Biographien Rezensionen Diskutieren im versalia-Forum Das versalia.de-Rundschreiben abonnieren Service für Netzmeister Lesen im Archiv klassischer Werke Ihre kostenlose Netzbibliothek

 


Rezensionen


 
Friedrich Dürrenmatt - Das Versprechen
Buchinformation
Dürrenmatt, Friedrich - Das Versprechen bestellen
Dürrenmatt, Friedrich:
Das Versprechen

Bei amazon bestellen

(Bücher frei Haus)

Ein nach wie vor prachtvolles Buch. Spannender Unterhaltungsroman allerdings, nicht Aufklärungsbuch gegen Sexualstraftaten - und auch nicht Kunstwerk über irgendwelche Grundkonstellationen menschlicher Existenz.

Der Zürcher Filmproduzent Lazar Wechsler hatte bei Dürrenmatt angefragt, ob dieser Lust hätte, ein „aufklärendes“ Filmdrehbuch über „Lustmörder“ kleiner Mädchen (in roten Röckchen und mit blonden Zöpfen) zu verfassen. Diesen Film gab’s dann auch, unterm Titel „Es geschah am hellichten Tag“; darin wird der Kindermörder aufgespürt und zur Strecke gebracht. Für die hinterher erschienene Novellenfassung entschied Dürrenmatt sich jedoch, die unselige Verbrechersuche des Kommissars Matthäi am Zufall zersplittern zu lassen, ohne weitere Kinderleichen allerdings. Schrott, der riesige, tumbe Hausangestellte und Millionärinnengatte, wird von seiner tyrannischen Ehefrau zur Rede gestellt, rast abschließend in höchster Erregung unter einen Lastzug.

Das Ende derartiger Bücher sollte man den Lesern vorher doch nie verraten. Dürrenmatt nimmt (den ansonsten unnötigen) Kunstgriff in Anspruch, sich als Zuhörer einer langen mündlichen Erzählung, als bekannten Schweizer Dürrenmatt („Ich kenne Sie ja nun ein wenig, wenn auch, Hand aufs Herz, mir Max Frisch nähersteht“), als Figur in den Roman einzuführen, damit gleich anfangs eine Rahmenhandlung erzählt werden kann, in welcher ein zerrütteter Matthäi, der trunksüchtige, sprachlose Schatten dieses einstigen „Genies“, uns bekannt gemacht werden kann. Und wir wundern uns: Was ist da passiert, wie ist er so geworden? Am Schluss schaltet der Autor Dürrenmatt vor die Enthüllung - seitens einer Alten auf dem Sterbebett, Schrotts ehemaliger Gattin - extra noch eine quälend ausführliche, den Schlussakkord aber verstärkende Altmädchenplauderei über zwei Schwestern ein, die einander stets gehasst haben, sich in allem, auch mit den jeweiligen geknechteten Ehemännern, auszustechen versuchten. Die Frage, wer’s war, soll den Leser bis auf die letzte Seite in Atem halten. Dennoch kann sie heute vor der Lektüre beantwortet werden. Jeder hat das Buch entweder gelesen, den Film gesehen oder etwas darüber erzählt bekommen. Ein Evergreen. Ein Klassiker jener Untergattung des Kriminalromans, wo zwar auch ein Mord am Anfang steht, vom Autor dem Ermittler aber keine geschickt zusammengestellte Verdächtigen-Riege mitgeliefert wird.

Die eine große Idee des Plots musste erst mal jemand haben: Ein Polizist, der, um dem Verbrecher eine Falle zu stellen, aus seinem Dienst scheidet, Tankwart wird, einen Köder auslegt, ein kleines Mädchen mit rotem Rock und gelben Zöpfen, das Leben eines Menschen riskiert, um andere Mädchen zu retten. Ohne Mutter und Tochter zu sagen, wofür man sie benützt. (Ungeheuerlich - daher wurde im Film am Ende die Kleine durch eine Puppe ersetzt.)

