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GULLY oder die Pfütze des Zufalls - TEXTPROBE
Autor: Johannes Wierz · Rubrik:
Humor & Satire

TEXTPROBE:

1.

Ein endlos scheinendes Meer, an einem beliebigen Punkt, schwarzgrau das Wasser, Wellen steigen, übertreffen in ihrer Größe Hochhäuser. Die Natur hat ihr Spielzeug gefunden. Die Natur spielt mit sich selber. An den Rändern der Schaumkronen scheint die Farbe des Wassers ins türkis zu gehen. Ein schöner Kontrast zu den weißen Schaumkrönchen obenauf. Zum Land hin bekommt das Wasser einen blasseren Ton. Blau setzt sich durch, bis das Wasser leise den Sandstrand hoch läuft.
Ein Ohnmächtiger im Outfit eines Schiffbrüchigen könnte jetzt im feinen Sand liegen. Die nackten Beine, die aus der ausgefransten Hose lugen, werden vom Wasser umspült. Ein Stück Treibholz neben dem Kopf macht sich immer gut.
Bevor die Flut kommt, wird der ohnmächtige Schiffbrüchige von einem armen Fischermädchen gefunden. Naturgemäß hat er sein Gedächtnis verloren und wird von dem Mädchen gesund gepflegt. Am Schluss aber weiß er wieder wer er ist und heiratet die arme Fischertochter.
Solche Geschichten enden immer da, wo die Probleme erst beginnen.
In der Realität ist alles anders. Ein Besoffener verlässt die Kneipe, stürzt unglücklich, fällt in eine Pfütze mit Regenbogenrand, denkt vielleicht noch, schmeckt aber komisch, und ertrinkt.
Die Kinder weinen. Eine Frau atmet auf. Ein halbes Zimmer mehr und der Gestank wäre endlich aus der Bude.
Wenn man trinkt, sollte man einen großen Bogen um Pfützen machen. Vor richtigen Säuferkneipen gibt es keine Pfützen. Da kann es noch so geregnet haben. In den Straßen können sich die ersten Grachten gebildet haben. Die Rampe vor dem Eingang ist knochentrocken. Nicht umsonst heißt die schmierige Hütte: Schwemme. Glatteis im Winter, vor der Schwemme nicht, da ist ganzjährig alles trocken.
»Scheiße«, so beginne ich den Dialog mit der Welt, denn ich bin in eine Pfütze getreten. Meine hellen Wildlederschuhe saugen alles auf. Die Küchenrolle, der Tampon, sie haben keine Chance. Meine hellen Wildlederschuhe sind Siegertypen. Entweder war Moses Alkoholiker oder er trug helle Wildlederschuhe. Vielleicht braucht man auch beides, um ein Meer zu teilen.
Ich stehe jedenfalls mit voll gesogenen Schuhen vor einer Tür, in deren Kopfhöhe ein kleines Türchen angebracht ist.
Wer mit vierzig Jahren noch keine Mark auf die Seite gebracht hat, vom Euro oder Dollar ganz zu schweigen, ist ein Idiot oder Schriftsteller.

Mit dreißig Jahren dachte ich schon, ich wäre beides.
Seit drei Jahren lebte ich in diesem Loch und hatte das Gefühl von der Außenwelt nicht mehr wahrgenommen zu werden.
Mit neunzehn Jahren hätte ich alles darum gegeben, hier wohnen zu dürfen. Mit neunzehn Jahren bezeichnete man mich als hoffnungsvolles Talent, selbst das Prädikat Jahrhunderttalent wurde mir bescheinigt.
Ab dem dreißigsten Lebensjahr kam es mir vor, als würde der Abreißkalender auf meinem Klo von selbst dünner werden. Und zwar nicht Tag für Tag, sondern Sekunde um Sekunde.
Das morgendliche Geschäft, nach Genuss der ersten Zigarette, noch nicht ganz erledigt, ich wollte mich gerade erheben, da sah ich, dass schon wieder ein Monat vergangen war.
Wie ein Preisausschreibenjunkie brachte ich damals meine dicken Manuskripte zur Post, unterstützte so ein Staatsunternehmen und sorgte später durch meine ungeheuren Portokosten für einen gesunden Start in eine Aktiengesellschaft. Hätte ich damals statt Briefmarken in Aktien investiert, wer weiß, wo ich heute mein geschwollenes Haupt betten würde.
