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Harry Und Edda
Autor: Hartmuth Malorny · Rubrik:
Erzählungen

Eigentlich hatte Edda keinen Grund zu klagen, wenn man von ihrem Herzfehler absah, der sie zu einer, wie sie fand, höchst unnötigen Ruhe zwang. Sie bewohnte mit ihrem Mann Harry eine Villa nahe der Stadt; dreimal die Woche kam eine Putzfrau, mittags lieferte ein Restaurant das Essen, der örtliche Weinhändler schaute zweimal im Monat vorbei und der Arzt, Harrys ehemaliger Studienkollege, besuchte sie alle zwei Wochen und war höchst charmant. Sie stand jeden Tag gegen 9 Uhr auf, trank entkoffeinierten Kaffee, wartete auf den grauen Ford Transit, der das Essen brachte, und anschließend schaute sie fern, spielte Solitäre, las oder spazierte durch den großen Garten, der aus dem Grundstück ein Juwel machte. Ihren Mann sah sie lediglich abends von Zehn bis Elf, wenn sie dann nicht schon ins Bett gegangen war oder er nicht später als üblich von der Arbeit kam, und servierte ihm Whiskey und tauschte Banalitäten aus. So lief es seit 20 Jahren. Außerdem schliefen Harry und Edda in getrennten Zimmern. Edda litt an einer Herzinsuffizienz, die einer Herzmuskelentzündung zu Grunde lag. Anfangs verschrieb Doktor Klein, neben absoluter Ruhe, verschiedene Medikamente, die sie träge und gleichgültig machten, und mit den Jahren gewöhnten sich alle Beteiligten an den Zustand.
Harry hatte seit 10 Jahren ein Verhältnis mit seiner Sekretärin Luise, und weil er von ihr wie von einem Kollegen erzählte, ging sie davon aus, dass Luise ein Mann sei. Überhaupt wusste Edda nichts über Harrys Tätigkeiten, sie dachte, er würde eine Immobilienfirma leiten, doch in Wirklichkeit gehörte ihm die größte Partnervermittlungsagentur Deutschlands. Luise war ein freches und hübsches Ding und es verging nicht ein Tag, an dem sie Harry nicht drängte, sich endlich von seiner Frau zu trennen. Harry antwortete gewöhnlich: Ich will warten, bis Edda so eine Nachricht verkraften kann. Aber sie wussten beide, dass die Aussichten darauf schlecht standen, sie wurden alle älter.
Auch Harry hatte keinen Grund zu klagen, wenn er davon absah, wie einsam er sich in der leeren Villa fühlte. Bei der Hochzeit hatte er gehofft mit Geld und guten Kliniken Eddas Herzfehler zu kurieren, er wollte Kinder haben und jedes Wochenende Familienfeste feiern, oder Partys, er wollte Reisen unternehmen, er brauchte das pralle und volle Leben. Edda jedoch brauchte Ruhe, sehr viel Ruhe. Als sich nach 10 Jahren keine Änderungen abzeichneten, ging Harry eigene Wege. Die Villa hatte nur noch den Charakter eines Hotels, Edda den eines Portiers, der ihm abends den Whiskey brachte und Nebensächlichkeiten berichtete. Doktor Klein kümmerte sich um Eddas dilatative Kardiomyopathie und Harrys Diät, die dieser regelmäßig vernachlässigte und jedes Jahr ein paar Kilos mehr auf die Waage brachte. Luise war Harrys Körperfülle egal, er sorgte gut für ihren gemeinsamen Sohn und würde gut für das zweite Kind sorgen, das sie gerade austrug, aber er war nicht mehr der Jüngste und sie wollte endlich das erleben, wovon Harry seit 20 Jahren träumte: sie wollte ihre Kinder in einer Villa aufwachsen sehen und Gastgeberin sein, also eine reiche Dame neben einem reichen Mann. Anfangs hatte Luise gedacht, sie müsste sich nur schwängern lassen und es würde ganz von selbst laufen, doch mit den Jahren drängte sie öfter: “Mein Gott Harry, lass dich scheiden und schick Edda in ein Sanatorium.”
