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Bahnhofsmilieu
Autor: ArnoAbendschoen · Rubrik:
Erotik

Sein Zug ging erst fünf Stunden später. Also bummelte er durch die Altstadt, saß in einem Café, dann am Flussufer und aß in der Nähe des Bahnhofs zur Nacht. Mehr als eine Stunde war noch herumzubringen. Er nahm die Samstagausgabe einer großen Zeitung aus Deutschland mit in den kleinen Wartesaal und begann, dieses Bergwerk des Wissens nach etwas Katzengold zu durchforschen. Rechts von ihm häuften sich bald viertelpfundweise die Teile des Blattes, die nur taubes Gestein enthielten.

Zu seiner Linken, an der Wand gegenüber, lag über drei oder vier Sitze bäuchlings der Länge nach hingestreckt eine Gestalt, dem rückwärtigen Anschein nach vermutlich männlichen Geschlechts. Wie der eine unruhig blätternd sich vergeblich um etwas Wissen von einigem Wert bemühte, so wälzte sich der andere drüben rastlos von einer Flanke auf die andere, um der instabilen Bauchlage noch etwas Bequemlichkeit abzutrotzen. Da dies nicht gelang, saß er schließlich auf und schaute sich um. Außer ihnen war niemand im Raum. Ihre Blicke kreuzten sich.

Der andere war knapp über zwanzig, schwarzhaarig, kräftig, wohlgenährt, recht angenehm die etwas knödelhafte Physiognomie. Er verband die Arglosigkeit jungen Fleisches mit forschem Mienen- und Augenspiel. Unverkennbar war er bajuwarischen Stammes. Vor siebzig Generationen waren sie über den Hauptkamm der Alpen vorgedrungen und hatten die Windischen allmählich gegen die Karawanken gedrückt. Und nun der da: hochgemut. Es war etwas kriegerisch Flottes um ihn, und es war nicht nur die schwere schwarze Motorradjacke, auch nicht nur die schwarzen Texasstiefel oder das enge Beinkleid aus schwarzem Tuch, das die fleischigen Schenkel eng umspannte. Aufmachung und Ausstrahlung fielen hier in eins und ergaben einen Gesamteindruck von kraftvoller und unsolider Begehrlichkeit.

Es kam jetzt ein älterer Arbeiter herein, nahm neben dem Jungen Platz und geriet bald mit ihm ins Gespräch: Älpler unter sich. Der Ältere wollte heim ins Gailtal, der Jüngere wohnte in Klagenfurt, wohin er unterwegs war - er kam ursprünglich aus einem Oberkärntner Gebirgstal, das bei Touristen wie Kraftwerksbauern seit langem beliebt ist. Der Ältere bewunderte die Freiheit des Jungen, der gerade, wie sich herausstellte, eine Reihe von Tagen hindurch auf dem Münchner Oktoberfest gesoffen hatte. Ob er beweibt sei, wollte der Ältere wissen, und der Jüngere verneinte. Der Arbeiter sagte, das sei gut, wenn hinterher niemand hadern könne. Offenbar lagen bei ihm die Dinge anders.

Der Jüngere hatte vielleicht etwas von einem lokalen Flussgott. Die Touristen und Kraftwerksbauer hinter sich lassend, hatte er sich in die tiefer gelegene Beckenlandschaft vorgewagt, war in der Schwemmlandschaft sesshaft und allmählich selbst ein anderer geworden, offener, genießender, weniger kernig, ausufernd.

Sie waren wieder zu zweit. Den Jungen fror jetzt, obwohl es ein milder Abend war. Vielleicht kam es daher, dass er – so würde die Zeitung aus Frankfurt es ausgedrückt haben – erst vor kurzem "vomiert" hatte. Er zog die Lederjacke aus, streifte einen Pullover über – wobei sich lebensfroh ein junger Bier- und Speckbauch abzeichnete – und trug die schwere Jacke dann über dem Pullover, hingeflegelt über zwei oder drei Sitze.

Zwei Bekannte von ihm erschienen auf dieser Kammerspielbühne. Mager und strizzihaft kamen sie in keiner Hinsicht in Betracht. Er prahlte ihnen gegenüber mit seinem unglaublichen Münchner Bierkonsum. Zur Nachkur war er dann noch in Salzburg gewesen und hatte weitergesoffen. So hatte er fünf Nächte lang durchgemacht: enorme, bewunderungswürdige Physis!

Er verspürte das Bedürfnis, vor ihnen mit Weibergeschichten aufzutrumpfen. Aber allein vom physischen Genuss geprägt, war er zu sehr der Realität verhaftet und zu wenig Phantast, um etwas zu erfinden. Es hatte sich diesbezüglich gar nichts abgespielt, wie er freimütig eingestand. Ja, die Frauen … Er seufzte. Kontinente schienen da infolge Plattenverschiebung auseinanderzudriften. Waren die Frauen zu anspruchsvoll oder war er nicht anspruchslos genug? Eitelkeit, Unsicherheit und Gekränktsein mischten sich auf seinem runden Gesicht. Ach, die Weiber …

Dagegen habe es Anträge von Schwulen geregnet. München sei voll von ihnen. Aber er doch nicht, doch nicht mit ihm! Es sei denn, man böte ihm viel Geld, sehr viel Geld - und nun sah er gerade zu dem Fremden hinüber. Achttausend Schilling - oder zehntausend? Die Phantasie, die ihm für heterosexuelle Visionen gefehlt hatte, riss ihn nun fort zu Preisvorstellungen, die einfach indiskutabel waren. Oder war er doch so viel wert? Nachher, als er zum Klagenfurter Zug gegangen war, war das nicht mehr unbedingt auszuschließen …

Sein Abmarsch: Klirren der Sporen, vibrierendes Fleisch. Die enge Lagerstatt im Liegewagen, im Geist mit ihm geteilt.


Einstell-Datum: 2014-11-08

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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