Ich war so weit heruntergekommen mit dreiunddreißig Jahren, dass ich keinerlei Drogen mehr bedurfte, um meine Birne weich zu bekommen. Ein Monat laues schwammiges Weißbrot aus den Containern der einschlägigen Großhandelsketten und man kommt auf einen ganz besonderen Trip. Vielleicht lag es auch an den Schimmelpilzen, aber diese Erforschung in Bezug auf das Weichmachen von Hirnen überlasse ich gern arbeitslosen Naturwissenschaftlern, die ja zuhauf ratlos durch die Gegend laufen sollen.
Mit vierunddreißig Jahren verkauft längst ein arbeitsloser, ein aus der Universität nie hinausgekommener, akademischer Verlierer das Geoabo an der Tür und verdrängt so den Exknasti mit seiner Praline.
Mit dreiunddreißig Jahren war die Prosa nur Hunger, nur Durst, war alle Enthaltung so viel geworden, dass ich der felsenfesten Überzeugung war, dass im Grunde die Verlage ausschließlich von den unaufgeforderten eingesandten Manuskriptbergen lebten. Ich bildete mir ein, dass Tausende von Menschen jeden Tag zur Post gingen, um ihre literarischen Ergüsse zu verschicken. Bestes Papier hervorragend geeignet zum Recyceln. In jedem, der unzähligen Copyshops, in denen ich seinerzeit auftauchte, mehr als hundert Seiten gleich fünf Mal kopierte, sah ich ein verkanntes Schriftstellergenie. Unterernährt wie ich, mit weicher Birne, hervorgerufen zum Teil auch durch die Tonerabsonderung der Kopierer und der Klebstoffzusammensetzung der Briefmarken.
Bei jedem Postüberfall, bei dem ausschließlich Briefmarken und große Umschläge geklaut worden waren, schreckte ich auf. Wieder hatte einer dieser unzähligen anonymen Schriftsteller, die sich wie Bakterien über das ganze Land vermehrten, keinen anderen Ausweg mehr gewusst.
Es war doch nur eine Frage der Zeit, dass ich soweit war.
Unterernährt wie ich mit dreiunddreißig Jahren war, fand ich selbst in der Gastronomie oder in Krankenhäusern als dritter Spüler keine Anstellung mehr. Unvermittelbar war das Ergebnis, was mein schwammiges, in Fieberschweiß schwimmendes Gehirn dazu veranlasste, mein Loch nicht mehr zu verlassen. Einzige Ausnahme, die täglichen Streifzüge zu den Containern der einschlägigen Großhandelsketten.
Schnell stellte es sich für mich heraus, dass es nächtens überhaupt keinen Sinn machte, nach etwas Essbarem zu suchen. Die Konkurrenz war einfach zu groß. Neben Katzen, streunenden Hunden, dem Wachpersonal, das immer brutaler wurde, kamen auch noch Typen hinzu, denen es ähnlich ging wie mir, aber im Gegenteil zu mir, vor Gewalt nicht zurückschreckten.

«Musst du ausgerechnet jetzt schreiben?«, fragt meine Frau Heidi, in ihrer seltsamen so eigenen Sprache, die ich so liebe.
Eigentlich gibt es nichts, was ich an ihr nicht liebe. Ja, ich bin ein glücklicher Mensch. Ein zu beneidender ekelhaft glücklicher Mensch.
Aber hier an diesem Ort werde ich von niemand beneidet. Im Gegenteil, man lächelt mir anerkennend zu und schaut unverblümt auf den geilsten Busen der Welt. Heidis Brüste kennen keine BHs. Sie sind groß und prall. Selbst die dünnste Membran hätte keine Chance von ihnen festgehalten zu werden. Vor zehn Jahren gehörte Heidi noch zur Olympiaauswahl der Synchronschwimmerinnen. Ihre Figur, die braune Haut mit dem blonden Flaum rauben mir immer noch den Atem.
Mein Blick fällt nach rechts und ich schaue wie hypnotisiert auf ihre Brustwarzen, die sich mehr als deutlich unter ihrem hautengen Glitzerkleid eines italo-amerikanischen Designers hervorheben.