Vielleicht war diese Idee ja gar nicht wirklich von Friedich Dürrenmatt. 1955 war „Lolita“ von Vladimir Nabokov herausgekommen, ein Buch, das man damals ja nicht lesen musste, um zu ahnen, um was es dabei ging. Ein scheinbar gesetzter Mann heiratet eine Nervensäge von Frau, um sich sexuell an deren 12-jährige Tochter ranmachen zu können. Alsbald stirbt jemand, dann geht es im Auto quer durchs Land, viele Übernachtungen in Motels. Hier nun ist es Schrott, der allwöchentlich im amerikanischen Vorkriegswagen zwischen Chur und Zürich hin und her fährt, um Hühnereier von der einen zur anderen Schwester zu transportieren. Matthäi sucht sich eine verurteilte Prostituierte und deren Tochter, auch sie wird schließlich auf dem Strich enden, eröffnet eine Kneipe und wartet auf seinen großen Fisch.

Nicht der „überraschende Einfall“, mit ihnen liebte Dürrenmatt das Publikum ja zu becircen, ist es, was man bei der Wiederbegegnung als besonderen Vorzug von „Das Versprechen“ erkennt, sondern die Ausgebufftheit, mit der jener junge Schreiber die Leser seinerzeit manipulierte.

Mägendorf, Heimatort des Mordopfers Gritli, beschreibt Dürrenmatt nur obenhin. Sein Buch kann den Ballast genauerer Beschreibung nicht gebrauchen. Und doch, mit einer Kaskade von Nebensätzen rinnt genug Lokalkolorit herein, sodass man meint, über Gritlis Dorf, Eltern, Schule, Lehrerin, Klassenkameraden habe man alles erfahren. Man sieht an solchen Stellen um einiges mehr, als dort wirklich geschrieben steht. Wie nebenbei - anfangs - das Versprechen des Ermittlers, nicht zu ruhen, bis der Täter gefunden ist.

Unglaublichste Dinge lässt Dürrenmatt uns dann schlucken, wir merken es nicht wirklich: dass man nachts in die Schule einbricht, um die Kinderzeichnung von einem Riesen zu stehlen, der Schokolade-Igel vom Himmel regnen lässt. Dass man der Lehrerin eines anderen Mädchens, jener des „Köders“ Annemarie, „schonend“ beibringt, diese Schülerin sei beim Schuleschwänzen nicht zu ertappen, weil man es für die Jagd auf einen Mädchenmörder brauche. Clevere Leser fragen, warum schreibt er so was denn überhaupt hin. Cleverer gewesen ist Dürrenmatt. Irgendwer musste da sein, um Annemaries Mutter zu verraten, wofür das Mädchen dem Kommissar zu dienen hat. Die Konsequenz daraus ist dann eigentlich eine Unverschämtheit uns Lesern gegenüber, Frechheit siegt: Die Mutter trennt sich keineswegs von diesem besessenen Fahnder, zehn weitere Jahre lässt sie ihn glauben, unter Einsatz ihrer Tochter werde er seinen Mörder irgendwann schon noch fangen. (Hätte der Mutter nie einer verraten, was gespielt wird, es wäre alles nur halb so tragisch geworden!)

Zitat:

Matthäi schwieg düster. „Sehen Sie, Locher“, erklärte er dann, „ich habe genau hingeschaut und nicht weggeblickt wie mein Nachfolger Henzi, der Normale: Ein verstümmelter Leichnam lag im Laub, nur das Gesicht unberührt, ein Kindergesicht. Ich habe hingestarrt, im Gebüsch lagen noch ein roter Rock und Gebäck. Aber das war nicht das Fürchterliche.“


[*] Diese Rezension schrieb: KlausMattes (2014-09-28)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


-> Möchten Sie eine eigene Rezension veröffentlichen?

[ weitere Rezensionen : Übersicht ]

 

Anmelden
Benutzername

Passwort

Eingeloggt bleiben

Neu registrieren?
Passwort vergessen?

Neues aus dem Forum


Gedichte von Georg Trakl

Verweise
> Gedichtband Dunkelstunden
> Neue Gedichte: fahnenrost
> Kunstportal xarto.com
> New Eastern Europe
> Free Tibet
> Naturschutzbund





Das Fliegende Spaghettimonster

Ukraine | Anti-Literatur | Datenschutz | FAQ | Impressum | Rechtliches | Partnerseiten | Seite empfehlen | RSS

Systementwurf und -programmierung von zerovision.de

© 2001-2024 by Arne-Wigand Baganz

v_v3.53 erstellte diese Seite in 0.008440 sek.