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Time takes a cigarette
Autor: Tolya Glaukos · Rubrik:
Kurzgeschichten


Time takes a cigarette


Der Kopf war mir zwischen die Beine gesunken. Ruckartig riss ich ihn hoch, wie ein Bündel Kartoffeln, das der Hand entgleitet. Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht, sortierte den Scheitel neu und klemmte mir dann die fransigen Enden hinters Ohr. Mit der Langsamkeit eines Süchtigen schlug ich die Augen auf. Das erste, was ich sah, war die Zeit. Sie hockte mir gegenüber, in der gleichen Pose, die ich eingenommen hatte, so als wolle sie mich nachäffen: Die Beine leicht auswärts gestellt, den Rücken leger gegen die Wand gelehnt. Ihre Haltung war graziös, ihr Gebaren von damenhafter Eleganz.
Sie öffnete das silberne Etui, zog eine schwarze Zigarette heraus und steckte den rosafarbenen Filter auf die Zigarettenspitze. Dann zückte sie ihr Bernsteinfeuerzeug. Frisches Benzin durchsetzte die Luft, die Flamme leuchtete bläulich. Das Schwarz des Zigarettenpapiers kräuselte sich, wurde rot, rosa, dann grau und an den abgebrannten Stellen schließlich weißlich. Genussvoll sog sie den Rauch in ihre Lungen. Tief, bis zum Anschlag. Schnaubte ihn zu den Nüstern hinaus. Gediegen, ebenmäßig und inszeniert, wie ein Pfau, der seinen Fächer schließt und öffnet. Das Dämmerlicht der Stehlampe glänzte fettig auf ihren Schenkeln. Das Ventilator flappte, manchmal blieb er in einer Rotation hängen und krächzte dabei wie eine alte Elster. Dennoch riss er sich ein ums andere Mal los, überwand seine Trägheit und zerschnitt mit ungebrochenem, beinahe menschlich zu nennenden Willen die nebeligen Luftschichten. Und auch die blonden Flimmerhaare auf ihrer Wange zitterten.

Es roch nach Benzin und nach Glück. Gott ist ein Maschinist, jeden Tag muss er seine Schöpfung warten. Nein, Gott ist kein Ludwig der Vierzehnte, er rennt im ölverschmierten Blaumann herum, mit einem großen Stück Kautabak im Mundwinkel, das gegen seine Zähne klackert. Smoke over troubled water. Der Qualm strich mir um Mund und Schläfen. Ekel schüttelte mich. Gallensaft drängte meine Speiseröhre hinauf. Der Felsen lag mir schwer im Magen, auch Kronos hat den eingewindelten Stein erbrochen, den ihm seine trickreiche Gattin reichte. You're too old to lose it, too young to choose it. Ich erhob keinen Protest. Wozu sprechen, wozu Einspruch erheben. Die Lage war viel zu instabil, mein Boot viel zu weit vom Ufer entfernt. Ich ignorierte sogar, dass ihre Zigarettenasche auf Penelopes ruhmreichen Perserteppich herunterfiel. Nein, dieser Faden war endlos, kein Theseus würde ihn mehr aufrollen können, ohne sich selbst darin heillos zu verwickeln. Diesen Gordischen Knoten würde nicht einmal der heilige Sankt Georg zerschlagen.
Es war wie in Träumen: Alles hat seinen Grund und seine Bedeutung, ganz egal, ob man diesen gerade begreift oder nicht. Alles folgt unbekannten Gesetzen, und je mehr man versucht, diese Regeln zu ergründen, desto tiefer verirrt man sich in den Hainen des Labyrinthos.

Es war kein Traum.
Die Zeit mochte ebenfalls gedöst haben, jetzt aber hatte sie sich aufgesetzt, saß mit verschränkten Beinen da, sie wirkte geistesabwesend in ihrer delikaten Pose. Was führte sie im Schilde? Ihre Finger spielten in der blondierten, merklich zerstrudelten Mähne – als wolle sie mich provozieren.
–Nein! schrie ich ihr entgegen, niemals!