»Die Leute schauen schon«, zischt sie, »gerade heute musst du doch nicht den Schriftsteller heraushängen lassen.«
Wenn nicht heute, wann dann, fährt es mir durch den Kopf. Heute ist doch mein Tag. Gleich werden sie meinen Namen aufrufen und ein Bild von mir zeigen. Der Kamerakran wird sich mir auf bedrohliche Weise nähern, damit mich die ganze Welt sehen kann, sozusagen als Beweisstück, dass es mich wirklich gibt.
«Niemand schreibt mehr mit der Hand«, flüstert Santor, der links von mir sitzt.
Santor ist Ungar, wie er behauptet, aber ich glaube ihm kein Wort. Santor ist eine Mischung aus allem. Eine Kreuzung zwischen Straßenköter und Strandhund. In Santor stecken die Gene der ganzen Welt. Vielleicht ist es ja doch möglich, dass mehrere Männer eine Frau befruchten können. Mit Santor könnte ich das auf jedem Genetikerkongress beweisen. Santor ist das Ergebnis eines übergroßen Spermacocktails, den sich seine Mutter reingepfiffen haben muss.
Jeder Mensch hat seine Legende. Also bleibt es dabei. Santor ist Ungar und mein Manager. Alle juristischen und finanziellen Dinge erledigt er. So hat sich seit meiner Geburt im Grunde nichts verändert. Ich besitze nach wie vor keine müde Mark, geschweige denn Euros oder Dollars.

Mit dreiunddreißig Jahren war ich von Schimmel und Mikroben umgeben. in meinem Badezimmer hatten sich dieselben Kulturen angesiedelt wie fünfzig Meter tiefer in der Kanalisation. Mein Bett, das ohnehin immer feucht war, roch wie ein Partykeller aus den siebziger Jahren, der mehrmals von Hochwasser oder zumindest von geplatzten, falsch angestochenen Bierfässern heimgesucht worden war.
Außer Büchern, Manuskripten, Ordner mit Ablehnungsschreiben und defekten Schreibmaschinen besaß ich nichts. Keine Frage, meine Wohnung stank.
Selbst die bekiffteste oder besoffenste Thekenschlampe hätte sich nicht mehr in meine vier Wände verirrt.
Sechsundneunzig Parteien hatte mein Wohnsilo und in einem der heruntergekommenen Wohnklos wurde immer gevögelt. Das Bad mit der Kölner Lüftung, - anfangs mein Zufluchtsort vor den dünnen Wänden -, brachte nichts. Alles musste ich schonungslos mit anhören. Unzählige Abende mit der Bolero-Musik von Ravel in den unterschiedlichsten Versionen. Aber das Gestöhne fing meist erst an, wenn der Tonarm sich diskret auf die Gabel zurückgezogen hatte. Das Aufreißen einer Kondompackung, selbst das Überziehen, meine Ohren waren gezwungen live dabei zu sein.
Ich war der felsenfesten Überzeugung, dass selbst meine Einzeller im Bad sich in diesen Augenblicken wünschten, Säugetiere zu sein.
Es gab Notstände, wo ich kurz davor war, in die Steckdose zu wichsen, um meinem Martyrium ein Ende zu setzen.

Gerade jetzt, wo es spannend wird, reißt mir Santor meinen Block aus den Händen. Heidi öffnet mit zarter Gewalt meine rechte Hand und fischt meinen Füller heraus, den sie in ihrem zauberhaften Dekolleté verschwinden lässt.
»Wehe du lächelst jetzt nicht«, zischt Santor.
Für alle unsichtbar hat sich Heidis Hand unter meiner Smokingjacke ihren Weg zu meinen Rippen gebahnt.
Der Kamerakran nähert sich mir auf bedrohliche Weise. Heidi massiert meine Rippenknochen. Santor macht das Victoryzeichen und zeigt mit der anderen Hand auf mich.
Ich lächle. Ja, ich lächle wie blöde und kann es nicht fassen.
