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Save Ukraine!
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RussenSchwänze, KnochenKrach
Autor: Mone Hartman · Rubrik:
Erzählungen

Ich besuche einen Freund. Zwangsvereinbarte Zeit: Von zehn Uhr früh bis halb zwölf
Uhr mittags. Um neun Uhr komme ich an, hier am Rande dieser Ruhrgebiets-Stadt,
Grenze zum Ländlichen, den Weg vom Bahnhof bis hierher bin ich in einem Taxi
gefahren. Jetzt steh ich vor einem Gebäudekomplex aus grauem, verschmutztem
Beton, drumherum Wiesen und Äcker und in der Ferne waldähnliche Landschaft. Es
regnet leicht aus hellem Himmel, und ich atme kühle, würzige Luft ein und ich denke,
dass der Sauerstoff meinem übernächtigten Hirn sicherlich gut bekommt.
(Knapp zwei Stunden später wird ein Kotzreiz mich würgen. Knapp zwei Stunden
später das Krachen von Knochen, scheusslich in meinen Ohren.)

Ich gehe in den sogenannten Warteraum, ein kleines Einzelhaus wie ein Schuhkarton
aus Stein und mit Fenstern, das Haus ähnelt einer Baracke, innen ein paar
abgenutzte Holzbänke, zwei Tische, ein paar leere Aluminiumdosen dienen als
Aschenbecher. Es warten schon einige Leute hier, und es ist heute, wie es auch sonst
ist: Wenn jemand Neues den Raum betritt, starren die einen der bereits Wartenden
über hängenden Schultern schweigend und beharrlich auf irgendeinen Schmutzfleck
an der Decke, die anderen sagen ein komplizenhaftes „Guten Morgen“, legen ein
Verständnis in ihre Gesichter und suchen lächelnd den Augen-Blick des neuen
Wartenden. Ich sage ein ganz betont gutgelauntes „Hallo“ mit breitem Grinsen, ziehe
ganz betont zielstrebig meine Wartenummer –die Elf- aus dem alten Holzkästchen,
das an einer der Wände hängt, setze mich ganz betont schwungvoll auf eine der
Bänke und zünde mir ganz betont genüsslich eine Zigarette an. Tatsächlich ist meine
Stimmung sehr hell: Ich freue mich, Sven wiederzutreffen, vier Wochen ist es jetzt
her, dass wir uns gesehen haben, ich freue mich mit fröhlichem Herzklopfen, und ich
denke, auch Sven ist voller Vorfreude jetzt, und ich weiss, seine Freude gilt auch dem
kleinen Geschenk, von dem er weiss, dass ich es mitbringe, intravaginal sozusagen,
bestens versteckt vor den grapschenden Fingern der Besucherkontrolleure; einen
kleinen Tampon habe ich gebaut, mit dem originalen, lindgrünen
o.b.-Rückholbändchen, ein Tampon aus einigen Schichten weicher Klarsichtfolie,
drinnen stecken, fein säuberlich kleinstgefaltet und plattestmöglich gedrückt, zwei
Fünfzig-Euro-Scheine und zwei Gramm wirklich feines Gras. Bargeld ist immer gut,
im Knast, weil kaufen kann man da wohl alles, nur eben Bargeld braucht man, und
das hat man als Inhaftierter ja offiziell nicht. Und Gras, da kann Sven sich wenigstens
dann und wann wegträumen, für eine Weile, denke ich und bin überhaupt nicht
nervös, auch wenn ich in wenigen Minuten eine Grenze des hierzulande Erlaubten
überschreiten werde: Ich finde nicht unrecht, was ich tue, und drinnen bei den
Besuchsräumen ist eine Toilette, dort kann ich in Ruhe meine Mitbringsel für Sven
auspacken, und eine versteckte Kamera habe ich dort nach eingehendem Suchen
nicht entdecken können (auf öffentlichen oder Kneipen-Toiletten suche ich immer erst
nach einer eventuell vorhandenen Kamera, bevor ich dort uriniere oder sonst
irgendetwas veranstalte). Bislang hat man mich nicht erwischt mit meinen kleinen
Mitbringseln. Was ich tue, ist in Ordnung, denke ich jetzt, ich mache Sven ein
Geschenk, eine Freude, und deshalb wird’s auch funktionieren.