And the clocks waits so patiently on your song. Niemand darf sich auf die Zeit einlassen. Auch ich hatte beim Eintritt in die Hallen des Hathor feierlich den Eid des Eupalinos geleistet. Meine Brüder Palem und Elohim hatten meine Flügel quer über den Altar gespannt. Ich biss mir die Lippen wund, während ich die sieben Schläge der Hekate entgegennahm, bemühte mich aber wie alle Initianten, so entspannt wie möglich zu lächeln. Noch immer brannten die lärmenden Hiebe auf dem Rücken meines Egos. Ikarus im Sturzflug. You're watching yourself but you're too unfair. Aber die Zeit reizte mich. Und schwach war ich.
Zu schwach, um aufzustehen. Don't let the sun blast your shadow. Ich hoffte, meine Schwäche würde die Verlockung mindern. Noch war ich vollgesogen mit ozeanischer Trägheit, aber in meinem wishful thinking regte ich mich bereits, räkelte mich. Don't let the milk-float ride your mind. Nein, ich konnte nicht anders. Schon griff meine Hand nach vorne, mein Oberkörper wippte vorwärts. Auf allen Vieren krabbelte ich über den Boden, hin zu dem in Rauch gehüllten Körper der Zeit.
Ich roch den Caramelduft ihres Haars und inhalierte das dicht gewobene Versprechen. Ich würde sie küssen und erwachen. Nur ein einziger Kuss, und alles war gelöst. Ich lachte bald. Die Zeit saß weiträumig und uferlos auf weichem Untergrund. Eine Muse, die ihr rotgeblümtes Mohnkleid lupft. Ihre Augen waren steril und mit extremer Brennweite ins Nichts gerichtet, sie lebte an vielen anderen Orten – oder schlief gerade im Scheitel ihres Herzens. Ich sah sie an. Und zitterte. Oh no love! you're not alone. Blut drängte mir durch die Schläfen, mein Herz pochte mit jedem Schlag lauter, selbst die Zeit konnte es hören, wie in einem Uboot, und lauter noch. Eine Parade von Marinesoldaten defilierte in weißblauer Uniform die Hafenpromenade entlang und schlug die Hand an die Stirn zum Salut. Meine Blicke dagegen strichen segnend über das harte Holz von Tyche, die am Bugspriet unseres Schiffes hing. Just turn on with me and you're not alone. Ach, Tyche, verzeih mir meine schamlosen Lügen! Ich war, ich bin und ich bleibe ein Sünder.
Meine Hand streckte sich aus nach dem Knie der Zeit. Die, lässig und erhaben, ließ mich gewähren. Ich kroch an ihren warmen, feisten Leib heran, der geschehen ließ, was immer ich wollte. Ich entkleidete sie unter schnalzenden Küssen. Barbie, mein Teppichluder! Entgültig presste ich meinen haarlosen Körper gegen sie und vollendete die Liebe.

Ausgelaugt, die Flügel definitiv geborsten, lag ich auf meinem bunt gescheckten Teppich, dort zwischen den Ornamenten von Löwe und Sirene, und streckte den Arm dem Induktor entgegen. Die Zeit hingegen zückte ihr Feuerzeug, um eine Zigarette anzuzünden. Lang war der Atem, und weit die Augen. All the knives seem to lacerate your brain. Ein Lakai, mehr war ich nicht an diesem endlosen Nachmittag. Ein Schiffbrüchiger auf seiner Planke, der nach dem Ufer Ausschau hält. Nein, mehr würde ich nicht aus diesem toten Brunnen schöpfen können. I've had my share, I'll help you with the pain. Meine letzten Gedanken waren bereits fest im Korsett des grünen Sterns eingeschlossen, der Nebel hatte längst die Uferzone erobert. You're not alone.
Ein Schauer der Gewissheit durchflirrte mich, ein Stroboskop, ein Meteoritenregen. Das Universum, so hatte mir der Gott Hathor nach der Zeremonie erklärt, hat die Gestalt eines riesiges Kleides, um das Vorzelt vom Allerheiligsten abzuteilen. Von Innen erscheine die Farbe des Kleides zart hellblau. Und falls ich das jetzt als kitschig empfände, dann säße auch ich der ausgeklügelten List auf: Wie sonst sei der Pöbel aus dem Tempel fernzuhalten? Von außen dagegen leuchte der Stoff des Kleides lachsfarben – das aber sähen nur die Iluminierten. Er fixierte mich, wie mich noch niemand fixiert hatte. Nicht grundlos. Ich hatte den Zeichenlehrern in der Narde nie Glauben geschenkt. Nein, ich habe mich nie aus dem Kreis begeben. Der landläufige Radius genügte mir vollauf, in meinem hammelhaften Dasein gab es kein Wagnis mehr – ausgenommen diesem einen, verheerenden und entwaffnenden Wagnis, das direkt aus dem Zentrum der Zentrifuge kam.
Und wie ich mich räkelte, hielt mich nur noch diese eine und einzige Idee umschlossen: Wie es wohl wäre, wenn ich erwachte, und sie vor mir saß, schmucklos und nackt, den Rücken an die Wand gelehnt, leger, lässig und zugleich erhaben, mit einer Zigarette in der Hand.

c) by Tolya Glaukos


Einstell-Datum: 2003-12-29

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

Bewertung: 2.52.52.5 (2 Stimmen)

 

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