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Das Licht
Autor: Christian Heinke · Rubrik:
Kurzgeschichten

Wir sitzen zusammen in der Wanne. Das Wasser ist so heiß, dass das kleine Bad erfüllt ist vom Dampf. Um es so heiß zu kriegen, habe ich den ganzen Rest unserer Kohlen-Ration verfeuert.
Egal. Für uns wird es eh kein Morgen geben. Betty lehnt mit dem Kopf auf dem Wannenrand und raucht. Den Hals hat sie herausfordernd vorgestreckt. Sie liebt es, mir ihre Schlagader so zu präsentieren. Eine ständige Provokation. Sie hat die Augen geschlossen. Ich lecke mir die Lippen. Doch ich widerstehe dem Drang, zuzubeißen. Betty ist da nicht so zimperlich. Einmal hat sie mir eine Bratpfanne über den Schädel gehauen, um an mich ranzukommen. So ein Miststück. Ich werde uns nachher etwas fangen.
Zum letzten Mal.
"Gib mir auch einen Zug.", sage ich und betrachte ihren Körper. In der alten Zeit war sie mal Model gewesen. Sie meint, dabei habe sie gelernt das zu bekommen, was sie will.
Ich weiß bis heute nicht, was sie an mir fand. Eine Frau wie sie kann auch heute noch jedes Mädchen haben, das sie will. Aber sie wollte mich. Ich gebe ihr die Zigarette zurück. Meine Finger sind schrumpelig vom heißen Wasser. Betty sieht mich an.
"Findest du nicht, wir sind jetzt heiß genug? Ich will endlich vögeln." Sie glaubt, dass ich zimperlich bin. Eine Memme. Im Grunde habe ich mich an die Kälte unserer ja Körper gewöhnt. Doch wenn wir uns lieben, dann... dann kann ich es einfach nicht tun, wenn unsere Körper kalt sind. Nicht wenn wir uns lieben.
Ich trinke den letzte Rest schalen Blutes aus der Flasche (Ist auch unser Letztes) und stehe auf.

Als wir gerade so schön dabei sind spüre ich plötzlich, wie sich ihre Fänge in meinem Hals graben.
"Was soll der Scheiß?, fauche ich und stoße sie zurück. All meine Gedanken an guten, letzten Sex sind mit einem Mal verflogen.
"Macht der Gewohnheit", stöhnt sie und leckt sich die blutigen Lippen. Sie merkt, wie ich mich versteife und bläst sich genervt das Haar aus dem Gesicht.
"Nun hab dich nicht so. Ich habe Hunger, okay?!" Sie streichelt mir die Brust um mich zu besänftigen. Sie weiß, dass ich ihr nie lange böse sein kann.
"Wenn Du Dir ein bisschen Mühe gibst, fange ich Dir nachher was frisches", sage ich.
"Yes, Mam" grinst sie zufrieden und ihr Kopf verschwindet zwischen meinen Beinen.

Später. Unten auf der Straße sehe ich noch einmal nach oben, und versuche unter den im Wind flatternden Planen die Fenster unseres Apartments auszumachen. Ich werde es vermissen. In der alten Zeit war so eine Bleibe in der Upper Westside unerschwinglich. Gab es nicht einmal einen Film mit einer Frau, die in einer ähnlichen Straße wie dieser lebte? Wie hieß noch mal die Schauspielern? Ich frage Betty danach. Sie schulterte gerade den Rucksack mit unserem Zeug. Sie trug ihr Lederoutfit. Ich hatte mich für einen schwarzen Overall entschieden. Nicht schön, aber praktisch.
"Ich glaube sie hieß Meg. Meg Jolie. Ja. Stimmt, so hieß sie." Sie nickt. "Ich hatte mal einen Fang, die sah genauso aus."
"Wie war ihr Name?", frage ich und sah sie an. Betty runzelt die Stirn.
"Von wem?"
"Na, von dem Fang. Wie war ihr Name?"
"Woher soll ich das denn wissen?", fragt sie. "Bist du eifersüchtig?" Ich lache traurig.
"Nein, ich bin nicht eifersüchtig. Erkennst du das denn nicht? Genau deshalb tun wir doch heute, was wir tun. Damit dies alles endlich aufhört." Betty zuckt mit den Achseln.
"Ich tue es wegen dem Licht."
"Dem Licht?" Ich hatte von ihr eine übliche, dumme, den Sachverhalt abtuende Antwort erwartet. Doch ihr Gesicht ist ernst:.
"Ja, dem Licht, verflucht noch mal. Können wir jetzt?"

Wir fahren schweigend durch die Nacht. Der kleine VW-Bus ächzt unter der Last. So ein nuklearer Sprengkopf ist ganz schön schwer. Es war eine ewige Plackerei ihn aus dem Stützpunkt im Norden hierher in die Stadt zu schaffen. Ich werfe einen Blick auf den Timer: Noch knapp eine Stunde. Zeit genug.
Betty sitzt am Steuer und sieht zu mir rüber: "Skrupel?", fragt sie. Ich schüttelte den Kopf. "Nein. Keine Skrupel."

