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Essen mit Paul Theroux oder Florenzspaziergang
Autor: Karsten Rube · Rubrik:
Sonstiges

Durch die historische Altstadt von Florenz zu spazieren, ist etwa so, als würde man sich in einem sehr kleinen Wald verlaufen. Wenige Stunden benötige ich, bis mich der Eindruck befällt, überall schon mal gewesen zu sein. Die Altstadt beschränkt sich auf ein überschaubares Areal, in dem es von Gassen nur so wimmelt, die sich schmal und dunkel verwinkeln, hohen Palastwände von hinten, fensterlos gemauert. Wo zum Geier bin ich, frage ich mich, um aus einer Gasse zu treten und den Dom vor mir zu sehen, den ich eben hinter mir gelassen hatte. Drei Gassen rechts, wieder eine links, den Blumenhändler kenne ich schon, den schicken Schreibwarenladen habe ich auch schon besucht, wieder eine Gasse zur Seite und ich finde mich vor der Kirche St.Croce, vor der ein Stadion aufgebaut wurde, mit Sandbelag. Heute nachmittag spielen hier die "Grünen" gegen die "Roten" eine Art Renaissance-Rugby.

Nachdem ich wieder ein paar Gassen durchstreift habe, finde ich die Markthalle vor mir, innen, wie außen geschäftiges Treiben. Innen das Obst, der Wein, Hühner mit und ohne Beine, manchmal die Beine auch alleine, außen der ganz normale Schleuderschnickschnack, den der Weltreisende auf seiner Reise so braucht: Briefpapier, Stifte, Dosen, Michelangeloschürzen mit nacktem David vorn drauf, Papierkörbe aus Leder, Fußballhandtücher. Egal, auf welche Weise ich mich in die Gassen stürze, um mich mutwillig zu verirren und an irgend einem Ort wieder aufzutauchen, an dem ich noch nicht war, immer lande ich auf der Piazza della Republica, vor dem Dom oder an den Ufficien. Irgendwann habe ich Hunger und suche das Restaurant, dass ich auf meinen Streifzügen bereits zweimal als besuchenswert eingestuft habe. Seltsamerweise muss ich nun doch ziemlich intensiv suchen, um es wiederzufinden. Ich weiß nicht, warum sich Bauwerke und Restaurants ausgerechnet dann verstecken, wenn man sie gezielt aufsuchen will. Ich gebe die Suche auf und will mich mit einem Sandwich zufrieden geben, als sich mein Blick aus dem Augenwinkel in einer Gasse verliert, in dem sich das Restaurant versteckt hält.

Im Restaurant Giovanni di San Lorenzo in der Via di San Lorenzo bietet der Besitzer auf minimalstem Raum einer maximalen Schar an Lebensmittelenthusiasten Platz. Ein Kellner weißt mir einen Platz zu. Um mich auf den eng an den Tisch geschobenen Stuhl zu setzen, muss ich den Gast am nebenstehenden Tisch bitten, sich ganz eng an seinen Tisch heranzudrücken. Er meint, er könne auch aufstehen, damit ich mich setzen könne, doch dann müsse ich anschließend wieder aufstehen, damit er sich setzen kann. Nach einigen risikofreudigen Versuchen gelingt es uns so am Tisch zu sitzen, dass jedem der Bauch an der Tischplatte klemmt. So kann zumindest nichts runterfallen.
In der gut gefüllten Gastwirtschaft wird temporeich geschwafelt und getafelt. Für den Wirt wäre eine höhere Verkehrsdichte gewinnbringender, deshalb lässt er nicht lange auf sich warten und steht auch schon mal zum Abräumen bereit, wenn der Teller noch nicht ganz leer ist. Seine Lieblingsgäste, um die er besonders umherschleimt, sind die, die möglichst viel in kürzester Zeit essen. Besonders Menschen, die offensichtlich einer Reisegruppe angehören liebt er, weil diese noch ein gewisses Programm vor sich haben und damit terminlich bedingt schnell wieder verschwunden sind. Entsprechend umgibt mich ein Durchschnitt der reisefähigen Welt.
Ich verschwinde hinter einer großen Karte, die ich auf dem engen Raum kaum handhaben kann. Ich stelle sie vor mir auf, doch dann nimmt sie mir das Licht und ich sehe nur noch wenig.

Neben mir sitzt ein hungriger Amerikaner, erkennbar an der für Amerikaner typischen Esshaltung. Eine Hand liegt unter dem Tisch, während er mit der anderen unermüdlich die Nudeln in sich hineinschaufelt. Dabei senkt er bei jedem Bissen sein Gesicht gefährlich nahe auf den Teller herab.
Wir Europäer halten viel auf unsere Esskultur. Gesittet am Tisch sitzen zeigt eine gute Erziehung. "Sitz gerade", "Hand vom Kopf", "Iss mit Messer und Gabel", "Schlurf nicht". Knigge muss viel Zeit gehabt haben, um all dieses Dinge aufzuschreiben, die einem von frühester Kindheit die Lust am familiären Mittagstisch vergällten. Aber es sitzt tief und wir belächeln den Amerikaner, der diese Erziehung offenbar nicht genoss, als manierenlosen Tropf. Dabei ist das nicht richtig. Diese Esshaltung wird dem Amerikaner genauso in mühseliger Erziehungsarbeit eingehämmert, wie uns das Gegenteil. Wenn man bei uns die Nudeln auf dem Löffel um die Gabel dreht, lässt der Amerikaner die Hand unterm Tisch verschwinden. Für ihn gehört sich das einfach so. Das was für uns wie schlechte Manieren aussieht, ist für ihn Ausdruck von Esskultur. Vielleicht passt das ja irgendwie in ein Land, dass den Burger erfunden hat und das über mehr übergewichtige Menschen verfügt, als jedes andere Land der Erde. Einerseits halten wir die chinesische Methode, Reis aus einem zum Munde geführten Schälchen mittels Stäbchen in den Mund zu kicken, für einen Ausdruck jahrtausende alter Hochkultur, während wir andererseits die amerikanische Methode, die nicht viel anders aussieht, mitleidig belächeln.

