ein.
„Auf Fedor Michalytsch. Mir kommt es so vor, als ob er Alles besser weiß als wir.“
Wir tranken aus und fingen an zu schweigen.
„Ich habe Guschin getroffen als er mit Blumen in die Uni gegangen ist,“ – ich nutzte die Pause im Gespräch – „besonders sympathisch fand ich ihn nicht, ehrlich gesagt.“
„Ja, ja. Ich bin ihm bei der Metro über den Weg gelaufen, wir haben ein bisschen geschwatzt. Romaschenko hat doch die Russisch für Ausländer – Prüfung mit Bestnote abgelegt, da hat er beschlossen ihr eine Freude zu machen.“
„Nun ja, nicht schwer die Noten von Romaschenki zu erraten.“ – aus irgendeinem Grund deklinierte ich ihren Familiennamen.
„Sie hat ihm eine SMS geschickt. Sie legen ihre Prüfungen vor der Frist ab und fahren zu ihr nach Noworossisk.“
„Ich war dreimal da bei ihr. Es ist gut da. Auf Nachrichten von mir antwortet sie nicht.“
„Ehrlich gesagt, mein Freundchen, ist das nicht verwunderlich.“ – Slavik lachte laut. „Schau doch, er benimmt sich ihr gegenüber bei weitem besser als du zu deiner Zeit.“
„Das sehe ich.“ – wegen seines Angriffs ging mir der fünfte so schlecht herunter, dass ich husten musste. – „Aber er hat nicht mit ihr zusammen gewohnt, und dazu kommt, dass Moskauer mehr Geld haben – gib zu, es ist einfacher für sie, sich gut zu benehmen.“
„Und wie haben dir die Rosen gefallen? Ich habe ihm beim Auswählen geholfen.“
Ich fühlte, dass er sich lustig machte.
„Rosen, Rosen eben. Normale Rosen.“ – ich war teils böse, teils gekränkt ob seiner niederträchtigen Art der Anteilnahme, und verlor die Lust noch irgendwas zu erzählen.
„Und jetzt kommen sie her, und werden sich ein paar Wände von hier entfernt lieben.“ – Slavik stand verträumt am Fenster und schaute auf die Baustelle. – „Ein Regenschauer. Und dann spannt Anton über ihrem Kopf einen Regenschirm auf, und sie gehen gemeinsamen die Fahrkarten kaufen.“
„Aha, wie Marinotschka mir ihrem … händchenhaltend unterm Regenschirm von der neuen Komödie über irgendwelche glücklich Verliebten.“
Ich schaute zum Fenster. Dort pfiff der Wind und peitschte das Wasser ans Glas und an den Fenstersims.
„Und diese Schurken sind schon da. Ich hab mir schon vorgestellt, wie sie grünen Tee trinken, Pink Floyd einschalten…“
„…und langsam anfangen zu tanzen. Sie wird ihn küssen, und er, in ihrem Kuss versinkend, wird langsam ihre Jeans aufknöpfen.“ – übernahm Slavik.
„Nein, Kniehosen. Meine, übrigens.“ – ich goss randvoll ein und stellte die leere Flasche weg.
„Na und was? Wie deine? Als du mit ihr Schluss gemacht hast und auch noch anfingst mit ihrer Mitbewohnerin anzubändeln, hat die doch dein T-Shirt und deine Hosen angehabt. Ist das denn normal? Und die gehen doch auf dieselbe Toilette und Dusche.“
„Das T-Shirt hat mir Julka übrigens im Second Hand gekauft.“ – Ich war genötigt nervös zu lachen und reichte ihm das Glas hinüber. – „Das war nicht so gut.“
„Ich habe erstmal genug. Ich geh mal raus schauen was sich auf dem Flur tut.“ Er ging hinaus, und durch die Tür hallte ein verwegenes Lied.
Nachdem ich noch zehn Minuten so dagesessen hatte, trank ich beide Gläser Stück für Stück aus. Ich verstand, dass ich völlig betrunken war, als das Anziehen der Pantoffeln, und ein banaler Gang auf die Toilette fürs kleine Geschäft, sich als ein sehr ausgeklügeltes Unternehmen für mein Gleichgewichtsorgan erwiesen. Ich zerbrach das brüchige Wasserablaufsystem, begann es ungeschickt zu reparieren, und kam auf die Idee, dass das Klosettbecken als existenzielle Einheit auch nicht ganz so einfach ist.
Sogar ein innerer Aufstand, und zwar gespült, rettet es nicht allein vor fremder Scheiße, sondern, mehr noch, eröffnet das unannehmbare, fremde Innere seiner unsichtbaren Intimwelt. Ja und was ist das für ein Aufstand, wenn es den Griff nicht selbst betätigt, sondern diejenigen, deren Hintern es ein paar Mal täglich sieht. Ich legte das dem Klosettbecken in Thesenform dar, und dieses schaute mich, den Glanz des Lichts in einem kleinen Perlchen auf der schwarzen Kugel am Griff reflektierend, aufmerksam an und rieselte traurig vor sich hin. Es entgegnete mir damit, dass sich das Wasser von unten aufzufüllen begann. Da verlor ich jegliches Mitgefühl mit ihm und schlug den von unten kommenden Aufstand mittels der Klobürste nieder.
Die Naturkraft unterdrückend ging ich hinaus und schaffte es nicht mal den Meuterer zu verriegeln, als aus dem Zimmer gegenüber ein weiterer Nachbar herausstürzte, mit Bier und Gitarre in den Händen. Freundlich kam er zu mir und schaute mich an.
„Ich sag dir eins ehrlich. Ohne Quatsch. Du tust mir leid, Kleiner.“
„Was? Wieso?“
„Weißt du, wem du ähnelst? Diesem Kater, … wie heißt er noch gleich …, mit dem Halsband. Eigentlich schön, aber irgendwie auch, unangebracht.“ Geschickt küsste er auf die Ärmel meines T-Shirts und blickte mich ganz gerührt an.
Ich klopfte ihm auf die Schulter, und ging, mich an der Wand festhaltend, zu mir. Ich ließ mich aufs Bett plumpsen und schaute an die Decke, genauer gesagt, in die dunklen Augen von Fedor Michalytsch. Streng sah er mich an, und sein ganzes Bildnis strahlte vor gequälter Weisheit, einschließlich der raren, auf die Glatze geschmierten Strähnen, und des Barts in der Form eines Küchenbretts. Gern hätte ich eine Offenbarung von ihm gerade über mich gehört, aber er schwieg mürrisch, und gab so zu verstehen, dass Alles gesagt ist, und man bloß seine Bücher aufzuschlagen braucht. Ohne zu zwinkern schwebte er unangenehm grell zum Lampenschirm, und brachte es fertig gleichzeitig an seinem Platz zu bleiben aber auch Kreise zu beschreiben. Ich wurde mir bewusst, dass wenn ich jetzt nicht spazieren gehe, ich mich erbrechen muss. Irgendwie zog ich die Jacke an, stellte mit Mühe fest, dass es 23 Uhr war, wobei ich einige Male den Wecker umwarf, und begab mich in die betrunkene, raue Herausforderung der Nacht.