»The winner is....«
Zum ersten Mal höre ich von einer ausgebildeten Stanislawski Schülerin meinen Namen auf amerikanisch. Das klingt so seltsam, dass ich mich überhaupt nicht angesprochen fühle, also auch gar keine Anstalten mache, aufzustehen, nach vorne zu gehen und den Preis entgegen zu nehmen.
»Shit«, zischt Santor.
»Liebling, du musst aufstehen und nach vorne.«
Die Welt starrt mich an, dass ich das dringende Bedürfnis habe mit einem Kosmonauten den Platz in der MIR oder anderen Schrotteilen, die im All herumfliegen, zu tauschen.
Wie ferngesteuert erhebe ich mich und schaue nur in glückliche Gesichter. Kollegen reichen mir die Hand und wollen mir auf meinen verschwitzten Smokingrücken klopfen, dem ich aber geschickt ausweiche.
Federnden Schrittes geht es die Stufen zwischen den Sitzreihen herunter. Um mich herum nur glückliche Gesichter.
Die Bühne erklimme ich wie ein Zehnkämpfer nach dem Gewinn der Goldmedaille.
Überall grelles Licht, so hell, dass ich mich nicht wundern würde, wenn mir Petrus plötzlich entgegentritt, um mir den großen Schlüssel zu überreichen.
Vielleicht in Erwartung dieses großen Mannes mit Bart habe ich zu spät die schimmernde Pfütze vor dem Rednerpult gesehen. Ich trete voll hinein und lege mich dann der Länge nach hin, nachdem mir die Schauspielerin, die den versiegelten Umschlag geöffnet hat, mir unverhofft auf die Schulter klopft. Beißender Geruch, denke ich. Meine Nase taucht zur Gänze in die schimmernde Pfütze ein und schon verliere ich das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir komme, trage ich Weiß, halte in meinen verkabelten Händen ein vergoldetes Männchen ohne Geschlechtsteile. Unentwegt piept es.
»Mach doch einer dieses gottverdammte Handy aus«, stöhne ich.
Meine Lippen schmecken säuerlich bitter. In der Nase immer noch diesen beißenden Gestank.
»Was ist passiert?«, frage ich ohne meine Augen zu öffnen.
»Die Zeitungen sind voll von dir. Es gibt keine Fernsehstation in der Welt, die nicht über dich berichtet hat«, höre ich Heidi in ihrer seltsamen so eigenen Sprache sagen.
»Du bist in die Geschichte eingegangen. Du bist der erste, der die Trophäe bewusstlos in Empfang genommen hat!«
»Bullshit«, flucht im Hintergrund Santor.
»Du bist ein Held!«
»Leider, kein Studio wird uns mehr anrufen!«
»Der deutsche Botschafter hat Blumen geschickt und wünscht gute Besserung. Auch war der Anwalt der Schauspielerin da. Bevor wir erwägen zu klagen, bietet er uns einen Vergleich über zwanzig Millionen an.«
Mir ist das alles zu viel. Ich höre auf das gleichmäßige Piepen. Wenn das kein Handy ist, kann es sich nur um meine Eingeweide handeln, die sich elektronisch zu Wort melden.
So lange es piept, lebe ich noch. Ein beruhigendes Gefühl.
»Du bist in einer Pfütze ausgerutscht«, flüstert mir Heidi zu und drückt mir ihre heiße Wange ans Gesicht.
»Die Preisträgerin, die für ihr Lebenswerk ausgezeichnet worden ist, leidet an Blasenschwäche, so ihr Anwalt.«
Geahnt habe ich es schon längst, von Anfang an, als mir der beißende Geruch in die Nase gestiegen ist und ich die kleinen Fettaugen gesehen habe, die obenauf schwammen. Jetzt, durch die Gewissheit, weiß mein Körper sich nicht anders zu wehren, als sich vom Mageninhalt zu befreien.
Ich breche, nein, ich kotze, was das Zeug hält. Ich würge, ich verkrampfe, ich weine, würge, würge, um auch den letzten Tropfen dieser alternden fast scheintoten Schaupielerfregatte aus meinem Körper zu bekommen.
Nie Kokain genommen und doch sind jetzt meine Nasenwände verätzt, für immer verloren, denke ich und falle in einen tiefen Schlaf.
Ich kenne meine Träume. Realistisch von Anfang bis Ende. Anstatt in ein Koma zu fallen, werde ich so wieder heimgesucht.
