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Literaturforum: Das Kopfkissenbuch der Dame Sei Shonagon


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Forum > Literaturgeschichte & -theorie > Das Kopfkissenbuch der Dame Sei Shonagon
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 Thema: Das Kopfkissenbuch der Dame Sei Shonagon
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 13.05.2015 um 16:09 Uhr

Wer den altjapanischen Riesenroman „Die Geschichte vom Prinzen Genji“ gelesen hat, mag zur Abrundung noch zum „Kopfkissenbuch der Dame Sei Shonagon“ greifen. Beide Werke entstanden im frühen 11. Jahrhundert und zählen zu den klassischen Standardwerken der japanischen Literatur. Ihre Verfasserinnen waren beide etwa zur selben Zeit Hofdamen der Kaiserin von Japan. Sie wussten voneinander, ihre Werke wurden bereits zu Lebzeiten am Hof zur Kenntnis genommen. Das weitere Schicksal der Autorinnen liegt weitgehend im Dunkeln. Damit sind ihre Gemeinsamkeiten bereits aufgezählt.

Die Bücher selbst unterscheiden sich extrem voneinander. Während Murasaki Shikibu in ihrem Roman von ca. zweitausend Seiten ein umfassendes Panorama der Hocharistokratie ihrer Zeit gibt, handelt es sich beim „Kopfkissenbuch“ um tagebuchartige Skizzen von insgesamt nur wenig mehr als hundert Seiten. Sei Shonagon entwirft darin impressionistische Streiflichter. Es geht um Gestalten des Hofes von Kyoto, Feste, Ausflüge aufs Land, Wetterbeobachtungen, erotische Begegnungen. Allmählich wird die Methode der Autorin pointillistisch: Sie nimmt sich ein Thema vor und notiert dazu in loser Folge Kürzestbeschreibungen typischer Situationen. Aus Unverbundenem entsteht so durch freie Assoziation ein plastisches Gesamtbild.

Die Texte verraten große Sensibilität, auch Subjektivität, dennoch Konzentration aufs Wesentliche und poetische Durchdringung von Alltagssituationen. Als Kenner viel späterer europäischer Literatur ist man versucht, Parallelen zu den Feuilletons von Peter Altenberg zu ziehen – Parallelen im Stoff, in der Methode und sogar in der subjektiven Stimmung, die sich jeweils deutlich widerspiegelt. Wie bei Altenberg gibt es eine Entwicklung von der feinen Sensibilität zur gröberen Reizbarkeit, einer gewissen Unduldsamkeit, wenn nicht Misanthropie. Kritische Texte wie „Ärgerliche Dinge“ oder „Falsche und echte Kavaliere“, lange nur eingestreut in Betrachtungen ganz anderer Art, überwiegen zum Ende des Buches hin. Von den letzten zehn Einträgen gehören sieben in diese Kategorie. Die Titel sprechen für sich: „Unerfreuliches“, „Unangenehmes“, „Worüber man die Geduld verliert“ usw.

Murasaki Shikibu entwirft in ihrem eigenen erhaltenen Tagebuch ein recht ungünstiges Bild ihrer Kollegin, besonders von deren negativer Entwicklung im Lauf der Zeit. Von „Selbstzufriedenheit“ ist die Rede, dem Drang, „Anstoß zu erregen“, von „Überspanntheit“. Und: „Sie war einst eine Frau von hervorragendem Geschmack und feiner Lebensart; heute aber kann sie es nicht mehr lassen, sogar unter den unpassendsten Umständen sich alles zu gestatten, was die Laune des Augenblicks ihr eingibt.“ Der Übersetzer Arthur Waley (nach dem hier in deutscher Übertragung von Herberth E. Herlitschka zitiert wird) fügt dazu die Legende von der alten Sei Shonagon als einsamer Hexe in verfallener Hütte an. Vielleicht war es so …

Murasaki Shikibu könnte weitere nicht erhaltene Werke von Sei Shonagon gekannt haben, von denen sie anmerkt, dass sie „sie freigebig über den Hof ausstreut.“ Sei Shonagon selbst will dagegen ihr Tagebuch abgebrochen haben, da ihr dessen ungewollte Publizität unangenehm gewesen sei. Gleichwohl notiert sie noch mit Befriedigung, sie „habe so viel Lob geerntet, dass ich beschämt bin.“ Dann schließt sie: „O, wie lassen diese Blätter jeden in mein Herz sehen! Wie bedauere ich, dass sie so allgemein bekannt geworden sind!“

Sei Shonagon lesen – und man hat den Eindruck, auch in der Welt der Literatur könnten tausend Jahre wie ein Tag sein.

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