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Literaturforum: Über eine Stelle bei Mark Twain


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Forum > Rezensionen > Über eine Stelle bei Mark Twain
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 Thema: Über eine Stelle bei Mark Twain
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 31.08.2014 um 11:48 Uhr

Anfangs kannte ich nur einen Satz von ihm: „Die Gräfin betrat im Glanze ihres Glasauges des Saal.“ Ihn hat Tucholsky, den ich mit sechzehn las, seinen „Berliner Ballberichten“ als Motto vorangestellt. Nur neun Wörter, und man kann an ihnen zeigen, wie Satire funktioniert. Man nehme drei Begriffe aus leicht verstaubter gehobener Sphäre – Gräfin, Glanz, Ballsaal – und schalte einen modern ernüchternden ein: Glasauge. Der Glanz bleibt, erweist sich indes als Similiprodukt.

Einige Jahre später kaufte ich mir seine Gesammelten Werke, die fünfbändige Dünndruckausgabe von Hanser. Ich konnte einmal über Weihnachten nicht heimfahren, blieb in Berlin und las „Huckleberry Finns Abenteuer“ in so gut wie einem Zug, jedenfalls ohne die Wohnung auch nur einmal zu verlassen. Am stärksten beeindruckte mich ein Detail aus dem 9. Kapitel, dessen volle Bedeutung der Leser wie Huck erst einige Hundert Seiten später erfahren. Huck und der Sklave Jim entdecken ein Mordopfer, doch Jim lässt Huck das Gesicht des Toten nicht ansehen – es ist Hucks eigener Rabenvater. Wie viel wunderbare Psychologie steckt darin: ein beinahe als gerecht zu empfindender Tod, die Befreiung des Jungen von seinem Peiniger, die zärtliche Schonung, die der Ersatzvater Jim Huck angedeihen lässt …

Heute ist der 31. August 2014. Ich denke an eine ganz andere Stelle bei Mark Twain, und zwar aus „Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof“. Ich vergegenwärtige mir den Stoff des Romans: Dem Yankee hat mitten im 19. Jahrhundert einer mit der Brechstange eins übergezogen, woraufhin er sich im England des Jahres 528 wiederfand. Er, der neuzeitliche Amerikaner mit seinem ganzen technischen Wissen, seiner Aufgeklärtheit usw., er reißt bald die Macht an König Artus Hof an sich und beginnt, dessen Land in einen gut geölten Staat der Moderne zu verwandeln. Das ist über weite Strecken sehr amüsant zu lesen, doch dann kommt das Grauen, ein Bürgerkrieg, in dessen Verlauf die Ritter des 6. Jahrhunderts in der elektrifizierten Kriegsmaschinerie des späten 19. buchstäblich verbrennen. Das ist großartig erfunden, eine satirische Vision des realen Ersten Weltkriegs, ein Vierteljahrhundert nach Erscheinen des Buches.

Der Roman ist leider noch immer aktuell: Westlicher Fortschritt, implantiert in relativ archaische Gesellschaften, lässt diese implodieren. Aus Freiheit, Demokratie, Menschenrechten, technologischem Fortschritt und Wohlstandsversprechen wird die Hölle auf Erden.

Und dann gibt es noch die umgekehrte Konstellation, wie sie der Film „Die Besucher“ von 1993 zeigt: Menschen des 12. Jahrhunderts werden per Zeitreise unfreiwillig ins späte 20. katapultiert, verstören die neue Mitwelt, machen verstörende Erfahrungen. Nur Fiktion zu Unterhaltungszwecken? Ach, es gibt Zeitgenossen, die sehnen sich danach, Erfahrungen zu machen wie Godefroy und Jacquouille. Sie schlüpfen in alte Kostüme, führen Mummenschanz auf. In Mode gekommen ist neuerdings: Lord Byron stürzt sich in den Freiheitskampf der Griechen. Kann das gutgehen: Posieren wie im Biedermeier in einer Welt, starrend vor Massenvernichtungswaffen?

Mir scheint, ein Menschenleben ist oft zu kurz, sich von jenem antiquierten Bewusstsein zu befreien, dem man, vielleicht aus purer Eitelkeit, sich in jungen Jahren hingegeben. Also: Wieder einmal Mark Twain lesen.

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