Biographien Rezensionen Diskutieren im versalia-Forum Das versalia.de-Rundschreiben abonnieren Service für Netzmeister Lesen im Archiv klassischer Werke Ihre kostenlose Netzbibliothek

 


Rezensionen


 
Arno Geiger - Unter der Drachenwand (Hörbuch)
Buchinformation
Geiger, Arno - Unter der Drachenwand (Hörbuch) bestellen
Geiger, Arno:
Unter der Drachenwand
(Hörbuch)

Bei amazon bestellen

(Bücher frei Haus)

In seinem neuen Roman erzählt der österreichische Schriftsteller Arno Geiger von Menschen, die im Jahr 1944 in einem kleinen Ort namens Mondsee bei Salzburg zu Füßen der Drachenwand versuchen, in einer Atempause des Zweiten Weltkrieges zu sich selbst zu kommen.

Hauptperson ist der ich-erzählende kriegsversehrte Soldat Veit Kolbe. An der Ostfront schwer verletzt worden, reist er auf Anraten eines Hauptmannes im Lazarett nach Mondsee aufs Land, wo ein Onkel von ihm, der dort als Postenkommandant Dienst tut, ihm eine Unterkunft verschafft. Kolbes Vermieterin ist eine bösartige Frau, die ihm während seines gesamten Aufenthaltes das Leben schwer macht. Richtig gefährlich werden kann ihm allerdings der Mann der Vermieterin, ein fanatischer Nazi, der bei seinen Heimaturlauben alle mit Durchhalteparolen quält.

Veit Kolbe, so würde man es heute nennen, leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, hat immer wieder Panikattacken und kann ohne das Medikament Pervitin nicht sein. Er hat auf dem Weg der Wehrmacht nach Osten alles gesehen, „was niemand sehen will“. Massenerschießungen von Juden, die wahllose Zerstörung von Dörfern und die Liquidierung unzähliger Zivilisten haben sich in sein Gedächtnis eingebrannt und er wird die inneren Bilder einfach nicht los.

So wie sein literarischer Schöpfer selbst es einmal von sich sagte, versucht auch Veit Kolbe mit Schreiben diese Leerstellen des Grauens zu füllen und zu bannen. Er hofft, dass sein Genesungsurlaub so lange dauern wird, bis der Krieg hoffentlich bald zu Ende ist, und tut auch einiges selbst dazu, um ihn immer wieder zu verlängern. Dennoch schwebt die drohende Rückkehr an die dann wohl sicher für ihn tödliche Front wie ein Damoklesschwert über ihm und bedroht die zarten Pflänzchen von Liebe, die mit der in der Wohnung neben ihm zusammen mit ihrem Baby wohnende Margot aus Darmstadt keimen.

Langsam lässt Arno Geiger ihre Beziehung sich entwickeln. Ähnlich behutsam führt er sukzessive weitere Personen in seinen dichten Roman ein. Da sind die Mädchen im Lager Schwarzindien, die dort aus verschiedenen Städten des Reichs gebracht wurden. Insbesondere das Schicksal des Mädchens Nanni Schaller bewegt ihn und seinen Erzähler, denn als es spurlos verschwindet, sind nicht nur die Bewohner Mondsees erschüttert, sondern auch der Cousin des Mädchens, dessen zahllose unbeantwortete Briefe von der Front an seine Freundin Geiger dokumentiert. Er wechselt auch immer wieder nach Darmstadt, der Heimat von Margot und lässt deren Mutter, die ihr Überleben in einer von Bomben gänzlich zerstörten Stadt zu organisieren sucht, zu Wort kommen.

Und da ist der „Brasilianer“, ein aus Brasilien zurückgekehrter Auswanderer und Bruder der garstigen und fanatischen Vermieterin. Veit Kolbe und Margit freunden sich mit dem regimekritischen Reformbiologen an, und führen, als er wegen einer abfälligen Bemerkung über das Regime für sechs Monate in Haft kommt, sein Gewächshaus weiter.

Doch der wichtigste Erzähler neben Veit Kolbe ist wohl der jüdische Zahntechniker Oskar Meyer. Er ist mit seiner Familie nach langem Zögern von Wien aus nach Budapest geflohen, wo er als Zwangsarbeiter zufällig auf Veit Kolbe trifft. Sonst allerdings gibt es keine Verbindung zwischen Oskar Meyer und dem Geschehen am Mondsee.

Selten habe ich die inneren Nöte einer jüdischen Familie, die versucht sich vor der tödlichen Gefahr der Nazis zu retten, so eindringlich und unter die Haut gehend beschrieben gelesen, wie in den Schilderungen von Arno Geiger.

Nachdenklich und eindrücklich erzählt Arno Geiger in einer sensiblen Sprache vom Krieg und von Menschen, die die Hoffnung nicht aufgeben, dass es auch nach dem Ende des Krieges eine Zukunft für sie geben kann. Wenn er in einer Nachbemerkung zu seinem Roman das Leben bzw. Sterben dieser fiktiven Figuren nach dem Krieg dokumentiert, verleiht er ihnen eine Form der Realität, die weit über die Fiktion hinausgeht und weit mehr ausdrücken möchte als ein herkömmliches versöhnliches Ende. Es ist Hoffnung auf Zukunft trotz allem gerade zu Ende gegangenen Schreckens.

Der hier vorliegenden ungekürzten Lesung der vier Schauspieler Torben Kessler, Torsten Flassig, Cornelia Niemann und Michael Quast gelingt es ganz hervorragend, nicht nur in die Welt des Veit Kolbe einzutauchen, sondern auch den Kampf der weitere Protagonisten um ihr Überleben und für eine „kleine Zukunft“ auf eine berührende, authentische und tiefgründige Weise einzufangen und zum Ausdruck zu bringen. Das Hörbuch ist sehr zu empfehlen.

Arno Geiger, Unter der Drachenwand (Hörbuch), Hörbuch Hamburg 2018, ISBN 978-3-95713-120-1

[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2018-04-10)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


-> Möchten Sie eine eigene Rezension veröffentlichen?

[ weitere Rezensionen : Übersicht ]

 

Anmelden
Benutzername

Passwort

Eingeloggt bleiben

Neu registrieren?
Passwort vergessen?

Neues aus dem Forum


Gedichte von Georg Trakl

Verweise
> Gedichtband Dunkelstunden
> Neue Gedichte: fahnenrost
> Kunstportal xarto.com
> New Eastern Europe
> Free Tibet
> Naturschutzbund





Das Fliegende Spaghettimonster

Ukraine | Anti-Literatur | Datenschutz | FAQ | Impressum | Rechtliches | Partnerseiten | Seite empfehlen | RSS

Systementwurf und -programmierung von zerovision.de

© 2001-2024 by Arne-Wigand Baganz

v_v3.53 erstellte diese Seite in 0.006946 sek.