Da liege ich also auf dem Boden und schaue auf einen halbgeschlossenen Frauenschuh.
Ein Geruch von gefärbten Italoleder, einer süßlichen Salbe und schwitzenden Füßen, hervorgerufen durch einen hartnäckigen Pilz, bahnt sich seinen Weg in meine Nebenhöhlen.
Was gäbe ich darum, noch Polypen zu haben, in der Hoffnung, die Dinger könnten den Geruch vielleicht stoppen, zumindest aber filtern.
Der Anblick des blauroten Aderdeltas gemischt mit weißem Schorf nicht ertragend, schaue ich nach oben ins ungewisse Dunkle. Ich orientiere mich an den Krampfadern, die so dick sind wie Aufzugsstahlseile.
Ein beißender Geruch, eine Mischung aus Verwesung, Alkohol, verbranntem Plastik und hochgiftigen Medikamenten dringt in meine Nase.
Viel zu spät bemerke ich das Rinnsal. Und als ich es bemerke, ist daraus längst ein Wasserfall geworden. Unverblümt gehen in meine Richtung Gase ab.
Aus innerer Not heraus weiß ich mir nicht anders zu helfen und zünde das Feuerzeug, um Licht in die Dunkelheit zu bringen.
Über mir eine gewaltige Explosion.
Ich gehe in Deckung, werde aber von riesigen Fleischstücken getroffen. Eine harte Leber streift zum Glück nur meinen Kopf. Eine Perücke landet neben mir. Gebogene starre Augenwimpern bohren sich wie Akupunkturnadeln in meinen Rücken. Da folgt ein Gebiss, das an meinem Hintern abprallt und zur Seite kullert. Das Auge, das genau vor meinem Gesicht zum Liegen gekommen ist, starrt mich an. Ich drehe mich auf den Rücken und schon kommen sie geflogen, diese dicken Dinger, die ich wie ein Baseballspieler fange. Implantate der dritten Generation.
Ein langer warmer Kuss holt mich rechtzeitig zurück ins Leben.
Mit beiden Händen halte ich Heidis wunderbaren Synchronschwimmerbusen. Ich spüre, wie ihr Herz schlägt. Das ist die Wirklichkeit.
Verschämt lasse ich los.
»Hast du wieder einen Alpentraum gehabt?«, fragt mich Heidi in ihrer seltsamen so eigenen Sprache.
»Alptraum, mein Schatz. Es heißt Alptraum.«
Erst jetzt registriere ich, dass wir uns in unserem Strandhaus in der Nähe von Santa Barbara befinden.
Mein Krankenbett hat man direkt an das große Panoramafenster gerollt, von wo aus ich einen wunderbaren Blick auf das Meer habe

Mit dreiunddreißig Jahren war ich anderes gewohnt. Da flogen nach einem verpatzten Fußballspiel der Nationalmannschaft Fernseher aus dem Fenster oder vor Beginn der Sommerferien kleine Hunde oder Katzen aus dem zwölften Stock des gegenüberliegenden Wohnsilos. Ein paar vertrocknete, ausgehungerte Rentner versuchten denselben Weg, wurden aber meist im zehnten Stock auf die Balkone geweht.
So einfach ist das nicht, aus dem Leben zu scheiden.
Die Löffel kann man ins Pfandhaus tragen, solange sie nicht aus Blech oder Plastik sind. Aber sich wirklich den letzten Rest aus einem schwammigen Hirn zu pusten, dazu gehört schon mehr.
Der Hausmeister, der mir bei meinem Einzug die gebrauchte Klobrille montiert hatte, erzählte irgendwann, nachdem fünften oder zehnten Bierchen, als die Flasche Bauernstolz auch nichts mehr hergab, dass einer aus dem vierzehnten Stock, den Strick um den Hals vom Balkon gesprungen ist und eine Etage tiefer, seine letzten Zuckungen hatte. Es aber immerhin noch geschafft hatte mit seinem unkontrollierten Urinstrahl, den Holzkohlegrill der Familie Grabowsky auszulöschen.
Für mich keine Frage, wessen Nachfolger ich in Bezug auf die Klobrille war.