“Du weißt doch, ich will warten, bis Edda so eine Nachricht verkraften kann.”
Aber Luise gab nicht nach, wenn sie erst mit Harry verheiratet wäre, würde sie sich einen jungen Liebhaber suchen und später das Geschäft übernehmen. Edda musste raus aus der Villa, auf Teufel-komm-raus. Harry seufzte bei dem Gedanken an eine Scheidung, er liebte seine Frau wie eine teure Antiquität, die man behutsam abstaubt und möglichst an seinem angestammten Platz lässt, und obwohl sie sich auseinander gelebt hatten, war sie ein Bestandteil seines Lebens - wie ein Gemälde der Ahnengalerie, das fest zum Haus gehörte. Wenn er nachts manchmal aufstand und durch die vielen Räume ging, fühlte er die Einsamkeit nicht ganz so schwer, weil Edda in irgendeinem Zimmer schlief. Doch morgens war er bemüht frühzeitig das Haus zu verlassen - öfter schrieb er ihr belanglose Briefe, die er am Küchentisch unter die Kaffeetasse schob.
Überhaupt war ihm diese Art der Kommunikation am liebsten, denn im Grunde hatten sie sich nicht mehr viel zu sagen, besser, Harry durfte ja nichts erzählen: nichts von seinem Job, nichts über Luise, denn Edda konnte extrem eifersüchtig werden, was schlecht für ihre Gesundheit wäre, und deshalb redeten sie abends die wenige Zeit übers Wetter oder Harry hörte ihr schweigend zu. Ähnlich hielt er es mit seinem Freund Albert Klein, der seine Ehe ebenfalls in den Himmel lobte. Beide fühlten sich voreinander wie Schauspieler, wenn es um die Ehefrauen ging.
Edda hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden, ihre Welt war ein rosafarbener Tunnel, hell erleuchtet, in dem ein Vakuum herrschte, alles war bequem und geregelt, denn Doktor Kleins Medikamente erlaubten ihr, das Leben von der unkomplizierten Seite zu nehmen. Sie fühlte sich immer ein wenig müde und verbrachte die Tage in der scheinbaren Gewissheit, dass sich daran nichts ändern würde. Mochte Harry vor lauter Arbeit nur zum Schlafen nach Hause kommen, aber er kam nach Hause. Sie glaubte, das Geschäft erforderte seine ständige Bereitschaft, er sprach nie darüber und hatte schon vor der Ehe die Lüge der Immobilienfirma ins Leben gerufen; zuerst war es eine Notlüge, dann wurde sie in der Reihe der anderen Lügen zu einer neuen Wahrheit.
Wäre Luise nur ein dummes Flittchen in der Position einer Chefsekretärin, hätten Harry und Edda bis zum Ende ihrer Tage so weitermachen können, sie störten sich gegenseitig nicht und hielten ihre Träume aufrecht, sie kapitulierten vor der Wirklichkeit. Doch den Anstoß gab Doktor Klein, als er mit Harry zu Mittag aß und über einen Bericht sprach, wonach es amerikanischen Forschern gelungen sei embryonale Stammzellen zu züchten, die den Herzmuskel regenerieren konnten. Harry fiel vor Schreck die Gabel ins Essen. “Mein Gott”, stammelte er, “das bedeutet ja...”
“Ja”, sagte Klein, “das bedeutet eine Chance. Hör zu, diese Stammzellentransplantate besitzen die Fähigkeit, sich zu jeder der mehr als 200 verschiedenen Gewebetypen im menschlichen Körper zu entwickeln.”
Luise freute sich besonders. Anfangs hatte sie gedacht, Edda würde eines Tages einfach umkippen und das Problem so aus der Welt schaffen, doch nun sah die Sache anders aus, und Harry keuchte beim Orgasmus, sein Atem schepperte, er wusste, dass ihm mehr Bewegung und weniger Essen gut tun würde, aber er aß und trank viel zu gerne, vielleicht um sich abzulenken, vielleicht aus einem inneren Konflikt heraus. Gewöhnlich benutzten sie den Besprechungsraum zu Mittag, wenn das Büro leer war. Luise zog sich wieder an.