Als ich unter den Signalen der Autos die Straße überquerte, zeigten die bangen Fußgänger an der Ampel unanständig mit Fingern auf mich. Plötzlich stolperte ich über einen unerwartet glatten Bordstein, fiel, und hielt mich, mit den Armen rudernd, an etwas Weichem fest. Es war der Rücken eines schmutzigen Gehrocks, als dessen Eigentümer sich ein bärtiger Obdachloser erwies.
„Verzeihung!“ – sagte ich gedehnt, und fand gleichzeitig mit meinen Füßen halt auf dem Gehweg. Mit schwerem Blick sah er mich an und wischte sich dort ab, wo meine Hände ihn berührt hatten. Vielleicht ist es ja, dachte ich jetzt, der Allwissende, eine Art sakraler Unbekannter, Zar Melchibdesek, oder wie der hieß, oder sogar der neugeborene Fedor Michalytsch, der erschienen war, um Antwort auf meine Fragen zu geben. Inzwischen war es dem Unbekannten gelungen, sich anständig zu entfernen. Ich schaltete den dritten Gang ein, holte ihn ein, und fragte gerade heraus.
„Entschuldigen Sie bitte, aber wissen Sie nicht, worin der Sinn des Lebens besteht?“ - sein Blick machte mir die Blödheit der Frage bewusst, weshalb ich hinzufügte: - „Ihres Lebens?“
„Der Sinn meines Lebens,“ – holte er langsam aus – „liegt in der Frau, die ich liebe.“ – hier sträubte sich sein Bart ein wenig – „Und überhaupt ist das eine dumme Frage.“
„Ja klar, dass sie dumm ist, aber …“ – ich war entschlossen nicht aufzugeben, doch:
„Sie sind nicht Pilatus, und ich bin nicht Jesus, damit wir solche Dialoge führen könnten.“
Der Philologe in mir frohlockte. Der Obdachlose hängte sich die Tasche richtig um die Schulter.
„Wissen Sie, es gibt da einen Schriftsteller, Michail(freudig nickte ich) … Michail Afanasjewitsch(ich nickte) Bulgakow. Er hat den Roman Der Meister und Margarita geschrieben(ich erinnerte mich an den Tölpel). Das erste Kapitel trägt den Titel Unterhalten Sie sich nie mit Unbekannten. Auf Wiedersehen!“ Er drehte sich um und machte sich auf den Weg zur Metro.
Ich ließ die gesamte Episode in Gedanken noch einmal durchlaufen, und entdeckte, dass die Hälfte des Dialoges irgendwohin verschwunden war, und die Worte sich in nichts Zusammenhängendes bringen ließen. Ich musste noch etwas Wichtiges wissen – mit diesem Gedanken eilte ich ihm nach.
„Entschuldigen Sie,“ – trotz allem sind Studenten sehr intelligent. „Und wenn ich keine Frau habe, die ich liebe, hat mein Leben dann keinen Sinn?“ – eine, wie mir schien, äußerst missglückte Fragestellung.
„Das ist eine interessante Frage. Aber Sie sehen nicht besonders dumm aus, deshalb versuchen Sie doch selbst eine Antwort darauf zu finden.“ Wir näherten uns den Drehkreuzen. „Und merken Sie sich, sich niemals mit Unbekannten zu unterhalten.“ Mittels Karte ließ der Automat ihn durch. „Sie haben Glück gehabt.“
Ich kehrte nach draußen zurück, beschloss, dass ich der Natur bedurfte, und ging in den Park. Langsam ging ich durch eine leere Allee, schaute mal auf den im Schein der Laternen schwebenden, nassen Blütenstaub, mal auf die matten Lichtreflexe des Asphalts, und dachte über die geliebte Frau nach. Vor einem halben Jahr hatte ich sie verlassen, als ich beschloss, dass sie nicht die Frau ist, die ich liebe. Und sie weinte die ganze Zeit schrecklich, schlug sogar mit dem Kopf an die Wand, mein Gesicht mit einem außergewöhnlich unheimlichen, verzweifelten Blick bedenkend, der von fließenden und strömenden Tränen getrübt war. Ich setzte die Kopfhörer auf, drückte auf Play, und Hirn zermarternde Trommeln, der Hass der Gitarre, und die Agonie von Manson, brachen über mich herein.
Fuck you because I loved you
Fuck you for loving you too
I don’t need а reason to
Hate you the way I DO!
Als die Sologitarre kam brach Alles ab – die Batterien waren alle.
„Ich brauche keine Gründe, um dich zu hassen.“ Das zwang mich, mein Nachdenken zu vertiefen. Wenn er sagt, dass I Fuck you dafür, dass wir uns liebten, dann hat er zum Teufel noch mal recht, diesen verbotenen Gedanken in Worte fassend. Der Obdachlose sagt, dass sie der Sinn des Lebens ist. Manson hasst sie, und ich, summa summarum, hasste meinen Sinn des Lebens, vor dem ich schändlich davongelaufen war…
Es kam mir jemand entgegen, und mir wurde bange. Schritte und Stimmen. Ich hielt an, schaute mich um, und sah wie die Sträucher den Bäumen irgendetwas sagten, die daraufhin verneinend die dunklen Wipfel schüttelten. Die Apfelsinen der Laternen beleuchteten schweigend den Weg. Von weit her war eine weibliche Stimme vernehmbar, und ich beruhigte mich wieder ein bisschen: ein Pärchen, die ihren Spaziergang besser zelebrierten, als ein paar Physiker, die sich ihren Weg bahnten zu der längst überflüssigen nächsten Wodkaflasche. Ich ging vorwärts, mich bemühend, Zuversicht zu verkörpern. Aus der Dunkelheit lösten sich die Silhouetten von zwei Menschen heraus, die sich an den Händen hielten, und deshalb dem Buchstaben M ähnelten. Julka und ich liebten es auch so hier nachts spazieren zu gehen. Wie staunte ich, als sie und Guschin neben mir vorbei schritten.
Das war zu viel – ich lief fast an ihnen vorbei und hielt an um zu denken. Ich war betrunken, ich hasste, wie Eltern den Mörder ihrer Kinder hassen, das war das einzige, was sich in meinem Kopf ausbreitete. Es schüttelte und rüttelte mich so sehr, dass sogar meine Gedanken verschwanden, und das Herz zuckte mit einer Kraft, dass ich gezwungen war, mir an die Brust zu fassen. Den Player in meiner Tasche zusammendrückend, drehte ich mich um und erkannte sie. Sie bogen vom Weg ab, und blieben fünfzig Schritte vor mir schweigend und Händchen haltend stehen: ihre Hand, an einem winters leichten Ekzem leidend, in der verschwitzten Handfläche dieses Ziegenbocks, ähnlich eines Geiers Missgeburt, einem garstigen Verlierer.