Es hatte irgendwo in Asien begonnen. Wie diese Scheißwelle damals. Plötzlich begannen Dörfer am Leben nicht mehr teilzunehmen. Menschen die die Dörfer aufsuchten, kamen nicht wieder. Hilfsorganisationen begannen Leute zu schicken. Sie fanden menschenleere, scheinbar ausgestorbene Dörfer vor. Doch des Nachts hießen die Dorfbewohner die Fremden herzlich willkommen. Durch die infizierten Rückkehrer erreichte es die ersten Städte. Mit den Vielfliegern verbreitete es sich Land für Land über die Welt. Niemand wusste genau, was eigentlich geschah. Ich arbeitete als Journalistin für ein Provinzblatt in einem Kaff in Connecticut. Als bei uns die ersten Fälle auftraten, begann ich mit meiner Recherche. Ich sah mich schon den Pulitzer bekommen: Geheimnis der Seuche enthüllt: Vampire! -  Stattdessen bekam ich etwas anderes. Ich bekam eines Nachts Besuch von meiner Nachbarin. Ich hätte nie geglaubt, dass Blut so spritzen könnte. Sie war noch unerfahren und ruinierte neben der Bettwäsche auch meine Tapeten. Ich hatte gerade frisch renoviert. Doch es tat gar nicht weh. Und als ich in der Nacht darauf erwachte, tat gar nichts mehr weh. Ich hatte nur unendlichen Durst - wie all die Anderen.
Irgendwann war die Stadt ausgeblutet und es begannen sich marodierende Banden zu bilden, die sich nun selbst zerfleischten. Jede Faser totes Fleisch wurde gerissen, gekaut und gelutscht, um an letzte Tropfen Blut zu kommen. In den Krankenhäusern und den Altenheimen muss es am schlimmsten gewesen sein. Am Ende leckten sie die getrockneten Reste von den Kacheln. Einige wühlten sich sogar in frische Gräber. Nichts war mehr heilig, außer die Jagd nach Hämoglobin.
Schließlich fuhr ich nach New York, in der Hoffnung dort etwas zu finden, was meinen kalten Körper in Bewegung hielt. Ich wurde nicht enttäuscht. Und schließlich traf ich auch Betty. Statt sich um den Fang zu streiten, teilten wir ihn. Es war ein junger Bursche. Irgendwas mit Börse hatte er gemacht. Sein Überlebensindex sank rapide, als wir mit ihm fertig waren. Ich überließ Betty seine ganze Leber. Wir waren verliebt.
Am Ende aller Dinge begann sich plötzlich wieder eine Ordnung zu bilden. Natürlich nicht mehr so, wie früher. Aber es begannen sich Clans zu bilden, Gruppierungen und schließlich herrschte im guten alten New York ein selbsternannter Fürst der Finsternis.
Darklord machte Nägel mit Köpfen. Er hatte einen Plan. In der alten Welt war er ein kleiner Scheißer gewesen, doch jetzt war Dark ein Gott. Er beschloss per Dekret die Stadt zu verdunkeln. Jedes Fenster musste schwarz übertüncht und jede Fassade mit Planen verdecket werden. Schließlich sah ganz Manhattan wie eine gigantische Arbeit von diesem alten Ficko Christo aus.

Jetzt hocken Millionen von ewig hungrigen Blutsaugern in dieser toten Stadt. Nun, ein paar Ressourcen gibt es noch. Sie verstecken sich in den Tunneln, wie die Juden damals in den Ghettos. Doch 'Darklord' schickt seine Truppen hinaus ins Land, um frisches Blut für seine hungrige Schar zu beschaffen. Sie kommen auf Armeelastern und Güterzügen. Dann werden Feste gefeiert. Im Central Park, oder im Madison Square Garden. Manche Fänge werden gleich vor Ort verarbeitet. Es heißt, dafür werden im mittleren Westen riesige Lager gebaut. Ihr gezapfter Lebenssaft wird in Tanklastern angeliefert und in gekühlte Flaschen verfüllt. Die Stadt, die niemals schläft, erwacht wieder zu einem unheiligen, nächtlichen Leben.
Ich glaube, der Gedanke dem ganzen ein Ende zu machen kam mir, als ich die ersten Blut-Raffinerien vor den Toren der Stadt sah. Gott. Es sind doch Menschen. So wie wir einst Menschen waren. Wir sollten es doch besser wissen.
Damit würde bald Schluss sein. Ich sehe wieder zur Anzeige.
Fünfzig Minuten.