Sven. Er ist hier im Knast, weil er eine deutliche Grenze ganz gewaltig überschritten
hat, mit Gewalt; ein anderer Mensch, ein anderer Körper, ein anderes Leben. Völlig
untypisch für Sven, der ist wohl immer ganz gewaltig gewesen mit seinem Mund,
aber körperliche Gewalt, bis dahin noch nie, und ich kann es mir bis heute nicht
wirklich vorstellen, vielleicht will ich es nicht. Sven sagt, er ist über diese Grenze
gegangen, oder besser, er hatte es versucht, es ist ja beim Versuch geblieben, aber
trotzdem: Das war nicht korrekt und deshalb ist es eben in Ordnung, dass er nun hier
einsitzt.
Ich muss an Andi denken, meine zweite grosse Liebe, und dass ich ihm einmal,
während eines Streits, beinahe ein Pizzamesser in den Rücken gerammt hätte: Er
wollte an jenem Abend einfach nicht mehr weiterstreiten mit mir, hatte sich auf die
Couch gelegt und mir den Rücken zugedreht und geschwiegen. Diese Nichtreaktion
auf meine Streitlust hatte mich auf ohnmächtige Weise wütend gemacht, und dann
stand ich da mit diesem Pizzamesser und habe weitausgeholt und erst im letzten
Augenblick schoss mir durch den Kopf: „Von hinten abstechen ist feige“, da habe ich
gerade noch meine Hand mit dem Messer umlenken können und habe mir die Klinge
in den eigenen, linken Unterarm gehackt. Zweimal. Schmerzen hatte ich erst am
nächsten Tag, als ich wachwurde mit diesen verkrusteten, am Rand geschwollenen
Stichwunden. Im Augenblick des Tuns aber war es eher angenehm, eine
Erleichterung, ein Wegnehmen von Spannung. Mein Psychiater meinte, das nun sei
nicht wirklich normal, aber ich denke, es ist die alte Sache, ich meine: Das Ziehen von
Grenzen, -wer?, -wo?, ... -

Jetzt dröhnt eine männliche, gelangweilt klingende Stimme draussen aus einem
Lautsprecher: „Die Nummer eins bitte“, und eine junge Frau mit Kind setzt sich in
Bewegung. Ich muss also noch eine Weile warten, bis ich drankomme mit meiner
Nummer elf, ich rauche eine Zigarette nach der anderen und puste den Rauch
zwischendurch in Richtung der beiden Kameras, die zur Überwachung in diesem
schäbigen Raum hängen. Als endlich meine Nummer elf aufgerufen wird, ist es fünf
nach zehn. Ich gehe eilig aus der Wartebaracke hin zum Haupteingang, grinse in die
dort über der schweren, doppelflügigen Eisentür hängende Kamera, und werde
hineingelassen. Beim Beamten am Eingang gebe ich meine Karte mit der
Wartenummer, die Besuchserlaubnis, meinen Personalausweis und mein Handy ab
und werde dann weitergeschickt durch eine grossgaragenartige Halle, muss vor zwei
schweren, verschlossenen Eisentüren jeweils warten, bis sie von der anderen Seite
aufgeschlossen werden, und lande schliesslich bei zwei Beamtinnen; die Rotgefärbte
fragt mich unfreundlich: „Wen besuchen Sie?“, und ich antworte freundlich: „Ich
besuche Herrn Sven Weigel“, und die Rotgefärbte schaut zu ihrer brünetten Kollegin
und wiederholt mit vielsagendem Blick: „Den Weigel, von der Sieben“; daraufhin
bugsiert mich die Brünette recht rüde in eine Ecke des Raumes, sie zieht einen
Vorhang zu, jetzt bin ich mit ihr allein, sozusagen, und sie checkt mich reichlich
ruppig durch: Greift mir in den BH und in den Hosenbund, tastet meine Beine ab, den
rechten Stiefel muss ich ausziehen, die Beamtin kontrolliert, ob irgendetwas im
eventuell hohlen Absatz steckt, aber Fehlanzeige; sie kramt in meinen Hosentaschen,
da findet sie einen Streifen Kaugummi, den hält sie mir vor die Nase und fragt:
„Wollen Sie gleich wieder nach Hause fahren? Sie dürfen hier nichts einbringen,
jedenfalls nicht ohne Genehmigung!“, und ich sage, dass das ein Versehen sei; dafür
ernte ich einen bösen Blick, und das Kaugummi landet im Papierkorb. Dann sieht die
Beamtin die Ringe an meinen Fingern und findet sie „irgendwie seltsam“, und ich
muss sie ausziehen und in den Spind einschliessen, in dem auch meine Jacke und
meine Tasche verstaut werden. Sechs Euro in Münzen kann ich einbringen, um
während des Besuchs Getränke aus dem Automaten zu kaufen, und für sechzehn
Euro kann ich Tabak oder Süssigkeiten für den Gefangenen ziehen. Die Beamtin starrt
mir auf die Finger, während ich die Münzen in den Tabakautomaten einwerfe. Als sie
dann die Tür zum Besucherraum aufsperrt, fragt sie mich noch, ob ich dieses
Arschloch wirklich besuchen will, ob ich nichts Schöneres zu tun weiss, und ich muss
mir alles Mögliche verkneifen, Tränen und Fluchen und einen Faustschlag in das
dämliche Gesicht dieser Staatsdienerin. (Jetzt bin ich nicht mehr viele Minuten
entfernt von diesem Kotzreiz, der mich für den Rest des Tages treu begleiten wird,
und nicht mehr weit entfernt von diesem scheusslichen Geräusch, dem Krachen von
Knochen, das mir bis heute in den Ohren schmerzt).