„Ich schlag das Luder tot!“ – schrie ich beinahe laut und stürzte mich ihnen entgegen. Sie zuckten zusammen, wichen aber nicht zurück. Ich holte aus bis meine Schulter schmerzte und schmiss den Player. Dieser, in der Luft aufblitzend, traf Guschin kräftig am Rücken, und flog auseinander, polternd in seine Einzelteile auf die Steine. Ich lief an den Bruchstücken vorbei und versuchte aus dem Lauf heraus den Halunken ins Gesicht zu schlagen. Ich verfehlte das Ziel, fiel fast selbst hin, schaffte es aber ihn am Kragen zu packen, und schleuderte ihn auf die Erde. Er tat einen Sprung auf alle viere, die Brille flog herunter, er schlug ins nasse Gras, und aus seiner verwachsenen Nase floss Blut. Unterm Turnschuh knirschte es, die Vergoldung blitzte auf, das war die Brillenfassung. Ich muss noch schmerzhafter schlagen! Ich trat ihm mit dem Fuß ins Gesicht. Romaschenko fing an zu schreien. Ich drehte mich zu ihr um und schaute in ihre Augen. Scheußliche, geliebte, widerwärtige Augen. Sie setzte sich für den ein, den sie vor zehn Sekunden noch an der Hand gehalten hatte, zu sich ins Zimmer geführt hatte, von wo die Mitbewohnerin mit dem Nachtzug zu ihrem Freund gefahren war. Sie holte aus, ich schlug ihr mit der Handfläche auf die Wange, dahin, an die Stelle, wo sich ein Kreis bildete, wenn sie lächelte. Sie schüttelte den Kopf, doch ich erwischte sie an der Gurgel, und stürzte mit ihr auf den Boden. Ich warf einen Blick auf Guschin – er rührte sich nicht. Ich riss die Tasche von Romaschenko herunter und warf sie zu ihm. Die Tasche fiel auf einen Stein, klirrte, die Flasche darin war zerbrochen. Ein unerwarteter Schlag ins Gesicht schallte in meinen Ohren, ich schlug noch einmal so in die Dunkelheit, dass die Gelenke krachten, und heulte auf.
Ich vergewaltigte Romaschenko. Gedankenlos, ohne Mitgefühl, keuchend, die letzten Kräfte verlierend. Im letzten Frühling hatten wir einmal etwas Ähnliches getan, als wir beide betrunken waren. Sie versuchte zu schreien, ich verstopfte ihr den Mund, sie fing an zu röcheln, ich presste ihre Kehle zusammen, sie hörte auf sich zu wehren, ich lockerte meinen Griff, sie weinte, und es weinte ich. Ich küsste sie unendlich leidenschaftlich, entschuldigte mich, bedauerte, schluchzte, und liebte meine Julka aufs Neue. Zum Ende hin wurde mir übel. Im Radio sagen sie, dass der Seestern seinen Magen von innen zur Außenseite umstülpen kann. Ich fühlte mich wie der wahrhaftigste Seestern. Ich kotzte, kotzte, und kotzte, Krampf um Krampf, quälend lange…
Es war nass und kalt. Die Vögel zwitscherten. Die Augen öffnend erblickte ich Gras. Ich setzte mich auf den Hintern: Der Tag brach an, und der Himmel war grau, und gemächlich ballten sich an ihm fast schwarze Riesenwolken. Es blendete der gewaltige Scheinwerfer der Baustelle, dem faulen Kran helfend, seinen Ausleger zu bewegen. Das war der Park neben dem Wohnheim. Trotz allem sind die Usbeken ein Volk das Wort hält! Und dann noch „Bogorodskaja“. Wie konnte ich vergessen, dass Tabletten und Alkohol sich nicht vertragen, wo sogar die allerletzten Drogensüchtigen nur das eine, oder das andere benutzen. Das hatte mich fertig gemacht. Und wir werden nebeneinander liegen wie zwei Seesterne. Ich war abgekühlt und erstarrte mit einem Seufzer, mich erinnernd, dass es nachts war. Sie waren nicht zu sehen, waren schon lange fortgegangen, haben die Polizei gerufen – das war es dann wohl. Mit Mühe, die Schmerzen in den Knien überwindend, stellte ich mich auf die Beine und schaute an mir herunter: meine Wange schmerzte, an meiner Hand war mit Schmutz vermischtes Blut geronnen, an Ärmel und Schuhen waren Flecken getrockneten Speichels. Ich beschloss mich auf die kleine Schaukel zu setzen, die irgendein Vandale beschädigt hatte. Auf dem Weg dahin hob ich die weiße CD und gleich auch den zerbrochenen Player auf, was mir Übelkeit bereitete. Die Schaukel selbst war teilweise voller Erbrochenem, und das Gras und die Steine rund herum glichen einem bunten Mosaik. Es war offensichtlich, dass diese Freudenquelle für Kinder vor noch nicht allzu langer Zeit herausgezerrt und bekotzt wurde. So wie an die Schaukel, konnte ich mich nicht an alles erinnern, und musste mir eingestehen, dass ich sie danach ausgerottet hatte. Ich bekann ein paar Klettenblätter aufzusammeln, um mich zu putzen, und fast wäre mir wieder schlecht geworden. Der Krampf war von solch einer Stärke, dass ich mich aufstützen wollte, wobei ich mich fast an der zerbrochenen grünen Flasche schnitt. Unkraut von Hose und Jacke entfernend, schaute ich mich kurz um, und verließ schlurfend, die festen, widerwärtigen Fäden ausspuckend, vorsichtig mein zufälliges Lager.
Ich ging in Richtung Stadt und überquerte gerade die Straße, als ich die mir entgegen kommenden Romaschenko und Guschin erblickte, so dass ich ein wenig zur Seite hin abbremste. An beiden war erkennbar, dass morgendlicher Sex eine nützliche Sache ist. Guschins Brillenfassung, die ich vor kurzem mit meinem Fuß zerquetscht hatte, funkelte beleidigend in ihrer Vergoldung, und sie hielt seine Finger und erzählte irgendetwas übermäßig laut über irgendwelche ihrer Schüler. Ich schaute hinterher, mal auf ihren hin und her wiegenden Hintern, mal auf die Hand, die eine Zigarette schwenkte, mal auf Guschins Buckel.
Sie ähneln einer Schaukel, kam mir in den Sinn, doch jemand machte sich bemerkbar, weil Grün erlosch, und wenn so etwas passiert, muss man den Weg räumen. „Comfortably Numb“ ertönte in meinem Kopf, und mit Übelkeitsanfällen kämpfend, dazu noch mit Schluckauf, stampfte ich nach Hause…
J.Krementzow 2004
Day after day love turns grey
Like the skin of a dying man.
