Am Anfang dieses 17. Romans um Commissario Brunetti steht das Begräbnis seiner Mutter auf der venezianischen Toteninsel San Michele, der anschließend mit einem Gläschen Prosecco begossen wird: „Auf Amelia Davanzo Brunetti und auf uns, die wir ihr für immer in Liebe verbunden sind“, hebt Sergio, der ältere Bruder unseres Kommissars, sein Glas. Diese erste Szene macht uns die Familie zwar nicht besonders sympathisch und man mag sich auch fragen, ob es tatsächlich ein italienischer Brauch ist, ausgerechnet einen Prosecco beim Totenmahl „ploppen“ zu lassen, aber Donna Leon will es nun einmal so, denn ihr Thema und ihr Handwerk ist nun einmal der Tod. Allerdings der un-natürliche Tod.
Die ersten hundert Seiten müssen allerdings ohne den üblichen tragischen und vor allem unnatürlichen Todesfall auskommen, erst wird Brunettis unbefriedigendes Verhältnis zu Glaube, Kirche und Religion etwas beleuchtet und dabei spielt auch ein gewisser Priester eine Rolle, der seine Mutter bis zu ihrem friedlichen Verscheiden begleitet hatte. Diesem Priester traut Brunetti nicht, eigentlich müsste man sagen: weder diesem noch irgendeinem anderen. Der amerikanische Anti-Klerikalismus der Autorin spricht hier wohl aus einer ihrer Protagonistinnen, namlich der Contessa: „Schau sie dir doch an in ihrem possierlichen Aufzug mit Mitra, langen Gewändern, Römerkragen und Rosenkranz – alles nur Effekthascherei! (…) Ohne Status und Privilegien, da bin ich mir sicher, wäre es bald geschehen um den geistlichen Stand“. Auch mit dem Zölibat scheine es nicht sehr weit her zu sein, bei den meisten Priestern: es verpflichte ja nur zur Ehelosigkeit, der Rest sei Auslegungssache. Auch wenn Brunetti eine gläubige Mutter hatte, hegt er doch große Vorbehalte gegen die Kirche, für die sein Vater – aufgrund der Grausamkeiten des Krieges – nur Verachtung empfunden habe.
Neben dem Tod und Brunettis Verhältnis zum Glauben, gibt es aber natürlich noch ein weiteres großes Thema in diesem Donna Leon Roman. Und hier kommen wir nun auch zu dem mehr oder weniger spektakulären Mordfall, der sich erst auf Seite 130 ereignet, in medias res sozusagen, nach einem langen Geplänkel über Glaubensfragen und vermeintlichen kulturellen Gemeinsamkeiten zwischen Sizilien und der Giudecca. „Ein helles zerzaustes Etwas“ wird aus einem Kanal beim Palazzo Benzon gefischt und erweist sich als totes Zigeunermädchen. Die Kleine weist nicht nur Kratzspuren, sondern auch eine unverheilte Gonorrhöe auf und außerdem findet man in ihrem Geschlechtsteil versteckt gestohlenen Schmuck. Guido Brunetti findet zwar bald die Besitzer und muss sich auch mit der Familie der zehnjährigen Toten auseinandersetzen. Die Roma – wie sie der politischen Korrektheit wegen genannt werden – erweisen sich allerdings nicht gerade als gesprächig und so muss Brunetti zu anderen Mitteln greifen, um sie etwas redseliger werden zu lassen. Donna Leon macht sich dabei immer wieder über die politische Korrektheit lustig (etwa wenn die Sozialarbeiterin, die mit den Roma sprechen will, als bissig und verklemmt dargestellt wird), was aber viel schwerer wiegt, ist das Bild, das sie von den „Nomaden“ zeichnet. Einzig der kleine Bruder der Toten kommt als positive Figur vor, die anderen „Zigeuner“ werden durchwegs klischeehaft und negativ geschildert. Da wird etwa ein Taxifahrer zitiert, der sich ausmalt, was passieren würde, wenn er seine Kinder nicht zur Schule schicken würde, sondern sie stattdessen zum Betteln und Klauen „abrichten“ würde. Für „diese Leute“ würden eben andere Gesetze gelten als für uns, beklagt nicht nur der Taxifahrer. Einem Repräsentanten der Zigeuner wird „wölfisches Grinsen“ und „unterdrückte Wut“ attestiert, „weißglühender Zorn“ würde in deren Herzen wogen und natürlich verprügle der Vater der Kleinen seine Frau, wenn sie mit den Behörden kooperieren würde. Brunetti sieht in den Augen desselben Repräsentanten „eine Bosheit blitzen“, wie Leon schreibt, und natürlich kann auch dieser Zigeuner so wie die anderen nicht richtig „Italienisch“, was besonders angesichts der Tatsache, dass sie ja aus Rumänien kommen würden, besonders seltsam anmutet, da dies das Erlernen des Italienischen eigentlich wesentlich erleichtern müsste. Aber im Stereotyp von Donna Leons Zigeunern ist es nun einmal so, dass nicht einmal die Eltern um das tote Kind weinen dürfen und so auch die Leiche nicht abholen und bestatten. (sic!)
Der Kulminationspunkt von Donna Leons Feldzug gegen die politische Korrektheit wird denn dem Assistenten Vianello in den Mund gelegt: „Aber ich bin es verdammt noch mal leid, dauernd für jeden Benachteiligten oder Zukurzgekommenen Nachsicht und Verständnis aufzubringen und ständig aufpassen zu müssen, dass ich mich auch ja nicht im Ton vergreife.“ Ein paar Zeilen weiter kommt es dann sehr deutlich: „Da kommt man sich doch vor wie früher im Ostblock, wo die Leute der Partei nach dem Mund reden mussten und nur privat die Wahrheit sagen durften.“ Wen bei diesen Zeilen nicht ein leises Unbehagen beschleicht und die frappante rassistische Grundhaltung der Autorin nicht erschauern lässt (nämlich auch gegen die Bewohner ihres Gastlandes), dem ist natürlich ein gewisses Lesevergnügen nicht vorzuenthalten. Man fragt sich nur, wie viel die Autorin eigentlich wirklich in Italien gelernt hat, in dem sie nun immerhin schon 28 Jahre lang lebt. Muss denn wirklich die Welt so Schwarz/Weiß gestrickt werden, gibt es denn wirklich gar keine lachenden Zigeuner? Am Ende gibt der kleine Zigeunerjunge, der Bruder der Kleinen, zwar den entscheidenden Hinweis, denn „die Kinder können ja nichts dafür“, aber hat die Autorin denn nicht mehr Mut, gängige Klischees zu durchbrechen? Guido Brunetti hätte ja vielleicht auch mal dringend einen Tapetenwechsel nötig…
Donna Leon
Das Mädchen seiner Träume
Commissario Brunettis siebzehnter Fall
Aus dem Amerikanischen von Christa E. Seibicke
Roman