Eine Woche nach meinem Einzug erlebte ich die erste Zwangsräumung. Ich lag im Bett, schlief oder träumte irgendetwas Aufmunterndes, da knackte es laut von allen Seiten, so als ob Knochen gebrochen würden. Es war aber nur Holz, was ich beruhigend feststellen konnte, als ich schlaftaumelnd zu meinem Türgucki schlich und in Fischaugenperspektive beobachten konnte, wie Typen in braunen Overalls in der gegenüberliegenden Wohnung, die komplette Einrichtung aus dem Fenster warfen. Nur die Stereoanlage, der Fernseher und das immense Leergut hielten sie zurück.
Ich nahm eine meiner beiden Matratzen und lehnte sie gegen die Tür, um den Lärm zu mildern. Dann schlurfte ich zurück ins warme Bett.
Eine Woche nach meinem Einzug wollte ich von der Realität nichts wissen.
Natürlich las ich damals die Zeitungen, bekam auch mit, wie die Arbeitslosenzahlen immer mehr in die Höhe schossen, obwohl gleichzeitig immer mehr Familienväter sich und ihre Frauen und Kinder gewaltsam auslöschten.
Noch aber war mein Bett warm, von Feuchtigkeit keine Spur und meine Schreibmaschine funktionierte.

»Sie müssen sich in der Akademie vertan haben. Du bist der erste, der auf Anhieb gewonnen hat. So viele Feinde haben wir auch nicht, dass sie uns so etwas antun würden«, klagt Santor.
»Ich will nur meine Ruhe habe«, stöhne ich wehleidig.
»Die nächsten Jahre werden wir von der Substanz leben müssen. Darauf gilt es sich einzustellen.«
»Du vergisst die zwanzig Millionen Dollar Schmerzensgeld.«
»Vielleicht ist mit einem guten Anwaltsbüro das Doppelte herauszuholen?«
Heidi, die ohnehin meine Gedanken lesen kann, zieht aus ihrem zauberhaften Dekolleté meinen Stift, worauf Santor auch nicht anders kann, als mir den Block zurückzugeben.
Durch die Fernbedienung an der Seite verstelle ich das Kopfende meines Krankenbettes bis ich aufrecht sitze.
Vor mir die Brandung des Meeres.
Ein endlos scheinendes Meer, aber das hatten wir ja schon.


2.

Mit achtundzwanzig Jahren war ich endlich so weit, um die Spielklasse zu wechseln. Aus Arbeitslosengeld wurde Arbeitslosenhilfe. Ein kleiner Schritt für die Verwaltung, aber gegen alle Erwartungen ein noch kleinerer für mich.
Ich war endlich da, wo ich hinwollte. Endlich hatte ich meine Ruhe, war mit meiner Schreibmaschine allein und eine wunderbare Liebesbeziehung konnte beginnen.
Ich nahm mir vor, den Menschen aus dem Weg zu gehen. Aus der Distanz heraus wollte ich schreiben, ohne ständige Musikberieselung und dummen Sprüchen, billigem Parfüm und aufdringlichen Alkoholfahnen.
Das, was ich tagsüber, aber auch nächtens, durch meine Steckdose, die dünnen Wände und nicht zu vergessen die Kölner Lüftung hörte, reichte aus für mehrere Romane. Außerdem hatte ich noch das Nachtglas mit dem ich von meinem Balkon aus eine wunderbare Aussicht auf die Fenster des gegenüberliegenden Wohnsilos hatte, die die Wirklichkeit zu genüge widerspiegelten.
Eines Nachts, zu Beginn meiner schöpferischen Phase, kam ich auf die geniale Idee, morgens gegen drei Uhr meinen Müll nach unten zu bringen.
Allein das minutenlange Warten auf den Aufzug hätte mich stutzig machen müssen. Ich rauchte eine Kippe bis weit über den Tabak hinaus, zündete mir an der glimmenden Watte eine Neue an, die ich dann, als der Aufzug endlich auf meiner Etage hielt, auf dem Glas des Feuermelders ausdrückte.
Die Lifttür öffnete sich und im selben Moment drückten ungefähr zehn zahnlose aschfahle Typen mit Mülltüten in ihren zittrigen Händen ihre selbst gedrehten dünnen Zigaretten auf dem PVC-Boden aus.