“Diese Stammzellen, die wären auch was für dich”, sagte sie neckisch.
“Oder für dich”, frotzelte Harry, weil Albert bemerkt hatte, dass damit auch natürliche Brustvergrößerungen möglich waren.
Trotz ihrer traumatisierten Wirklichkeit registrierte Edda eine leichte Veränderung; während der abendlichen Gespräche redete Harry etwas mehr, hörte interessierter zu und trank sogar einen zweiten Whiskey, bevor er rauf ins Arbeitszimmer ging - und sie sich schlafen legte. Er wird mich immer lieben, dachte Edda entzückt und löschte das Licht.
Harry saß im Arbeitszimmer und grübelte.
Seit Doktor Klein aus den USA zurück war und Edda mit Stammzellen behandelte, war jedes EKG eine Überraschung, jede Ultraschallaufnahme ein kleines medizinisches Wunder. Nur die Beruhigungstabletten musste sie noch einnehmen. “Wenn das so weitergeht, wird sie in einem halben Jahr Bäume ausreißen”, meinte Albert. Darüber grübelte Harry. Es sah ganz danach aus, als sei der Zeitpunkt gekommen, wo Edda die Nachricht einer Trennung verkraften könnte. Er schrieb ihr einen Brief, einen ohne Lüge und mit der harten Konsequenz. Er würde ihr einen höheren Festbetrag und eine monatliche Rente zugestehen. Dann würden Luise und die beiden Kinder einziehen, dann würde er weniger arbeiten und eine neue Diät beginnen.
Als der Brief fertig war, überlegte Harry ein paar Minuten, druckte ihn aus, denn er hatte ihn auf dem Computer geschrieben, und deponierte ihn unten in der Küche im Schrank neben der Kaffeedose. Dort würde sie ihn morgen finden und lesen.
Edda liebte nicht nur Harry, sie liebte auch seinen Computer, öfter ging sie noch vor dem Kaffee ins Arbeitszimmer und spielte eine Runde Solitäre, und dabei entdeckte sie zufällig die Kopie des Briefes. Sie las die Zeilen mehrmals, aber der Inhalt veränderte sich nicht, es war, als sei etwas hereingekommen, was jahrelang draußen im Verborgenen gelegen hatte, oder die latente Angst vor der Realität. Es gab kein Kartenhaus, das hätte zusammenfallen können, vielmehr wurde sie aus ihrem rosafarbenen Tunnel gesaugt - jemand hatte das Vakuum deaktiviert. Eddas Herz schlug schnell, aber gleichmäßig. Sie blieb am Schreibtisch sitzen bis es dunkel wurde.
Doktor Klein hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine genaue Dosierung des Stammzellenpräparats einzuhalten sei, im schlimmsten Fall könne es zum Tod führen. Edda nahm die vorgeschriebene Dosis ein. Sie trank Wein dazu.
Es war fast Elf Uhr, als Harry den Wagen vor der Garage abstellte. Er fuhr nie in die Garage.
“Guten Abend Liebling”, sagte er und versuchte den üblichen Tonfall zu imitieren und gab sich entspannt, was er gar nicht war.
“Harry, Liebling”, antwortete sie wie jeden Abend.
Harry legte den Mantel ab und schlüpfte in ein Paar bequeme Hausschuhe. Er rechnete fest damit, dass sie ihm heute keinen Whiskey servieren würde, aber Edda griff wie immer die Flasche aus dem Regal und verschwand in der Küche. Sie schüttete
zwei Finger breit ins Glas und öffnete die Gefriertruhe, um einen neuen Beutel Eiswürfel zu entnehmen. Dabei fiel ihr Blick auf den Styroporkarton. Ohne zu überlegen holte sie ein Reagenzglas raus, erwärmte es 30 Sekunden in der Mikrowelle und träufelte den gesamten Inhalt in den Whiskey. Während sie den Drink mixte, pfiff sie einen kürzlich gehörten Schlager. Edda war mit den Gedanken weit weg, Harry saß im Wohnzimmer und wartete auf den Whiskey, und warum sollte es jemals anders sein?