In der rechten Ecke machte sich eine tragische schwarze Zeichnung eines toten Baumes breit, der mit seinen kahlen Ästen, zugegeben, einem abgefallenen Affenbrotbaum ähnelte. Als den Lektor unerwartet ein spärlicher verschlafener Applaus ereilte, befand sich das nächste Meisterwerk in meinem Heft auf seinem Höhepunkt. Ich ging gerade dazu über meinen Text kunstvoll fortzuführen:
Night after night we pretend it’s alright
But I have grown older and you have grown colder
And nothing is very much fun anymore…
Ich erinnerte mich nicht genau wer eigentlich älter und wer gleichgültiger geworden war, so dass ich die Vollendung des Werks auf das nächste Seminar verschob, und als einer der Letzten das Auditorium verließ.
Jan wartete schon auf mich neben dem Kopiergerät für unseren unabänderlichen Gang in den Speisesaal. Wir gingen dahin, ich betrachtete mir die Tannenbäume vor dem Hintergrund eines graumatten Himmels, und wischte mir hin und wieder Tropfen aus dem Gesicht, die von oben geflogen kamen. Jan hatte, außer einem Schnupfen, Schwierigkeiten bei der Regelung eines Wechsels von seiner Universität irgendwo in Deutschland nach Frankreich. Er wollte dahin, weil auch seine Freundin nach Paris fuhr, die in Prag ein Stipendium für ein Jahr an der Sorbonne gewonnen hatte. Ich nickte, er redete, und während dieser Gespräche kamen wir an die Reihe, bezahlten, und setzten uns sogar an einen Tisch. Dann beklagte ich mich darüber, dass es in diesem Sommer unmöglich sein wird zu zelten, und beim Kompott unterhielten wir uns schon über Musik. Ich zeigte die neue CD von Marilyn Manson hervor, die ich von einem Mitstudenten bekommen hatte, und es wurde beschlossen sie bei Jan anzuhören, der großspurig fünf Minuten Fußmarsch entfernt in einem zerlumpten Zimmer im sechsten Stock des Hauptgebäudes der Universität wohnte.
Wir tranken in Tassen aufgebrühten Tee und lauschten zerstreut dem Gezeter des Schock-Rockers.
„Er hat bestimmt Tabletten genommen, als er das geschrieben hat.“ (Trotz allem ist der deutsche Akzent äußerst drollig.)
„Ja, kann sein. Überhaupt ist er so ein boshaftes Onkelchen … Und hast du schon mal solche Teile gegessen?“
Er verstand was mit Teile gemeint war, immerhin lebte er schon sieben Monate in Russland.
„Ich habe zweimal … nein, einmal probiert. By the way, ich hab grad welche da…“
„Wo hast du sie hier her!?“ - ich verschluckte gar ein Teeblatt vor Verwunderung. (trotz allem ist Jan ein ungewöhnlicher Deutscher.)
„Hier war ein Usbeke. Und als er weggefahren ist, hat er sie mir da gelassen.“
„Und hat er dir gesagt wie sie wirken?“
„Hat er. Du isst drei Tabletten, wartest zwanzig Minuten, und es beginnen, wie sagt man … hallucinations. Man darf sich nur nicht viel bewegen, dann lässt der Effekt nach.“
Ich schaute zum Fenster. Dann auf meine Schuhe. Ich sah in die Tasse hinein. Und mein Entschluss stand fest.
„Los, gib her! Es gibt eh nichts zu tun...“
„Machst du Witze, oder was?“ Jan langte in den Schrank und warf die Packung auf den Tisch. Ich studierte die unklaren Zeichen auf der Rückseite.
„Ich esse drei. Kann ich?“ Ich richtete den Blick auf den Deutschen. Er fing an zu lachen und schüttelte sich:
„Na los!“
Ich nahm drei kleine weiße Dingerchen heraus in meine Handfläche. Mit der anderen Hand füllte ich die Tasse mit Wasser auf. Toitoitoi, warf ich sie ein und trank nach. Nach ungefähr einer halben Stunde antwortete ich Jan, dass man ihn betrogen hatte: ich merkte sicher nichts. Wir spekulierten noch über den Grund der Niederträchtigkeit des Usbeken: sei es Nation oder Individuum, und gingen getrennter Wege. Jan begab sich ins Internetcafe, und ich verließ das Hauptgebäude, ging zum Lehrgebäude, kaufte Wasser, und machte mich auf den Weg in mein Wohnheim.
Durch die von tausenden Beinpaaren unserer Wissenschaftselite zertrampelte Allee schritt ich ohne Eile dahin, im Kopf zum hundertsten Mal „Comfortable Numb“ mit verschiedenen Stimmen singend. „Bequeme Erstarrung“ wechselte zu Nervosität als vor mir lange glutrote Rosen in raschelndem und gesäumtem Polyethylen auftauchten mitsamt zugleich dem Besitzer des Straußes. Im letzten Jahr war das Toschik – ein Freund meiner Julka, und gleichzeitig meiner, doch in den letzten fünf Monaten – Guschin, der neue Freund von Julia Andrejewna Romaschenko, der jungen Lehrerin für Erstsemestler. Im Gehen tauschten wir einen Händedruck aus, und aus Reflex lobte ich die Blumen. Ich verlor wohl völlig meinen Glanz bei solchen Aufeinandertreffen. Obwohl Guschin nett war: einmal schenkte er mir eine Dur-Mundharmonika “Charkyv”, und manchmal kaufte er meiner Julka teure Zigaretten. Doch schon fast ein halbes Jahr lang, sozusagen auf meine Initiative hin, hat sie mein Zimmer verlassen, in welchem, mich dabei mitreißend, ein neuer Mitbewohner einem ausgelassenem Studentenleben frönte. Man hätte Guschin sagen müssen, dass sie Blumen nicht mag. Diesen uneindeutigen Fakt erfuhr ich schon vor zwei Jahren, auf der buntesten Etappe unseres Beziehungsflirts. Da hatte noch niemand gedacht, dass wir eineinhalb Jahre zusammen verleben. Und ich hab ihr während der ganzen Zeit nicht ein einziges Blümchen geschenkt, vielleicht mal eine Gynura in einem Topf, und auch die eher mir selbst. Und vielleicht mochte sie Blumen ja deshalb nicht, weil ich ihr keine schenkte, denn sie sagte, dass es nicht lohnt, und ich hab es mir so leicht gemacht. Und die Gynura, die mir geblieben war, hat eine Nachbarin verfaulen lassen.
Meine Gedanken brachen ab, weil ich vor mir einen bekannten Rücken, Miniaturhandtasche, und abgewetzte Jeans bemerkte. Olja ging graziös, rote Locken wehten aufflammend vor dem Hintergrund der hinter einem Hot-Dog-Zelt untergehenden Sonne. Gleich nach der Vertreibung von Romaschenko war ich mit ihr zusammen. Nach einem Monat trennten wir uns wieder, weil „es unmöglich ist, mit einem Mann zusammen zu sein, der dich durch das Prisma einer anderen Frau betrachtet.“ Diesen ihren Satz hatte ich mir gemerkt, weil es die Wahrheit war. Als ich sie eingeholt hatte, schlich ich mich von hinten an, griff ihr an die Schultern und sagte: „Bu!“. Sie erschrak, alle waren zufrieden, und, uns daran erinnernd, wie es uns gefallen hatte zusammen spazieren zu gehen, machten wir uns zu fuß auf den Weg in unser Haus der Studenten. Der Weg nahm zwar eine halbe Stunde in Anspruch, doch die Zeit verflog so schnell, dass beschlossen wurde, die Metro öfter außen vor zu lassen. „Wie schön wäre es, wenn die Lokführer die Passagiere anstatt der stickigen Fahrt dazu einladen würden, einen solchen Spaziergang zu machen.“ – stellte sie klar.