Seine Essmethode findet allerdings die Gunst des Wirtes, denn sie ist effektiv und der Teller schnell leer. Er strahlt vor sich hin. "Nice" sagte er und meint den Wein. Er gießt sich einen hiesigen Roten in sein großes Glas und trinkt ihn, wie ich es mit Wasser tue, wenn der Tag heiß ist. Seine Flasche ist schneller alle, als mein Glas. Mit glücklichen Augen betrachtet er mein Schweinefilet und bestellt sich noch ein Dessert. Cantucci - komische trockene Kekse, die er in Vino Santo eintaucht und geräuschvoll in den Mund saugt. Er lässt sich Zeit, bis mein Teller abgeräumt ist und bietet mir ein paar von den Keksen an. Ich weiß nicht, wie viel er vor meinem Erscheinen zu sich genommen hat, aber sein Aufnahmepotenzial scheint sich der Phase völligen Ausgefülltseins zu nähern. Er ist klein, aber drahtig, wie jemand der viel wandert. Längeres graues Haar wellt sich über seine Ohren, länger also, als für einen anständigen Amerikaner üblich. Sein Gesicht wirkt, als habe es bereits alle Klimazonen dieser Welt über sich ergehen lassen müssen. Ein Reisender, der es sich zum Hobby oder zur Berufung gemacht hat. Jemand der es sich leisten kann, es sich gutgehen zu lassen. Er spricht nicht mehr ganz deutlich, aber ich bekomme mit, dass er sich zu Klöstern hingezogen füllt, die eigenen Wein anbauen. Er habe sich südlich von Siena für ein paar Tage in eine Klosterzelle eingemietet. Könne dort an Verkostung und Klosterleben teilnehmen. Wäre er nicht Amerikaner, die ihr Land deshalb lieben, weil es ihnen die Möglichkeit gibt, es immer wieder zu verlassen und wiederzukommen, wenn es ihnen passt, er könnte sich vorstellen, auf das Privileg Amerikaner zu sein zu verzichten um in einem Weinkloster in der Toscana sein Leben als armer, aber glücklicher Weinbruder beschließen.
Seine Art zu Reden und seine Sichtweise darzulegen erinnert mich stark an den Reiseschriftsteller Paul Theroux, der zu meinen Lieblingsautoren zählt. Eine gewisse Skepsis an allem klingt mit, aber immer mit genug Neugier, die die Möglichkeit birgt, Vorurteilen eine überraschende Abfuhr zu erteilen. Dabei spielt die amerikanische Sichtweise eine wichtige, aber nicht unkritisch betrachtete Rolle. Das Alter würde stimmen, knapp 60 und auch das Gesicht weißt eine gewisse Ähnlichkeit auf, aber ich bin zu höflich, um ihn danach zu fragen. Es ist das Privileg des reisenden Autoren unerkannt zu bleiben, wie Mr. Nobody seine Erfahrungen zu sammeln, zuzuhören ohne im Mittelpunkt zu stehen und still zu betrachten, was es zu betrachten gibt. Um ehrlich zu sein, ist es dass, was den meisten Menschen auf Reisen passiert und nur wenige müssen sich anstrengen, unerkannt zu bleiben. Was dann genau die jenigen sind, auf die der große Rest der schreibenden Reisenden mit einem gewissen Neid blicken.

Trotz der verwunderlichen Tischmanieren vom mutmaßlichen Paul Theroux, sieht sein Platz nicht bekleckerte aus, als meiner. Ich mag diesen glücklich vor sich hin grinsenden Kerl vor mir. Nur das erstaunlich angewachsene Ensemble geleerter Flaschen, deren Inhalt ein wenig Unordnung in den sonst kontrollierbaren Geist gebracht hat, verhindert, dass wir am Ende unsere Adressen austauschen oder uns gemeinsam auf den Weg ins Kloster begeben.
Normalerweise achte ich in Restaurants sehr auf das Essen, gibt es mir doch immer wieder genug Grund, ein Restaurant zu loben oder darüber zu meckern. Manchmal besuche ich ein Restaurant auch gerade deshalb, weil ich mir nichts besseres vorstellen kann, als das sprichwörtliche Haar in der Suppe zu finden. Doch erwies sich das Restaurant, als eines, über dessen Produkte man nicht viel Worte verlieren muss. Es diente lediglich dem Zweck der anständigen Nahrungsaufnahme. Nicht mit lauter "Ohs" und "Ahs" auf der Zunge angesichts lukullischer Artistik, verließ ich den Laden, sondern im Eindruck eine angenehme Mittagszeit verbracht zu haben, wenn auch etwas beengt. Doch diese Enge scheint für Florenz typisch zu sein. Ich trete auf die Straße, den gut gefüllten Bauch vor den vorbeiknatternden Motorrollern einziehend und verirre mich wieder in der Florentiner Innenstadt, wie in einem besonders kleinen Wald.


Einstell-Datum: 2006-01-16

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

Bewertung: 55555 (1 Stimme)

 

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