Dann bin ich im erstaunlich freundlich eingerichteten Besucherraum, weisse Wände
und bunte Bilder, einige Inhaftierte (man erkennt sie an der hier hellblauen und
ungebügelten Anstaltskleidung) sitzen schon mit ihrem Besuch an kleinen Tischen.
Sven ist noch nicht da. Es ist jetzt bereits kurz nach halb elf, und das trödelige
Abfertigen durch die Beamten hat uns wieder eine halbe Stunde Zusammensein
gekostet, dranhängen kann man die Zeit nicht, Ende ist brutal um halb zwölf. Ich
warte und in meine Wiedersehensfreude mischt sich Ärger. Eine Eisentür geht auf,
und endlich, der Sven. Eigentlich gutgebaute Einmeterneunzig, leicht gebräunt und
schöne blaue Augen, schwarze Haare, kinnlang und nach hinten frisiert, schwarze
Klamotten und silberne Ringe an den schlanken Fingern, polierte Nägel.
Jetzt ist er abgemagert, wirklich dünn, steckt wie falsch in dieser hellblauen
Anstaltskleidung, die Haare strähnig über einem
gräulich-fahlen Gesicht, die Augen
ohne Glanz. Wir trinken ein Automaten-Getränk, das „Kaffee“ heisst und nach
„Scheusslich“ schmeckt. Rauchen ist hier verboten.

Sven erzählt wieder von seinem Tun, von dem, was ihn hierher gebracht hat, und es
ist ein lautes Nachdenken, und er weiss nicht, welcher Teufel, welcher Teufel ihn da
geritten hatte. Er erzählt wieder von Grenzen, von der Grenze, die er überschritten
hat, eine Grenze, an der seine eigene persönliche Freiheit endet und die eines
anderen beginnt. Er erzählt, dass hier, an diesem Ort, solche Grenzen scheinbar gar
nicht existieren. Dass er sich auf den nächsten Monat freut, weil er da verlegt werden
wird auf eine Station, in der er eine Einzelzelle bewohnen wird. Wohngruppe und
Anti-Aggressions-Training. Einen Job in der Anstaltsbücherei kann er dann auch
antreten. Ich freue mich für ihn und sage, dass das doch immerhin ein schöner
Lichtblick ist. Sven starrt auf den Becher in seiner Hand, er erzählt, dass er wirklich
froh ist, nun von dieser Vierer-Zelle wegzukommen, von diesen drei russischen
Männern, „Russen-Tiere“ nennt er die, und er hat rötliche Flecken im fahlen Gesicht,
als er mir sagt: „Stell’ Dir vor, diese drei Tiere steh’n vor dir, gross und wirklich
Tiere, und sie geben dir die Wahl: Entweder, du rutscht auf Knien vor Ihnen herum
und putzt die Zelle, putzt das Klo mit deiner Zahnbürste und musst die Zahnbürste
anschliessend wieder benutzen, für deine Zähne, ich meine: wirklich, das ist kein
Scheiss!; oder, du rutscht auf den Knien vor diesen drei Tieren und musst sie oral
befriedigen, einen nach dem anderen. Und wenn du beides nicht willst, wirst du
halbtot getreten, immer wieder, und du kannst gegen die Zellentür hämmern und um
Hilfe schrei’n, aber niemand wird dir helfen, keiner von den anderen und erst recht
kein Beamter, die mischen sich da nicht ein, ausserdem haben die hier viel zu viel
Angst vor den Russen... also, ich hatte die Wahl, entweder auf Knien rutschen und
putzen oder auf Knien rutschen und Russen-Schwänze blasen...“

Ich trinke gerade einen Schluck des Getränks, das „Kaffee“ heisst und nach
„Scheusslich“ schmeckt, und mein Magen will sich umdreh’n, Kotzreiz. Ich frage Sven
nicht, wofür er sich entschieden hat. Er redet weiter: „Stolz und Würde. Wenn ich
noch mal in der Situation wäre, dann würd’ ich mich lieber treten lassen. Dann wär’
ich im schlimmsten Fall eben tot“. Sven’s Augen gehen unruhig durch den Raum,
machen die Bewegung von Suchen, eine Unruhe, aber es ist nur dieses mechanische
Hin- und Her der Augen, die Augen selbst werfen keinen Inhalt mehr in den Raum,
keine Sehnsucht keine Hoffnung keinen Schmerz. „Ich zieh’ uns noch einen Kaffee“,
sagt er dann und steht auf und geht zum Automaten, so aufrecht wie üblich,
innendrin jedoch zusammengefallen, und als ich ihn dort stehen sehe, am Automaten,
so dünn, so bleich, höre ich dieses Geräusch, ein Brechen von Wirbeln, und ich weiss,
das ist sein Rückgrat; lieber tot sein, hat er gesagt, und ich habe Angst- wie er da
steht, leeren Blickes, eine Hülle nur noch, geknickt, das Klo die Zahnbürste und
Russen-Schwänze, dieser Kotzreiz und ein Schmerz in den Ohren, Sven, sein
Rückgrat, das Krachen von Knochen -- und wenig später, als ich mich von Sven
verabschiedet habe, muss ich ihm nachgeben, diesem Kotzreiz, und beim
Herausgehen spucke ich der rotgefärbten Beamtin einen schnellen Schwall direkt auf
die Schuhe. -


Einstell-Datum: 2003-09-10

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

Bewertung: 333 (3 Stimmen)

 

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