Wir zogen das Thema weiter ins Absurde, und lachten, das Gebäude betretend, aufrichtig, als mein zweifellos funkelnder Blick auf das kesse Lächeln der laut lachenden Julka traf. Guschin und sie saßen auf einer Bank, und warteten darauf, dass sie im Ausweiskontrollbüro an die Reihe kamen. Mein Herz fing an zu hämmern, der Atem stockte. Sofort drehte ich meinen Kopf zur entgegen gesetzten Seite und stieß mit der Schulter an irgendeinen Koreaner. Ich entschuldigte mich nicht, und wenn er probiert hätte, etwas zu sagen, ich hätte ihn auf der Stelle erschlagen – so sehr zornig machte mich ihr freudiges Aussehen mitsamt diesen verteufelten Rosen auf ihren Knien. Meine gerade noch da gewesene Gefährtin vergessend, ging ich schnell durch zu den Fahrstühlen, und lehnte mich in Erwartung, dass einer kommt, an die abgescheuerte Wand.
Ich fühlte, dass meine Beine zitterten, nein, ich zitterte überall, und der Hass mit einem unerklärlichen Bündel aus Angst verschmelzend, wummerte in meiner linken Brust. Aller Wahrscheinlichkeit nach, vorausgesetzt die Abwesenheit von Polizei, Moral, und Gewissen – würde ich, nicht denkfähig, Guschin den Schädel zerschmettern, und mit seinen Beinen den Matsch aufwischen.
Angekommen auf meiner Etage, setzte ich mich auf den Heizkörper: ich armer, armer Tropf, so gern möchte ich herzlich und edelmütig sein, aber Pustekuchen. Welch eine Blume des Bösen war auf den ehemaligen Gefühlen der Freundschaft, Liebe, Gewohnheiten, und was sonst noch gewachsen. Ein paar Minuten Sitzen erlaubten mit durch den Flur zu schreiten, ich fühlte mich besser – die Wut floss aus meinem Körper ins Gehirn. Bald darauf klopfte ich an meine Zimmertür – mein Mitbewohner hatte aus irgendeinem Grund beschlossen abzuriegeln. Als er erfuhr, wer da ist, öffnete er, und ich drückte seine weiche, und darum unangenehme Hand.
„Ach, du.“ – sagte er mehr zu sich selbst. Eigentlich hatte er mich gern, und seine Kälte erklärte sich durch die Fülle an Denkprozessen, brodelnd im widersprüchlichen Bewusstsein des jungen Schriftstellers.
Mich Jacke und Rucksack entledigend, interessierte ich mich bei meiner Ankunft für Neuigkeiten in seinem Leben.
„Gut, dass du gekommen bist – ich bin selbst erst vor fünf Minuten rein.“ Aus seinem Rucksack zog er eine Flasche Wodka heraus und versperrte erneut die Zimmertür.
„Aha, mal was Neues.“ – stellte ich fest, so wie er es liebte in lauter Gesellschaft zu trinken, mit Pauken und Trompeten.
„Lass uns saufen, Mitbewohner!“ fasste er zusammen, und fing an furchterregend zu lachen.
„Was soll das denn?“ – ich schob ein paar übelriechende Turnschuhe unters Bett, schleuderte Knäuel schwarzer Socken hinterher, und nahm eine Zuhörerpose ein. Slavik rüstete mich mit einem Gläschen „Bogorodskaja“ aus. Ohne Trinkspruch schmeckte es ekelhaft.
„Heute habe ich Marinotschka mit irgendeinem Ami gesehen. Sie hat ihn derart angelächelt, dass ich bereit war, ihn zu töten!“ – er nahm die Brille ab und sprang auf, um durchs Zimmer zu spazieren – „Mich lächelt sie SO nicht an!“
„Nun ja, Menschen höherer Rasse verdienen das Beste.“ – ich sah philosophisch gelassen aus. „Und überhaupt ist er Engländer.“
„Das ist mir scheißegal! Ich schlag das Luder tot! – er saß und fing wieder an zu lachen.
„Ihn oder Marinotschka?“ scherzte ich boshaft.
„Ihn! Beide! Alle! Keine Ahnung … niemanden. Aber ich hasse es schon fast.“ – er schenkte mir das zweite Glas aus.
„Auf den Zusammenbruch Amerikas!“ – wir tranken, ich zog den Schuh aus, um den „Bogorodskaja“ riechen zu können – „Was hat sie dir getan? Sie hat ihr eigenes Leben. Und wenn du ein Teil von ihrem Leben werden möchtest, müsstest du sie zu einem Spaziergang einladen, und dann, in irgendeinem wahnsinnig blendenden Mondenschein, würdest du deine Gedichte vorlesen. Die sind doch schön geworden: Alle langweilen mich, alle … ähmm … ja genau:
Was in allen unpersönlichen Frühlingen
War es mir nicht so hell.
Wichtig ist die richtige Saison! Es ist doch Mai! Du Blödmann, lies ihr Gedichte vor, es ist nicht notwendig jemanden umzubringen. Umarme deinen Feind. Flechte Feldkamille in sein Haar. Wir sind für Inspiration geboren, für süße Töne und all so was. Da, Fedor Michalytsch sieht das genauso wie ich.“ – ich schielte auf das über meinem Bett an der Decke festgeklebte Plakat von Dostojewski – ein Geschenk aus St. Petersburg von Julka. Es war ihr letztes, verspätetes, und deshalb erhielt ich es in einiger Verlegenheit. Schon wieder sie! Slavik begann etwas einzuwenden, aber ich hatte schon aufgehört zuzuhören.
Also, Guschin hat ihr zur fälligen Bestnote für irgendeine Prüfung gratuliert, sie kamen im Wohnheim an, und haben sich in ihr Zimmer eingeschlossen. Sie schneidet die Blumenstiele ab, zieht jetzt ihre einst aus meinen Jeans gemachte Kniehosen an, weil „Julka, sie sind neu, aber mir zu klein, los trag du sie!“ Und dann hebt er mit seinen Zeigefingern ihr T-Shirt hoch, beginnt ihren Rücken zu streicheln, ihre gebräunte, straffe Haut berührend, und sie schließt die Augen und schiebt ihre harten Lippen mit dem winzigen Leberfleck auf der linken Seite dichter heran. Und dann machen sie Liebe, so, dass die Nachbarn das hölzerne Knarren des neuen Betts hören können. Ja, meine Julka ist am schlanksten und liebsten. Sex – die einzige Zeit wenn wir nicht gestritten haben…
„Auf echte Männer!“ – ertönte plötzlich ein Trinkspruch. Dumpf klirrten die Schnapsgläser aneinander, Slavik verschluckte sich und sagte ein unschönes Wort. Ich goss gleich noch mal ein.
