„Wenn ein Löwe sprechen könnte, könnten wir ihn nicht verstehen.“, versucht Ludwig Wittgenstein, der österreichische Philosoph wider Willen, seinen Studenten in Cambridge zu erklären. Es würde uns einfach der Blick seiner Erlebnsiwelt fehlen und vielleicht ist es auch dem einen oder anderen seiner Studenten so ergangen, denn Wittgenstein war auch eine Art „Löwe der Philosophie“, der auch Bertrand Russell oder dem ebenfalls im Film vorkommenden John Maynard Keynes ordentlich zu schaffen machte. Wittgenstein, Sohn eines reichen Stahlindustriellen, hatte sein ganzes Erbe seinen Geschwistern verschenkt und sich als Lehrer aufs Land zurückgezogen, wären da nicht diese Herren in Cambridge gewesen, die ihn dorthin holten, wo sein Zuhause war. „Wo ist das?“, frägt er selbst in dem semidokumentarischen Theaterspiel von Derek Jarman, dem Regisseur so vieler anderer wunderbarer Filme, wie etwa „Caravaggio“, der hier in diesem Forum ebenfalls schon besprochen wurde.
„Philosophie ist nichts Anderes als das Nebenprodukt von falsch verstandener Sprache.“ Wittgenstein hatte sich Zeit seines Lebens mit der Philosophie geplagt und wollte sie fast abschaffen, wie Bertrand Russell ihm beiläufig unterstellt. Einer seiner Versuche, ein „normaler Mensch“ zu werden, der sich nicht mit den Problemen der Philosophie herumzuschlagen habe, war es, freiwillig in die Sowjet zu emigrieren. Doch diese hatte Arbeiter genug, sie wollten einen Philosophen, aber nicht noch einen Arbeiter, wie die Sowjet-Kommissarin ihm freundlich erklärt. „Mein Traum war es, in die Sowjet zu gehen, und dort ein ganz normaler Arbeiter zu werden.“ Aber auch diesen Traum kann sich Wittgenstein nicht erfüllen, denn – und das legt ihm auch die sowjetische Kommissarin nahe – jeder habe auf seinem Posten seine Aufgabe zu erfüllen und seine – als Sohn reicher Eltern - sei es eben, Bildung weiterzugeben, Philosophie zu vermitteln.
Ludwig Wittgenstein (1889-1951) scheute vor dieser Aufgabe zurück, da er keine Verantwortung für andere übernehmen wollte und sich ob seiner Homosexualität auch in einem Dilemma berfand: stets das moralisch und ethisch Korrekte tun zu wollen, es aber nicht zu können, auch wenn man selbstverständlich heute an der Homosexualität nichts Unmoralisches mehr finden würde, litt der katholische Wittgenstein doch unter diesem inneren Konflikt. Zudem hatte er ohnehin schon eine schwierige familäre Konstellation: drei seiner sieben Geschwister hatten Selbstmord begangen. Auch Wittgenstein zeigte, insbesondere nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, suizide und depressive Züge, wie auch Jarman in seinem Film zeigt, war er im Kontakt mit anderen sehr autoritär und rechthaberisch, dann wieder übersensibel und unsicher. Dennoch bekam er viel Lob von „höchster Stelle“: „Ich fange an, ihn zu mögen; er kennt sich aus in der Literatur, ist sehr musikalisch, angenehm im Umgang (ein Österreicher), und ich glaube, wirklich intelligent.“ (Bertrand Russell am 29. November 1911 an Ottoline Morrell) Schon bald hielt der Paradephilosoph Russell Ludwig Wittgenstein für höchst talentiert, und war überzeugt dass Wittgenstein besser geeignet sei als er, sein logisch-philosophisches Werk fortzuführen.
„Und was werden Sie jetzt den Rest Ihres Lebens tun?“ frägt ihn einer der Honoratioren der Cambridge University. „Ich werde beginnen mich umzubringen“, antwortet ihm Wittgenstein, der so verzweifelt ist, dass er keinen anderen Ausweg mehr weiß. „Ein Gläschen Champagner vorher?“ „Nein, lieber hätte ich eine Tasse Tee.“ Gekonnt und pointenreich macht Jarman nicht nur mit diesem Dialog auf die abstruse Situation, in der sich der Philosoph befand, aufmerksam. Seine vielen Rollen wie etwa: Wiener Millionärssohn, Schullehrer, Krankenhauspförtner, Gärtner, Cambridge-Dozent, Kriegsoffizier, Kommunist und schwul…darum beneideten ihn wohl die wenigsten, denn er war ein in Sartreschem Sinne von seinem Schicksal geschlagener Mensch. „Ein Philosoph ist einer, der zu keiner Gemeinschaft gehört.“ Derek Jarman illustriert dieses Grundproblem, an dem Wittgenstein Zeit seines Lebens litt, mit einem Käfig, in dem sich der verzweifelte Wittgenstein ob seines Dilemmas die Haare rauft: Die Grenzen deiner Sprache, sind die Grenzen deiner Wirklichkeit, wie es im wohl bekanntesten Zitat Wittgensteins heißt, bekommt durch Jarmans Illustration eine neue Dimension. Eine sehenswerte Spieldoku, ähnlich einem Theaterstück oder interessanten Hörspiel in bunten Bildern. Mitwirkende sind unter anderem: Karl Johnson, Michael Gough, John Quentin, Kevin Collins und Tilda Swinton. Die FAZ schrieb: „Beinahe ist es, als bekomme der Philosoph etwas von einem romantischen Rebellen!“ Der Film lief auch auf den Festivals: Internationale Filmfestspiele Berlin, TEDDY AWARD Bester Spielfilm 1993. Die Extras: Booklet mit „Jarmans Wittgenstein, Wittgensteins Lehre“ von Stefan Majetschak, Interviews mit Tilda Swinton und Karl Johnson, Einführung, Hinter den Kulissen, Vorschau, Trailer. Ton: Dolby Digital Stereo, Bild: 16:9, Sprache: deutsche & englische Fassung. Untertitel: deutsch, Länge: 75 Minuten
Wittgenstein
Ein Film von Derek Jarman
UK 1993, 75 Minuten, Farbe, FSK 16
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2012-01-10)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.