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Erwin Koch - Was das Leben mit der Liebe macht
Buchinformation

„Z`Mami, diä tuet miär niä az Fiddlä lange“, sagt die fünfjährige Anna aus Basel zu Ihrer Therapeutin und wer ein bisschen Schwyzerdütsch versteht, dem wird bei diesem Satz schon etwas der Atem stocken, denn der, der es dann doch tut, das ist der Papi und der hat ein Gliom, einen Tumor im Gehirn, wenn auch niedergradig, so doch von mittlerer Bösartigkeit. Erwin Koch erzählt die Liebesgeschichte zwischen Melanie und Leo ohne falsches Pathos, in einer klaren, deskriptiven Sprache, die allein schon das Dokumentarische vermittelt. Aber auch im Untertitel wird dieses „Wahre“, das Wahre, betont. Wäre es nicht so, würde man die Geschichten nämlich tatsächlich nicht glauben wollen, denn sie hinterlassen einen ohne Trost. Wer sich also romantische Liebesgeschichten erwartet, oder Aufschlüsse darüber, was in der eigenen Beziehung falsch läuft, liegt hier grundsätzlich falsch. Erwin Wurms „wahre Geschichten“ sind keine Ratgeberfibel für Unbedarfte, viel eher Hinweise, wie man es lieber nicht machen sollte. Oder soll die Geschichte von Witali und Swetlana aus Nordossetien etwa vermitteln, dass man für wahre Liebe belohnt wird?

Witali, der zum Rächer seiner durch ein Flugzeugunglück getöteten Frau und Kinder wird, erhält nach seinem Mord an dem Schweizer Fluglotsen sogar noch einen Ministertitel und wird von der Propaganda fast zum Helden stilisiert. Der Westen sei eben anders, er sei viel zu dekadent, wisse nicht mehr, was wahre Gefühle seien und Witali kenne eben diese, diese wahren Gefühle, die ihn dazu bringen in die Schweiz zu fahren und den Fluglotsen, der während der Landung zweier Flugzeuge einen Fehler gemacht hatte, zu ermorden. „Witali Kalojew ging den geraden Weg des Herzens“, titelte die Moskowski Komsomolez. „Der Westen kennt keine Shakespeareschen Leidenschaften mehr“, kommentierte die Iswestija anderntags Kalojews Rückkehr. Europa sei entwöhnt. Die saubere, gepflegte, mit Anwaltskanzleien übersäte und von politischer Korrektheit platt gebügelte alte Welt fürchte offene und starke Gefühle, so zitiert Erwin Koch in seiner Geschichte die russische Tageszeitung.

Auch in seiner Geschichte über „Rodrigo und Marjorie“ weiß Koch eine abenteuerliche Geschichte über die Liebe zu erzählen, ohne dabei Partei für irgendeinen der Beteiligten zu ergreifen. Koch ist ein Beobachter, einer, der beim Erzählen der anderen genauestens mitschreibt und das, was der andere nicht ausdrücken kann, mitdenkt. „No moriste en vano“, du stirbst nicht umsonst heißt es einem Liede über den guten Guatemalteken, den Helden, aber dieser ist vielmehr ein Herostrat, denn ein Heroe, ganz im Sartreschen Sinne. Rodrigo Rosenberg ist nämlich verheiratet und eine respektable Person, doch er hat eine Schwäche, eine Affäre zu der jungen Marjorie, die aus einem unbekannten Grunde erschossen wird, worauf Rodrigo Rache schwört und am Ende sogar die ganze guatemaltekische Regierung und ihren Premier bloßstellt, nur um den Mörder Marjories zu finden. Seine Liebe zu Marjorie geht sogar so weit, dass er seine eigene Ermordung inszeniert, weil er glaubt, dass dadurch Licht in die Ermordung seiner Marjorie gebracht werden könnte. Große Gefühle befähigen eben zu Großem. Aber auch zu großem Blödsinn.

Aber auch Yvonne, die Protagonistin in der Kurzgeschichte „Ein Männchen so klein“ ist zu großen Gefühlen fähig. So groß, dass sie ihrem Daniel nicht mehr widerspricht, immer runterschluckt und nur mehr „ja“ sagt, aus lauter Angst, sie könnte ihn sonst verletzen. Nicht etwa, weil sie Angst vor ihm hätte, nein, er schlägt sie ja nicht, sie will ihm nur alles recht machen, um unnötige Streitereien zu vermeiden, damit sie in Frieden leben können, damit er sich nicht ärgert. Bis sie ihn eines Tages vergiftet. Doch Daniel überlebt. Er überlebt und vergibt ihr sogar, weil er sie so sehr liebt. Und sie wird ihn wieder nicht los, diesen Daniel, der sie mit seiner Liebe erdrückt und sogar soweit gebracht hat, dass sie ihn vergiften musste, um ihm nicht weiter weh zu tun. Der Arzt fragt sie warum sie es getan habe und sie antwortet: „Ich wollte meine Ruhe haben. Ich konnte ihn nicht verlassen, es wäre so grauenhaft furchtbar für ihn.“

Erwin Koch setzt die Liebe den Herausforderungen des Lebens aus: Was wird aus ihr, der Liebe, wenn sie vom Schicksal bedrängt wird, von Armut, Alter, Krankheit, Tod? Die Herausgeber stellen den folgenden Vergleich an: Was Ferdinand von Schirach für die Kriminalwelt ist, ist Erwin Koch für den Rest des Lebens: der „Protokollant“. Erwin Koch protokolliert tatsächlich in aller Nüchternheit, das, was das Leben aus der Liebe macht, aber er spricht mit keinem Wort darüber, was die Liebe aus dem Leben macht. Der zweimalige Gewinner des Egon-Erwin-Kisch-Preises arbeitete für dieses Buch ebenfalls wie ein rasender Reporter gleich auf mehreren Kontinenten und in vielen Ländern. Neben Guatemala und der Schweiz spielen auch Nordossetien und ein kleines Land inmitten Europas eine gewisse Rolle. Denn vor der „wahren“ Liebe sind auch Politiker nicht geschützt, wie die Geschichte um die steirische Landesrätin Bleckmann aus Österreich zeigt. „Im Moment höre ich viel Mozart“, soll die Frau Magister einem Reporter ins Gerät gesprochen haben. Dass das hilft, mag man ihr wünschen.

Erwin Koch, geboren 1956, lebt als freier Reporter und Autor in der Nähe von Luzern in der Schweiz. Er schreibt Reportagen (u. a. für Die Zeit, den Spiegel, die Süddeutsche Zeitung, die Neue Zürcher Zeitung und Brigitte), Hörspiele und Romane. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Egon Erwin Kisch-Preis und dem Mara Cassens-Preis für das beste deutschsprachige Romandebüt.

Erwin Koch
Was das Leben mit der Liebe macht
Wahre Geschichten
corso 13
Hardcover mit Schutzumschlag, Fadenheftung,
136 Seiten.
Format 17 × 24 cm, zweifarbiger Druck.
¤ [D] 19,90 | ¤ [A] 20,60 | sFr. 30.50
isbn 978-3-86260-024-3

[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2011-08-14)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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