„Auf Fedor Michalytsch. Mir kommt es so vor, als ob er Alles besser weiß als wir.“
Wir tranken aus und fingen an zu schweigen.
„Ich habe Guschin getroffen als er mit Blumen in die Uni gegangen ist,“ – ich nutzte die Pause im Gespräch – „besonders sympathisch fand ich ihn nicht, ehrlich gesagt.“
„Ja, ja. Ich bin ihm bei der Metro über den Weg gelaufen, wir haben ein bisschen geschwatzt. Romaschenko hat doch die Russisch für Ausländer – Prüfung mit Bestnote abgelegt, da hat er beschlossen ihr eine Freude zu machen.“
„Nun ja, nicht schwer die Noten von Romaschenki zu erraten.“ – aus irgendeinem Grund deklinierte ich ihren Familiennamen.
„Sie hat ihm eine SMS geschickt. Sie legen ihre Prüfungen vor der Frist ab und fahren zu ihr nach Noworossisk.“
„Ich war dreimal da bei ihr. Es ist gut da. Auf Nachrichten von mir antwortet sie nicht.“
„Ehrlich gesagt, mein Freundchen, ist das nicht verwunderlich.“ – Slavik lachte laut. „Schau doch, er benimmt sich ihr gegenüber bei weitem besser als du zu deiner Zeit.“
„Das sehe ich.“ – wegen seines Angriffs ging mir der fünfte so schlecht herunter, dass ich husten musste. – „Aber er hat nicht mit ihr zusammen gewohnt, und dazu kommt, dass Moskauer mehr Geld haben – gib zu, es ist einfacher für sie, sich gut zu benehmen.“
„Und wie haben dir die Rosen gefallen? Ich habe ihm beim Auswählen geholfen.“
Ich fühlte, dass er sich lustig machte.
„Rosen, Rosen eben. Normale Rosen.“ – ich war teils böse, teils gekränkt ob seiner niederträchtigen Art der Anteilnahme, und verlor die Lust noch irgendwas zu erzählen.
„Und jetzt kommen sie her, und werden sich ein paar Wände von hier entfernt lieben.“ – Slavik stand verträumt am Fenster und schaute auf die Baustelle. – „Ein Regenschauer. Und dann spannt Anton über ihrem Kopf einen Regenschirm auf, und sie gehen gemeinsamen die Fahrkarten kaufen.“
„Aha, wie Marinotschka mir ihrem … händchenhaltend unterm Regenschirm von der neuen Komödie über irgendwelche glücklich Verliebten.“
Ich schaute zum Fenster. Dort pfiff der Wind und peitschte das Wasser ans Glas und an den Fenstersims.
„Und diese Schurken sind schon da. Ich hab mir schon vorgestellt, wie sie grünen Tee trinken, Pink Floyd einschalten…“
„…und langsam anfangen zu tanzen. Sie wird ihn küssen, und er, in ihrem Kuss versinkend, wird langsam ihre Jeans aufknöpfen.“ – übernahm Slavik.
„Nein, Kniehosen. Meine, übrigens.“ – ich goss randvoll ein und stellte die leere Flasche weg.
„Na und was? Wie deine? Als du mit ihr Schluss gemacht hast und auch noch anfingst mit ihrer Mitbewohnerin anzubändeln, hat die doch dein T-Shirt und deine Hosen angehabt. Ist das denn normal? Und die gehen doch auf dieselbe Toilette und Dusche.“
„Das T-Shirt hat mir Julka übrigens im Second Hand gekauft.“ – Ich war genötigt nervös zu lachen und reichte ihm das Glas hinüber. – „Das war nicht so gut.“
„Ich habe erstmal genug. Ich geh mal raus schauen was sich auf dem Flur tut.“ Er ging hinaus, und durch die Tür hallte ein verwegenes Lied.
Nachdem ich noch zehn Minuten so dagesessen hatte, trank ich beide Gläser Stück für Stück aus. Ich verstand, dass ich völlig betrunken war, als das Anziehen der Pantoffeln, und ein banaler Gang auf die Toilette fürs kleine Geschäft, sich als ein sehr ausgeklügeltes Unternehmen für mein Gleichgewichtsorgan erwiesen. Ich zerbrach das brüchige Wasserablaufsystem, begann es ungeschickt zu reparieren, und kam auf die Idee, dass das Klosettbecken als existenzielle Einheit auch nicht ganz so einfach ist.
Sogar ein innerer Aufstand, und zwar gespült, rettet es nicht allein vor fremder Scheiße, sondern, mehr noch, eröffnet das unannehmbare, fremde Innere seiner unsichtbaren Intimwelt. Ja und was ist das für ein Aufstand, wenn es den Griff nicht selbst betätigt, sondern diejenigen, deren Hintern es ein paar Mal täglich sieht. Ich legte das dem Klosettbecken in Thesenform dar, und dieses schaute mich, den Glanz des Lichts in einem kleinen Perlchen auf der schwarzen Kugel am Griff reflektierend, aufmerksam an und rieselte traurig vor sich hin. Es entgegnete mir damit, dass sich das Wasser von unten aufzufüllen begann. Da verlor ich jegliches Mitgefühl mit ihm und schlug den von unten kommenden Aufstand mittels der Klobürste nieder.
Die Naturkraft unterdrückend ging ich hinaus und schaffte es nicht mal den Meuterer zu verriegeln, als aus dem Zimmer gegenüber ein weiterer Nachbar herausstürzte, mit Bier und Gitarre in den Händen. Freundlich kam er zu mir und schaute mich an.
„Ich sag dir eins ehrlich. Ohne Quatsch. Du tust mir leid, Kleiner.“
„Was? Wieso?“
„Weißt du, wem du ähnelst? Diesem Kater, … wie heißt er noch gleich …, mit dem Halsband. Eigentlich schön, aber irgendwie auch, unangebracht.“ Geschickt küsste er auf die Ärmel meines T-Shirts und blickte mich ganz gerührt an.
Ich klopfte ihm auf die Schulter, und ging, mich an der Wand festhaltend, zu mir. Ich ließ mich aufs Bett plumpsen und schaute an die Decke, genauer gesagt, in die dunklen Augen von Fedor Michalytsch. Streng sah er mich an, und sein ganzes Bildnis strahlte vor gequälter Weisheit, einschließlich der raren, auf die Glatze geschmierten Strähnen, und des Barts in der Form eines Küchenbretts. Gern hätte ich eine Offenbarung von ihm gerade über mich gehört, aber er schwieg mürrisch, und gab so zu verstehen, dass Alles gesagt ist, und man bloß seine Bücher aufzuschlagen braucht. Ohne zu zwinkern schwebte er unangenehm grell zum Lampenschirm, und brachte es fertig gleichzeitig an seinem Platz zu bleiben aber auch Kreise zu beschreiben. Ich wurde mir bewusst, dass wenn ich jetzt nicht spazieren gehe, ich mich erbrechen muss. Irgendwie zog ich die Jacke an, stellte mit Mühe fest, dass es 23 Uhr war, wobei ich einige Male den Wecker umwarf, und begab mich in die betrunkene, raue Herausforderung der Nacht.