Wir sind fast da. Plötzlich nehme ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr.
"Halt an!", rufe ich und Betty tritt auf die Bremse. Ich springe hinaus.
"Eine Frau mit ihrem Kind.", rufe ich. Betty nickt mir zu. Ich hatte ihr einen frischen Fang versprochen. Zum allerletzten Mal.
Sie sind wohl aus den Tunneln oder sie haben es geschafft von einem der Laster zu springen. Sie scheinen sich nicht auszukennen, denn sie laufen in eine Sackgasse. Wahrscheinlich hat sie der Hunger an die Oberfläche getrieben. Auf der Suche nach Dosen mit Nahrung die für uns Kreaturen der Nacht keine Bedeutung mehr haben, müssen sie die Zeit vergessen haben. Dummer Fehler.
Als ich sie erreiche sind bereits drei Andere an der Mutter dran. Ich höre ihr schreien.
Die Kleine läuft mir direkt in die Arme. Von der Mutter sehe ich nur noch wie Fetzen von ihr in der Luft wirbeln, als ein dutzend Vampire um sie kämpfen. Ich schnappe mir das Kind und laufe zurück zum Bus. Ein paar der Hungrigen folgen mir.
"Fahr los!", rufe ich und springe in den Bus. Betty gibt Gas und wir rasen davon. Sie riecht das warme, frische Fleisch der Kleinen.
"Na los, worauf wartest du?", faucht sie. Ich seufze.
"Wie heißt Du?", frage ich das Mädchen. Es ist höchstens sieben und hat blondes, schmutziges Haar.
"Naomi." flüstert die Kleine. "Bitte, ich will zu meiner Mama." Sie wehrt sich und ihr kleiner Körper zittert in meinen Armen.
"Shh, Naomi. Shh.", sage ich. "Gleich bist du bei deiner Mama. Shh. Es tut gar nicht weh.", flüstere ich ihr ins Ohr, bevor ich zubeisse.
Dies ist die Letzte. Jetzt ist Schluss, denke ich und trinke ein wenig. Danach ist Betty an der Reihe. Sie bemerkt, wie ich sie dabei beobachte.
"Was?", fragt sie und hält inne. Blut rinnt ihr Kinn herab.
"Nichts.", sage ich, sehe weg und höre sie schlürfen.
Zwanzig Minuten.

Wie hypnotisiert starre ich auf die Kleine. Es sieht aus, als ob sie schläft.
Betty berührt mich am Arm.
"Wir sind da."
"Was?" Ich kann mich kaum vom Anblick der Kleinen lösen.
"Wir
sind da."
Fünfzehn Minuten.

Wir wuchten den Karren mit dem Sprengkopf in den Lastenaufzug. Es gibt eine Schrecksekunde als sich der Aufzug nicht rührt. Dann schließen sich die Türen und wir fahren hinauf. Das letzte Stockwerk zum Dach müssen wir den Sprengkopf schleppen. Für zwei Menschen unmöglich, aber wir sind ja keine Menschen mehr.
Das frische Blut hat wirklich geholfen. Es war gut, dass wir noch etwas davon hatten. Betty errät meine Gedanken.
"Siehst Du, der Fang ist nicht umsonst gestorben."
"Naomi", sage ich. "Ihr Name war Naomi."
"Wie auch immer", entgegnet Betty grunzend.
Dann sind wir oben.
"Hallo", begrüßt uns eine Stimme. Es ist Darklord mit seinen Männern.
Sieben Minuten.

"Was soll das, Rachel?", fragt mich Darklord.
"Es muss hier enden, Dark.", sage ich und er schlägt mir ins Gesicht.
Meine Lippe blutet. Ich betrachte sie belustigt. Der letzte vergossene Tropfen Blut.
"Stell die Scheiße ab, sofort", befiehlt er und schlägt mich wieder. Betty lacht. Er sieht sie wütend an. Plötzlich hat Dark einen Holzpflock in der Hand und rammt ihn Betty mitten ins Herz. Sie starrt ihn verblüfft an und sieht dann noch einmal zu mir. Eine Träne rinnt ihre blasse Wange hinab. Dann zerfällt sie zu Staub.
"Nein!", schreie ich. Man hält mich fest. Das ist nicht fair. Sie wollte doch das Licht sehen.
"STELL DIE SCHEISSE AB!", schreit Dark mich an und hält mir drohend den Pflock vor die Nase. Jetzt muss auch ich lachen. Was für ein Idiot.
"Was gibt es da zu Lachen, Du dumme Schlampe?!", keift er, Fürst der Finsternis, der große Diktator.
"Aber Dark, darum geht es doch gerade", sage ich ruhig. "Die Scheisse hört jetzt endlich auf."
Dark Gesicht zeigt deutlich sein Bemühen, meine Worte zu verarbeiten. Ich sehe weg. Ich will als letztes etwas anderes sehen.
Ich sehe zum Sprengkopf. Der Timer blinkt und gibt ein leises Piepsen von sich.
Null Minuten.

Betty hat recht behalten.
Es hat sich gelohnt. Für diesen kurzen, strahlenden, reinen Moment voller Licht.
Es ist wunderschön.


Einstell-Datum: 2005-04-19

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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