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Bickfords Cafe
Autor: Hartmuth Malorny · Rubrik:
Erzählungen

Wir kamen über die Brooklyn-Bridge. Wir kamen eigentlich immer über die Brooklyn-Bridge wenn wir die Schnauze voll hatten von den Bergen und Joes Mutter, besser gesagt, wenn wir genug Geld beisammen hatten. Er fuhr den alten Dodge wie einen Trecker, er schaltete die Gänge wahllos, bremste ohne Grund ab, um dann wieder flott Gas zu geben. Es machte nichts, dass er keinen Führerschein besaß. Kurz vor der Mautstelle kurbelte Joe das Seitenfenster runter, warf gekonnt er einen Quarter in den Korb und beschleunigte wieder.
Manhattan bestand zu Weihnachten aus Millionen zusätzlicher Glühbirnen, sie blinkten rhythmisch im gleichen Slogan: Merry Christmas. Nur die großen Reklamen am Time Square ließen ihre Models halbnackt erscheinen. Hier wurde im Zeichen des Winters die neue Frühjahrsmode angekündigt.
Wir fuhren zu Bickfords Cafe in der 42. Straße. Wir fuhren eigentlich immer zu Bickfords Cafe, wenn wir die Brooklyn-Bridge überquerten. Es war zweimal im Jahr, fast auf den Tag genau, die gleiche Zeremonie: Joes Freunde erwarteten uns und wir veranstalteten eine große Party, beziehungsweise ein großes Besäufnis, das uns die Entbehrungen der letzten Monate vergessen ließ. Die letzten Monate, das war die Zeit im Bergwerk, der Kohlenstaub und der Maschinenlärm, stickige Luft, schlechtes Essen und wenig Schlaf. Und dazu Joes Mutter, in deren kleinen Hütte wir zu dritt wohnten, die ständig über Gott redete und über ein enthaltsames Leben. Joe und ich saßen abends zusammen am Küchentisch, tranken ein oder zwei Flaschen Bier, sprachen wenig, weil wir ausgelaugt waren und öfter an Bickfords Cafe denken mussten. Sechs Monate schwere Arbeit, keine Frauen, dann der Weg nach New York, Manhattan - einmal im Sommer, das zweite Mal im Winter.
Joe sah mittlerweile aus wie ein richtiger Bergmann: stämmig, muskulös, tiefe Schatten unter den Augen, Kohlenstaub in den Poren seiner Haut, der sich hartnäckig hielt, und auch mit der besten Kernseife nicht mehr rauszuwaschen war. Joes Lachen klang heiser, aber das hörte man nur in Bickfords Cafe, sonst lachte er nie. Sein Haar wurde mit den Jahren immer dünner, er ging selbst außerhalb der Bergwerksstollen leicht gebückt und hatte den typischen Gang eines Gorillas. Aufrecht stehend maß er sechs Fuß, doch er konnte sich nach sechs Monaten gebeugter Haltung nicht daran gewöhnen, gerade zu gehen.
Der alte Dodge spuckte eine Qualmwolke aus dem Auspuff, das Getriebe ächzte unter Joes malträtierender Schaltweise.
“Wir schaffen es auch diesmal”, sagte Joe und lächelte.
Ich war mir nicht sicher, ob wir es immer schaffen würden. Nach drei Jahren in der Mine hatte ich die Nase gestrichen voll, ich wollte es Joe schon bei der Abfahrt gesagt haben, dass ich im Januar nicht mehr mitkommen würde, zurück zum Bergwerk, zu seiner Mutter und der schäbigen Hütte. Drei Jahre lang der gleiche Trott, aber wir brachten innerhalb von vier Wochen den Lohn der sechsmonatigen Arbeit für Alkohol, Frauen und Glücksspiel durch, hauptsächlich in Bickfords Cafe. Wir lachten und tranken, und am Tag der Abreise wurden wir schweigsam. Ein kurzes Aufbäumen, um dann wieder lange Monate Schwerstarbeit zu verrichten. Nein, ich hatte beschlossen, nächstes Jahr etwas anderes zu machen - kein Bergwerk, keine Kohle und auch nicht die Blockhütte, in der es im Sommer stickig heiß wurde, und im Winter klirrend kalt.
“Hey, Harry, wir sind da”, grinste Joe. Er parkte direkt vor dem Eingang. Es fing an zu schneien. Joe stieg aus und knallte die Tür mit Karacho zu, sodass der Dodge leicht zitterte. Wir waren am Ziel. Unsere Dollarbündel würde auch diesmal locker sitzen, zuerst das große Hello, Händeschütteln, Schulterklopfen, eine Runde Bier für alle und Whiskey für uns - aber nicht den billigen Fusel.
“Joe, Harry, wieder im Lande?”
“Wir waren nie weg, seit Truman Präsident ist! Eine Rutsche für alle!”
In Bickfords Cafe lungerten so ziemlich die schrägsten Typen rum, die weniger anspruchsvollen Nutten, Kleinkriminelle, Homos, Dealer, Drogenabhängige, und ein paar von der Polizei, die es nicht so genau nahmen, wenn sie Feierabend hatten. Jeder wusste, dass wir uns allabendlich spendabel zeigten; die Männer boten uns Joints und Speed an, die Frauen ihren Körper. Manchmal kamen ein paar Intellektuelle rein, und im Sommer hatte ich einen Kerl namens Jack kennen gelernt: smart, wortgewandt, der sich als Schriftsteller ausgab und irgendwie schnoddrig wirkte. Er war, wie ich, fast 30, und im Gegensatz zu mir dauernd pleite, während ich vier Wochen lang die Puppen tanzen ließ.