Als ich unter den Signalen der Autos die Straße überquerte, zeigten die bangen Fußgänger an der Ampel unanständig mit Fingern auf mich. Plötzlich stolperte ich über einen unerwartet glatten Bordstein, fiel, und hielt mich, mit den Armen rudernd, an etwas Weichem fest. Es war der Rücken eines schmutzigen Gehrocks, als dessen Eigentümer sich ein bärtiger Obdachloser erwies.
„Verzeihung!“ – sagte ich gedehnt, und fand gleichzeitig mit meinen Füßen halt auf dem Gehweg. Mit schwerem Blick sah er mich an und wischte sich dort ab, wo meine Hände ihn berührt hatten. Vielleicht ist es ja, dachte ich jetzt, der Allwissende, eine Art sakraler Unbekannter, Zar Melchibdesek, oder wie der hieß, oder sogar der neugeborene Fedor Michalytsch, der erschienen war, um Antwort auf meine Fragen zu geben. Inzwischen war es dem Unbekannten gelungen, sich anständig zu entfernen. Ich schaltete den dritten Gang ein, holte ihn ein, und fragte gerade heraus.
„Entschuldigen Sie bitte, aber wissen Sie nicht, worin der Sinn des Lebens besteht?“ - sein Blick machte mir die Blödheit der Frage bewusst, weshalb ich hinzufügte: - „Ihres Lebens?“
„Der Sinn meines Lebens,“ – holte er langsam aus – „liegt in der Frau, die ich liebe.“ – hier sträubte sich sein Bart ein wenig – „Und überhaupt ist das eine dumme Frage.“
„Ja klar, dass sie dumm ist, aber …“ – ich war entschlossen nicht aufzugeben, doch:
„Sie sind nicht Pilatus, und ich bin nicht Jesus, damit wir solche Dialoge führen könnten.“
Der Philologe in mir frohlockte. Der Obdachlose hängte sich die Tasche richtig um die Schulter.
„Wissen Sie, es gibt da einen Schriftsteller, Michail(freudig nickte ich) … Michail Afanasjewitsch(ich nickte) Bulgakow. Er hat den Roman Der Meister und Margarita geschrieben(ich erinnerte mich an den Tölpel). Das erste Kapitel trägt den Titel Unterhalten Sie sich nie mit Unbekannten. Auf Wiedersehen!“ Er drehte sich um und machte sich auf den Weg zur Metro.
Ich ließ die gesamte Episode in Gedanken noch einmal durchlaufen, und entdeckte, dass die Hälfte des Dialoges irgendwohin verschwunden war, und die Worte sich in nichts Zusammenhängendes bringen ließen. Ich musste noch etwas Wichtiges wissen – mit diesem Gedanken eilte ich ihm nach.
„Entschuldigen Sie,“ – trotz allem sind Studenten sehr intelligent. „Und wenn ich keine Frau habe, die ich liebe, hat mein Leben dann keinen Sinn?“ – eine, wie mir schien, äußerst missglückte Fragestellung.
„Das ist eine interessante Frage. Aber Sie sehen nicht besonders dumm aus, deshalb versuchen Sie doch selbst eine Antwort darauf zu finden.“ Wir näherten uns den Drehkreuzen. „Und merken Sie sich, sich niemals mit Unbekannten zu unterhalten.“ Mittels Karte ließ der Automat ihn durch. „Sie haben Glück gehabt.“
Ich kehrte nach draußen zurück, beschloss, dass ich der Natur bedurfte, und ging in den Park. Langsam ging ich durch eine leere Allee, schaute mal auf den im Schein der Laternen schwebenden, nassen Blütenstaub, mal auf die matten Lichtreflexe des Asphalts, und dachte über die geliebte Frau nach. Vor einem halben Jahr hatte ich sie verlassen, als ich beschloss, dass sie nicht die Frau ist, die ich liebe. Und sie weinte die ganze Zeit schrecklich, schlug sogar mit dem Kopf an die Wand, mein Gesicht mit einem außergewöhnlich unheimlichen, verzweifelten Blick bedenkend, der von fließenden und strömenden Tränen getrübt war. Ich setzte die Kopfhörer auf, drückte auf Play, und Hirn zermarternde Trommeln, der Hass der Gitarre, und die Agonie von Manson, brachen über mich herein.
Fuck you because I loved you
Fuck you for loving you too
I don’t need а reason to
Hate you the way I DO!
Als die Sologitarre kam brach Alles ab – die Batterien waren alle.
„Ich brauche keine Gründe, um dich zu hassen.“ Das zwang mich, mein Nachdenken zu vertiefen. Wenn er sagt, dass I Fuck you dafür, dass wir uns liebten, dann hat er zum Teufel noch mal recht, diesen verbotenen Gedanken in Worte fassend. Der Obdachlose sagt, dass sie der Sinn des Lebens ist. Manson hasst sie, und ich, summa summarum, hasste meinen Sinn des Lebens, vor dem ich schändlich davongelaufen war…
Es kam mir jemand entgegen, und mir wurde bange. Schritte und Stimmen. Ich hielt an, schaute mich um, und sah wie die Sträucher den Bäumen irgendetwas sagten, die daraufhin verneinend die dunklen Wipfel schüttelten. Die Apfelsinen der Laternen beleuchteten schweigend den Weg. Von weit her war eine weibliche Stimme vernehmbar, und ich beruhigte mich wieder ein bisschen: ein Pärchen, die ihren Spaziergang besser zelebrierten, als ein paar Physiker, die sich ihren Weg bahnten zu der längst überflüssigen nächsten Wodkaflasche. Ich ging vorwärts, mich bemühend, Zuversicht zu verkörpern. Aus der Dunkelheit lösten sich die Silhouetten von zwei Menschen heraus, die sich an den Händen hielten, und deshalb dem Buchstaben M ähnelten. Julka und ich liebten es auch so hier nachts spazieren zu gehen. Wie staunte ich, als sie und Guschin neben mir vorbei schritten.
Das war zu viel – ich lief fast an ihnen vorbei und hielt an um zu denken. Ich war betrunken, ich hasste, wie Eltern den Mörder ihrer Kinder hassen, das war das einzige, was sich in meinem Kopf ausbreitete. Es schüttelte und rüttelte mich so sehr, dass sogar meine Gedanken verschwanden, und das Herz zuckte mit einer Kraft, dass ich gezwungen war, mir an die Brust zu fassen. Den Player in meiner Tasche zusammendrückend, drehte ich mich um und erkannte sie. Sie bogen vom Weg ab, und blieben fünfzig Schritte vor mir schweigend und Händchen haltend stehen: ihre Hand, an einem winters leichten Ekzem leidend, in der verschwitzten Handfläche dieses Ziegenbocks, ähnlich eines Geiers Missgeburt, einem garstigen Verlierer.