“Liebling, dein Drink!” Harry lümmelte im Sessel und dachte erleichtert, sie kann sogar pfeifen, es ist gut, dass wir nun reinen Tisch machen. Er sah das Glas. Eddas Miene verströmte die typische Sorglosigkeit der vergangenen Jahre. Nichts war anders.
“Ist wichtige Post gekommen?”, fragte er nebenbei. “Ist sonst was passiert?”
“Nein, Liebling”, sagte sie.
Harry stutzte, Luise hat Recht, so kann es nicht weitergehen, Eddas Herz ist endlich okay, sie liefert gerade den Beweis; vermutlich wird sie gleich die Überlegene spielen, oder einen Verzweiflungsakt inszenieren oder alles für einen Jux halten. Ein letzter Strich, ein Punkt. Täglich gingen Ehen kaputt, jeder suchte die Selbstverwirklichung, jeder ahnte, wie kurz ein Leben sein kann. Der Whiskey schmeckte wirklich gut - den und die Montecristo-Zigarren würde Harry ab morgen einschränken, ihm stand ein zweiter Frühling bevor. Das Geschäft lief blendend und die verhältnismäßig große Summe, die er Edda zugestand und die seinem Konto ziemlich klein vorkam, würde er leicht verkraften. Eddas Stimme säuselte im gleichen Ton wie immer, sie redete vom Wetter und darüber, dass es sich positiv für die neue Gartenbepflanzung auswirkte. Dann fielen ihm die Augen zu. Seine Frau löschte das Licht, nahm ihre Beruhigungspillen, zog sich um, putzte die Zähne und legte sich oben schlafen. Sie schlief traumlos und wurde erst durch die hereindringende Morgensonne geweckt.

Harry lag noch so im Sessel, wie sie ihn abends verlassen hatte. Seine Augen waren geschlossen und sein Mund stand offen. Der Aschenbecher lag auf dem Boden, und der Stummel der Montecristo-Zigarre hatte ein hässliches Loch in den Perserteppich gebrannt. Armer Harry, dachte sie und griff zum Telefon.
Doktor Klein eilte herbei, er stellte Harrys Tod fest und diagnostizierte Herzstillstand. Mehr kam ihm nicht in den Sinn.
Edda spielte die Rolle einer todtraurigen Witwe, und im Grunde war sie das auch. Niemand würde die Wahrheit erfahren, keiner käme auf den Gedanken diese naive, sensible und ruhige Frau eines Mordes zu bezichtigen. Albert Klein sah den Tod seines Freundes wie vom Schicksal bestimmt, er wusste nicht, dass Harry seit Jahren eine Liaison mit Luise hatte, er wusste nur, dass Harry gewillt war eine Menge Geld für die Genesung Eddas auszugeben.
“Was soll nun werden?”, schluchzte Edda, “ich bin doch so unbedarft.”
Fürwahr, dachte Albert und sagte: “Ich werde mich um die nötigen Formalitäten kümmern”, worauf sie ihn dankbar ansah.
“Kommen Sie, Albert, trinken Sie einen Kaffee mit mir.”
Während er ihr in die Küche folgte, betrachtete er ihre Figur, die durch den Schlafrock kaum verdeckt wurde. Seine eigene Ehe war seit Jahren ein Fiasko, und mehrmals hatte er mit dem Gedanken gespielt sich Edda zu nähern, weil er eine Schwäche für sie hatte, er wusste nicht, dass Harry immer Luise meinte, wenn sie beim Essen über Edda redeten.
Er konzentrierte sich auf die Situation.
“Also, einen Kaffee, soll ich ihnen helfen?”
“Ist gut, die Dose steht im Schrank, gleich links.”
Albert öffnete den Schrank, sah den Brief, und aus einem Impuls heraus faltete er ihn auseinander und las.


Einstell-Datum: 2005-08-19

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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