Als einziger nicht Zahnloser, auch war mein Äußeres zu diesem Zeitpunkt noch recht gepflegt, hielten sie mich wohl für eine Art Respektsperson.
Ich tat so, als wollte ich nur nächtens kontrollieren, ob der Fahrstuhl ginge und gab mit der freien Hand ein Zeichen zur Weiterfahrt, wie ein Fahrgast an der Haltestelle beim Auftauchen des falschen Linienbusses.
Die Tür war noch nicht ganz geschlossen, da befand ich mich bereits auf der Feuertreppe und lief wie ein Wahnsinniger nach unten.
Natürlich war unten im Parterre der Notausgang verschlossen, zumindest vermutete ich das, denn ab den letzten fünfzig Stufen war kein Durchkommen mehr.
Bis zur Decke stapelten sich die Mülltüten. Ich warf meine dazu und stieg keuchend, wie ein Fisch an Land nach Luft schnappend, wieder nach oben.
Im zehnten Stock angekommen, öffnete ich mit zittriger Hand meine Wohnungstür und taumelte in mein Wohnklo, wo ich vor meiner ersten Schreibmaschine, die ich als Kind geschenkt bekommen hatte, völlig entkräftet zu Boden kam. Eine alte Continental mit runden Tasten. Die Muckibude unter den Schreibmaschinen.
Angefangen hatte eigentlich alles in der Pubertät, in der Phase, wo meine Schulkameraden zu Karnickeln mutierten, nur ich irgendwie nicht. Vielleicht hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon zu viele Bücher gelesen und war so folglich für das Leben versaut. Ich wollte reden, Händchen halten und wartete gespannt darauf, dass auch mich die große Liebe erfassen und ich alsbald wie ein Heliumballon vom Boden abheben würde.
Nichts dergleichen geschah. Bleischwer saß ich auf meinem Stuhl, ähnlich wie im Sportunterricht, wo ich auch nur als letzter unter murren der Mannschaft, der ich zugeteilt wurde, mich erheben durfte.
Auf den Partys jedenfalls blieb ich immer allein sitzen.
Bis dato gab es nur zwei Möglichkeiten, um über diese Abende zu kommen. Entweder Musik auflegen, was meist von dem Jungen mit der stärksten Akne erledigt wurde oder als Kurierfahrer Kneipen und Tanken abfahren, um den Getränkenachschub zu gewährleisten.
Beides kam für mich überhaupt nicht in Betracht. Einfach diesen Veranstaltungen fern zu bleiben, auf die Idee kam ich nicht.
Natürlich stellte ich mir damals schon die Frage, zu welcher Minderheit ich eigentlich gehörte. Es musste ja einen Grund geben, warum diese Zicken mit mir keinen Blues tanzen wollten. Vielleicht hätte ich eins der kleinen Biester ansprechen sollen, die mir das Leben so schwer machten.
Nach kurzer Überlegung, entschied ich mich für die aristokratische Lösung.
Die Königin von England war damals auf Besuch. Sie zwinkerte mir durch den Fernseher zu und machte mich dadurch insgeheim zu ihrem Ritter.
Nicht ausgelebte Hormonstöße haben wohl dieselbe Wirkung wie Drogen.
Natürlich musste noch die Frage beantwortet werden, welchem Tätigkeitsfeld ich mich zu widmen hätte.
Drachen töten, kam nicht in Betracht, dafür war die Königin von England damals schon zu alt. Außerdem hieß es, dass Englands Drachen in der Gewerkschaft seien und nur noch selten auftraten. Ich aber suchte eher nach einer ganzjährigen Beschäftigung. Polospieler (mit Pferden hatte ich es nicht so), Wohltätigkeit (meine Taschen waren damals schon leer). Ich entschied mich nach kurzer Überlegung fürs Schreiben.
Draußen auf den Straßen tanzte der Bär, der kurz davor war, ein kleines Ei zu legen. Startbahnwest und Gorleben zu weit weg und außerdem machte mich das Danke beim Slogan Atomkraft nein danke ziemlich misstrauisch.