„Ich schlag das Luder tot!“ – schrie ich beinahe laut und stürzte mich ihnen entgegen. Sie zuckten zusammen, wichen aber nicht zurück. Ich holte aus bis meine Schulter schmerzte und schmiss den Player. Dieser, in der Luft aufblitzend, traf Guschin kräftig am Rücken, und flog auseinander, polternd in seine Einzelteile auf die Steine. Ich lief an den Bruchstücken vorbei und versuchte aus dem Lauf heraus den Halunken ins Gesicht zu schlagen. Ich verfehlte das Ziel, fiel fast selbst hin, schaffte es aber ihn am Kragen zu packen, und schleuderte ihn auf die Erde. Er tat einen Sprung auf alle viere, die Brille flog herunter, er schlug ins nasse Gras, und aus seiner verwachsenen Nase floss Blut. Unterm Turnschuh knirschte es, die Vergoldung blitzte auf, das war die Brillenfassung. Ich muss noch schmerzhafter schlagen! Ich trat ihm mit dem Fuß ins Gesicht. Romaschenko fing an zu schreien. Ich drehte mich zu ihr um und schaute in ihre Augen. Scheußliche, geliebte, widerwärtige Augen. Sie setzte sich für den ein, den sie vor zehn Sekunden noch an der Hand gehalten hatte, zu sich ins Zimmer geführt hatte, von wo die Mitbewohnerin mit dem Nachtzug zu ihrem Freund gefahren war. Sie holte aus, ich schlug ihr mit der Handfläche auf die Wange, dahin, an die Stelle, wo sich ein Kreis bildete, wenn sie lächelte. Sie schüttelte den Kopf, doch ich erwischte sie an der Gurgel, und stürzte mit ihr auf den Boden. Ich warf einen Blick auf Guschin – er rührte sich nicht. Ich riss die Tasche von Romaschenko herunter und warf sie zu ihm. Die Tasche fiel auf einen Stein, klirrte, die Flasche darin war zerbrochen. Ein unerwarteter Schlag ins Gesicht schallte in meinen Ohren, ich schlug noch einmal so in die Dunkelheit, dass die Gelenke krachten, und heulte auf.
Ich vergewaltigte Romaschenko. Gedankenlos, ohne Mitgefühl, keuchend, die letzten Kräfte verlierend. Im letzten Frühling hatten wir einmal etwas Ähnliches getan, als wir beide betrunken waren. Sie versuchte zu schreien, ich verstopfte ihr den Mund, sie fing an zu röcheln, ich presste ihre Kehle zusammen, sie hörte auf sich zu wehren, ich lockerte meinen Griff, sie weinte, und es weinte ich. Ich küsste sie unendlich leidenschaftlich, entschuldigte mich, bedauerte, schluchzte, und liebte meine Julka aufs Neue. Zum Ende hin wurde mir übel. Im Radio sagen sie, dass der Seestern seinen Magen von innen zur Außenseite umstülpen kann. Ich fühlte mich wie der wahrhaftigste Seestern. Ich kotzte, kotzte, und kotzte, Krampf um Krampf, quälend lange…
Es war nass und kalt. Die Vögel zwitscherten. Die Augen öffnend erblickte ich Gras. Ich setzte mich auf den Hintern: Der Tag brach an, und der Himmel war grau, und gemächlich ballten sich an ihm fast schwarze Riesenwolken. Es blendete der gewaltige Scheinwerfer der Baustelle, dem faulen Kran helfend, seinen Ausleger zu bewegen. Das war der Park neben dem Wohnheim. Trotz allem sind die Usbeken ein Volk das Wort hält! Und dann noch „Bogorodskaja“. Wie konnte ich vergessen, dass Tabletten und Alkohol sich nicht vertragen, wo sogar die allerletzten Drogensüchtigen nur das eine, oder das andere benutzen. Das hatte mich fertig gemacht. Und wir werden nebeneinander liegen wie zwei Seesterne. Ich war abgekühlt und erstarrte mit einem Seufzer, mich erinnernd, dass es nachts war. Sie waren nicht zu sehen, waren schon lange fortgegangen, haben die Polizei gerufen – das war es dann wohl. Mit Mühe, die Schmerzen in den Knien überwindend, stellte ich mich auf die Beine und schaute an mir herunter: meine Wange schmerzte, an meiner Hand war mit Schmutz vermischtes Blut geronnen, an Ärmel und Schuhen waren Flecken getrockneten Speichels. Ich beschloss mich auf die kleine Schaukel zu setzen, die irgendein Vandale beschädigt hatte. Auf dem Weg dahin hob ich die weiße CD und gleich auch den zerbrochenen Player auf, was mir Übelkeit bereitete. Die Schaukel selbst war teilweise voller Erbrochenem, und das Gras und die Steine rund herum glichen einem bunten Mosaik. Es war offensichtlich, dass diese Freudenquelle für Kinder vor noch nicht allzu langer Zeit herausgezerrt und bekotzt wurde. So wie an die Schaukel, konnte ich mich nicht an alles erinnern, und musste mir eingestehen, dass ich sie danach ausgerottet hatte. Ich bekann ein paar Klettenblätter aufzusammeln, um mich zu putzen, und fast wäre mir wieder schlecht geworden. Der Krampf war von solch einer Stärke, dass ich mich aufstützen wollte, wobei ich mich fast an der zerbrochenen grünen Flasche schnitt. Unkraut von Hose und Jacke entfernend, schaute ich mich kurz um, und verließ schlurfend, die festen, widerwärtigen Fäden ausspuckend, vorsichtig mein zufälliges Lager.
Ich ging in Richtung Stadt und überquerte gerade die Straße, als ich die mir entgegen kommenden Romaschenko und Guschin erblickte, so dass ich ein wenig zur Seite hin abbremste. An beiden war erkennbar, dass morgendlicher Sex eine nützliche Sache ist. Guschins Brillenfassung, die ich vor kurzem mit meinem Fuß zerquetscht hatte, funkelte beleidigend in ihrer Vergoldung, und sie hielt seine Finger und erzählte irgendetwas übermäßig laut über irgendwelche ihrer Schüler. Ich schaute hinterher, mal auf ihren hin und her wiegenden Hintern, mal auf die Hand, die eine Zigarette schwenkte, mal auf Guschins Buckel.
Sie ähneln einer Schaukel, kam mir in den Sinn, doch jemand machte sich bemerkbar, weil Grün erlosch, und wenn so etwas passiert, muss man den Weg räumen. „Comfortably Numb“ ertönte in meinem Kopf, und mit Übelkeitsanfällen kämpfend, dazu noch mit Schluckauf, stampfte ich nach Hause…
J.Krementzow 2004