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Rezensionen  
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Hubert Fichte - Das Waisenhaus
„Das Waisenhaus“, erschienen 1965, war Fichtes zweite Buchveröffentlichung und sein erster Roman. Er verwertet darin Erinnerungen an eine Unterbringung 1942/43 im Waisenhaus von Schrobenhausen, das im Roman Scheyern heißt. Bei dieser Gelegenheit: Die kleine oberbayrische Stadt ist bisher die einzige, die eine Straße nach Hubert Fichte benannt hat. Hamburg, Fichtes Heimat, glänzt insoweit wieder einmal durch Ignoranz. (Tipp: Am U-Bahnhof Lutterothstraße in Eimsbüttel ist ein großer Platz noch ohne Namen.) Der Verfasser dieser Zeilen hat gerade in mehreren Buchhandlungen in Hamburg und Berlin nach vorrätigen Titeln des Romanciers Ausschau gehalten – an der Spree wurde er wiederholt fündig, die Regale der Hansestadt dagegen kennen Hubert Fichte nicht mehr.
Im Schrobenhausener Roman werden die verschiedenen Milieus und Motive wie üblich mit Fichtescher Prägnanz und Gründlichkeit behandelt: die kleine Stadt und ihr katholisches Waisenhaus, der Krieg und die Bombenangriffe, Hitlerei und Religiosität. Was man ist – von Beruf – und was man isst – kriegsbedingt oft Minderwertiges -, wie die Dinge riechen, wie sich etwas anhört, all das wird einem unmittelbar aus dem Erleben eines damals Sieben- oder Achtjährigen nahegebracht. Detlev, Fichtes Alter Ego, zieht dabei immer wieder Verbindungslinien vom katholisch-kleinstädtischen Süden zum evangelisch-großstädtischen Norden. Hamburg, das sind auch die Großeltern dort, ihr Garten, Hagenbecks Tierpark. Detlevs Mutter ist Büroangestellte auf dem Rathaus in Bayern und wechselt häufig ihre kleinen möblierten Zimmer, zu klein, um das Kind auch noch darin unterzubringen. Auch lässt sich im Waisenhaus vielleicht eher verheimlichen, dass Detlev einen jüdischen Vater hat, der im Ausland verschollen ist.
Das Buch hat seine Höhepunkte – ein nächtlicher Fliegeralarm, das Weihnachtsspiel mit den Kriegsversehrten. Das schimmelige Brot im Waisenhaus riecht nach dem im Rathaus aufgebahrten toten Gauleiter. Kennen Sie noch Hauchbildchen? Da liegen zwei ihrer Art beieinander: „Meerstern ich dich grüße“ und „Unser Führer war ein Mauermann“. Es wird darüber getuschelt, was der Stadtpolizist mit den polnischen Kriegsgefangenen anstellt, und in einem Nachbarort ist einer Volksheiligen der Herr Jesus auf einem halbverfaulten Birnbaumblatt erschienen. Schwester Silissa ermahnt die Waisen: „Nichts Unkeusches sehen lassen.“ Das alles ergibt ein sehr lebendiges Panoptikum, ein Panoptikum als Mikrokosmos.
Und doch trübt etwas die Freude an der Lektüre. Um den Stoff zu literarisieren, hat Fichte dem Kindheitsroman eine wahrhaft Proustsche Konzeption verpasst. Die Rahmenhandlung: Detlev steht Ostern 1943 auf dem Waisenhausbalkon und erwartet seine Mutter, die mit ihm nach Hamburg zurückkehren wird. Er erinnert, wie es hartnäckig auf Hamburgisch immer wieder heißt, er erinnert alles bis ins geringfügigste Detail. Aus der kleinen Madeleine, Prousts erinnerungsträchtigem Teegebäck, ist jetzt etwas „wie ein trockener Suppenwürfel“ geworden. Bergson und die Spekulationen über die Zeit lassen grüßen: „Jedes Zucken der Wimpern dauert einen Tag lang, eine Woche lang, einen Monat lang.“ Gleich noch ein Beispiel für diesem Stoff Unangemessenes: „Detlev hatte das Gefühl, als fiele die Dunkelheit mit allen Sternen hinten in seinen Kragen.“ Und ich sehe dabei den sehr ambitionierten jungen Autor Fichte sich am Schreibtisch abmühen … Mag sein, dass ihm diese Literarisierung damals Aufmerksamkeit verschafft und erste Anerkennung eingebracht hat. Heute dürfte sie der Wiederentdeckung des Romans kaum förderlich sein. Das ist schade, das Buch hat ja dennoch hohe Qualität.
[*] Diese Rezension schrieb: Arno Abendschön (2012-03-08)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.
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