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Literaturforum: Eine Kleinfamlie


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 Thema: Eine Kleinfamlie
ArnoAbendschoen
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seit dem 02.05.2010

Das ist ArnoAbendschoen

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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 28.11.2021 um 01:10 Uhr

In jenen Jahren sah man das auffallende Paar häufig auf den Straßen von ***. Es waren, wie leicht zu erkennen, Mutter und Sohn, sie eine stattliche Frau jenseits der sechzig, er in seinen Zwanzigern, so schien es zunächst. Ich zögere nicht, den großgewachsenen jungen Mann schön zu nennen. Wir, die beiden und ich, wohnten in zwei benachbarten Stadtteilen, die ein Wäldchen trennte. Hohe, alte Buchen ließen es aus der Distanz viel größer erscheinen, als es tatsächlich war. Ging ich zu Fuß von meiner Wohnung ins Zentrum der kleinen Stadt, kam es vor, dass Mutter und Sohn plötzlich auf der Bühne erschienen und mir ins Blickfeld gerieten – sie waren gerade aus dem Wald gekommen und hatten den engen Durchlass unter der Eisenbahnbrücke davor passiert. Jenseits von ihr bog die Straße scharf rechts ab. Auf diese Weise hatte für mich das Paar oft einen etwas theatralischen Auftritt und ebenso traten sie heimwärts wie auf eine Regieanweisung hin plötzlich ab.

Ob wir uns stadteinwärts oder –auswärts begegneten, ich überholte sie immer, da sie langsam einherschritten, und warf dabei ein, zwei Blicke auf sie. Alles an ihnen strahlte Würde, Anmut, gesittetes Wesen aus. Der junge Mann blickte dabei viel auf seine stets unbewegt erscheinende Mutter. Sie sprachen gewöhnlich nicht miteinander. Allerdings richtete sie in der Fußgängerzone schon mal das Wort an ihn, selten zwar und wenn, dann immer knapp, gebieterisch, mit leichter Schärfe. Er zuckte nun zusammen, wie eben einer, der sich zusammenzunehmen hat. Dies geschah immer dann, wenn er auch nur Miene machte, ein etwas lebhafteres, weniger folgsam gravitätisches Verhalten anzunehmen. Ich begriff allmählich, dass er geistig behindert war und auf der Stufe eines Sieben- oder Achtjährigen verharrte. Wie ein solcher gehorchte er sogleich und kehrte zu unauffälligem Betragen zurück. Sie hatte ihn vollkommen unter Kontrolle, und ich fand weiterhin, sie gäben ein harmonisches Bild ab, das außerdem zu Herzen ginge. Nie sah ich einen von beiden allein. Sie machte ihre Besorgungen, er begleitete sie stumm und trug einen Teil ihrer Einkäufe auf dem Heimweg.

Das ging so Jahre hin, dann war von heute auf morgen die Mutter nicht mehr zu sehen. Der Sohn hatte von nun an zum Begleiter und Führer einen alten Herrn, in dem ich seinen Vater vermuten durfte. Sie verkehrten anders miteinander, lockerer. Der Sohn schien neuerdings an viel längerem Zügel zu gehen und es zu genießen. Er war oft munter, fröhlich, wechselte unterwegs das eine oder andere Wort mit dem Alten. Wenn ich an ihnen vorüberging und sie fast wie beliebige Mitbürger wirkten, sah ich in dem Sohn keinen sehr jungen Mann mehr vor mir wie früher. Sowie seine Mimik sich belebte, bemerkte ich die Falten, das schon etwas Verlebte und der Zucht und Ordnung langsam Entwöhnte. Er war ein Mann von bald vierzig Jahren, sein Vater mochte Mitte bis Ende siebzig sein.

Es kam zu öffentlichen Szenen, die der Alte sichtlich fürchtete. Sein Sohn lief dabei hin und her, spektakelte ein wenig, gebärdete sich wie ein Pubertärer. Einmal spielte sich das in einem Schlachterimbiss ab. Ich stand an einem Verzehrtisch und wurde Zeuge, wie andere Gäste leicht angerempelt wurden, und hörte den Sohn lauter werden als dort üblich. An ihm war jetzt etwas Aufsässiges. Sein Vater machte dem rasch ein Ende, indem er seine Bestellung am Tresen abbrach, ihn am Arm packte und wegzerrte und vor sich hertrieb: „Los, raus jetzt!“

Einige Wochen später gingen beide noch einmal vor mir heimwärts, und zwar auf der anderen Straßenseite, so dass ich sie eine Zeitlang schräg von hinten in ihrem Dahinziehen betrachten konnte. Sie trugen Einkaufstaschen und dem Alten fiel das Vorankommen erkennbar schwer. Er ging sehr langsam, blieb oft stehen und setzte seine Last ab, um neue Kräfte zu sammeln. Sein Sohn schritt viel rascher aus, gewann Abstand, hielt ebenfalls inne, sah sich nach dem Vater um, rief ihm etwas zu, lachte spöttisch und zuckte mit den Schultern. Hier geht etwas zu Ende, sagte das lebende Bild vor mir. Sie zottelten weiter, erreichten den Durchlass unter der Brücke, wandten sich nach rechts, den hohen, alten Buchen zu, und waren sogleich aus meinem Blickfeld verschwunden – für immer, wie ich heute weiß, ohne erfahren zu haben, welches ihr Weiterweg im Leben war. Vermisst habe ich sie noch lange Zeit.

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