Joe drückte einem schmächtigen Jungen einen halben Dollar in die Hand, der unsere Pappkoffer aus dem Dodge holte und ins Hotel nebenan brachte. Wir quartierten uns immer in Bartons Hotel ein, Lee Barton wusste genau, wann wir ankamen und er wusste, wann wir abfuhren. Alles glich einer stetigen Wiederholung, aha, Joe und Harry sind da, die beiden Coal Miner aus den Bergen, die Hinterwäldler mit den green Bucks.
Joe trank den Whiskey wie Wasser, seine ansonsten verhärteten Gesichtszüge wurden weich, und er begann zu lachen. Sein dröhnendes Lachen, dieses für mich so seltene Geräusch, steckte an, obwohl ihn seine Freunde nicht anders kannten, weil sie ihn nur zweimal im Jahr zu Gesicht bekamen. Ich dagegen kannte Joes gewöhnliche Seite: ich sah ihn schwitzen, essen und aus dem Stollen kriechen, ich hörte ihn keuchen, stöhnen, husten und schnarchen. Ich kippte die ersten Drinks ebenfalls ziemlich schnell runter, es galt, den Kohlenstaub wegzuspülen, es war Zeit, mal wieder zu lachen. Das Leben begann gleich hinter der Brooklyn-Bridge. Sally lächelte mir zu; eine strohblonde Nutte, mit der ich im Sommer zwei Tage lang gebumst hatte ohne das Hotelzimmer zu verlassen.
Nein, dachte ich, du fährst nie mehr zurück, ein weiteres halbes Jahr hältst du nicht aus, und Joe lachte schallend, der Barkeeper stellte die nächste Flasche auf den Tresen, reichte zwei Zigarren rüber, gab uns Feuer, und wir mussten zuerst lange husten, und die Freunde und die Nutten klopften unsere Rücken wie Teppiche, und es klang dumpf. Ich wunderte mich, dass wir nicht staubten.
“Schön”, sagte Sally, nachdem ich ihr erzählt hatte, dass Joe vor zwei Monaten einen Schakal erschlagen musste. Über unsere Arbeit gab es nichts zu berichten, genauso wenig über mich oder Joes Mutter. Am liebsten wäre Sally, wenn wir gleich ins Hotel gingen, und möglichst einen ganzen Tag im Bett verbringen würden. Für einen 24-stündigen Liebesdienst verlangte sie 20 Dollar. Damit konnte man in New York eine Woche leben. Auf dem Land reichte es sogar für einen Monat. Joes Mutter konnte einfach nicht begreifen, warum wir unser sauer verdientes Geld in nur vier Wochen auszugeben in der Lage waren. Dabei hätten Joe und ich ohne weiteres die fünffache Menge des Geld verschleudert, die uns zur Verfügung stand.
“Harry, das ist ein Fest”, sagte Joe. Er weinte ein bisschen vor Freude.
Nach der zweiten Flasche Whiskey schluckten wir Speed, das machte uns kribbelig und leicht, die schweigsamen Abende am Küchentisch fielen ab, die Müdigkeit nach 8 Stunden im Stollen, die endlose Stille, alles wie weggeblasen, Bickfords Cafe gehörte uns, ach was, halb New York, Merry Christmas, Stadt meiner Sehnsucht. Ich gab dem schmächtigen Jungen eine Handvoll Münzen, er fütterte die Jukebox und Sally tanzte mit mir, dann packte uns Joe, seine langen Arme griffen uns und wir schwebten sekundenlang über dem Boden und unsere Beine zappelten, er stolperte, fiel hin, wir auf ihn drauf, immer noch lachend, prustend, wir standen wieder auf. Es gab keinen Grund liegenzubleiben, die Kneipe bewegte sich im Rhythmus, im Takt der Musik, während draußen weiße Flocken vom Himmel fielen.
“Komm, Sally”, rief ich, “lass uns ins Hotel gehen, ich will dich, und dann kehren wir zurück, die Nacht wird zum Tag, und der Tag zur Nacht.”
Sally und ich tanzten zur Tür hinaus, wir hielten kurz inne, ich legte meinen Kopf in den Nacken und spürte die Schneeflocken im heißen Gesicht, und der Schnee war weiß, und nicht schwarz. Ich pinkelte den alten Dodge an - nie wieder wollte ich darin sitzen und mich zur Mine bringen lassen. Joe, du altes Haus, dachte ich, fahr zu deiner Mutter, lass dich vom Bergwerk weiter kaputtmachen, aber ich gehöre in die Stadt, ich brauche den Krach, den Lärm der City. Ich dachte an Jack, der mir im Sommer 1950 seinen ersten Roman gezeigt hatte, The Town and the City, ich wollte hier oder unterwegs sein, mit Sally in Lee Bartons Hotel, und Bickfords Cafe als Ausgangs- und Endpunkt meiner Reisen.


Einstell-Datum: 2005-08-19

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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