Während die anderen in meinem Alter ihren Trieben freien Lauf ließen und in den Rammelpausen Joints und Alkohol in sich hineinpfiffen, saß ich auf den alten Plüschsofas, den Block in den Händen und schrieb, immer die Angst im Gesäß, gleich könnte sich die Feder einen Weg durch den abgewetzten Stoff bahnen.
Lyrik und Lieder war das erste was ich zu Papier brachte. Ein paar Griffe auf der Gitarre konnte ich und die Liedermacher hatten allerorts Oberwasser.
Eine Aneinanderreihung von Wörtern, die in kleinen Blöcken schnell eine Seite füllten und vor allem bei den Mädchen für Aufmerksamkeit sorgten.
Was brauchte ich ein Mofa, einen Roller, ein Auto, bei der Fülle an Gedichten, die entstanden.
Draußen auf der Straße machte es unterdessen Plop und das Taubenei war gelegt.
Unten in den Partykellern verklärte leuchtende Augen mit einem Wasserfilm. Nach jedem Drink oder Joint etwas schwammiger bis hin zu einem rötlichen Schimmer.

Ein endlos scheinendes Meer, das stetig die Farbe wechselt, bis sich das rötliche Tuch der untergehenden Sonne zur Gänze vor meinen Augen verteilt hat.
Aufrecht in einem Krankenbett in einem Strandhaus, das den Namen eigentlich nicht verdient, in der Nähe von Santa Barbara, zu sitzen, ist eine Sache, gleichzeitig auch noch zu schreiben, eine andere. Die Kräfte lassen nach und mir brummt der Schädel.

Ich machte Abitur, gestand auf der Abschlussfeier einer Mitschülerin meine Gefühle, worauf sie nur in ein schallendes Gelächter ausbrach.
Als sie mir sagte, dass ich mich verpissen sollte, blieb ich wie angewurzelt vor ihr stehen, beobachte, wie die Farbe aus ihrem geschminkten Gesicht wich, als sie mein Ding sah. Gern hätte ich es ihr in voller Pracht präsentiert, aufrecht und stolz, aristokratisch eben.
Immerhin war sie das erste weibliche Wesen, mit Ausnahme meiner Hebamme und meiner Mutter, die meine bis dato nutzlose Männlichkeit zu Gesicht bekam.
Irgendwo hatte es in meinem Hirn bei dem Wort verpissen Klick gemacht. Im Grunde nahm ich sie ja nur beim Wort.
Da ich schon einige Bierchen intus hatte, traf sie ein heller schaumiger Strahl. Ich versuchte ein Muster auf ihrem Kleid, aber sie drehte sich ab, was ihr nicht viel nutzte. Mein Tank war voll und der Druck ausreichend.
Ich folgte ihr auch noch aufs Klo, wo sie einen Weinkrampf bekam und sich zu allem Überfluss auch noch übergab.
Pick, Pick, das Ei bekam Risse und ein kleiner zerzauster Vogel entstieg der zerbrochenen Schale.
In der Universität hatte ich dann alles Geisteswissenschaftliche bis auf Theologie belegt.
Die Gesellschaft durchlebte mal wieder einen Wandel, wie es hieß. Es gab Stellenanzeigen in denen Sozialpädagogen, -arbeiter, selbst Soziologen und Germanisten noch zuhauf gesucht wurden. Institute wurden gegründet, Projekte, Bürgerzentren aus der Taufe gehoben. Zwar gab es Hausbesetzungen, aber der Bär hatte sich längst in seine Höhle verkrochen, was ein paar wenige nicht glauben wollten und immer noch unermüdlich vor allen Ein- und Ausgängen der Uni und der Mensa ihre Klassenkampf ideologisch gefärbten Flugblätter verteilten, wie die Brüder und Schwestern der Zeugen Jehovas.
Dabei mauserte sich die kleine Friedenstaube immer mehr zu einem ausgewachsenen Vogel.
Da Frauen zu diesem Zeitpunkt noch andere Prioritäten setzten, waren die Männer in meiner Fakultät in der Minderheit, was mir natürlich zum Vorteil geriet.
Der Heliumballon wollte zwar immer noch nicht starten, aber mich kurzfristig als kalifornischer Wellenreiter zu betätigen, gefiel mir in Anbetracht all dieser schönen wohlgeformten Wellen auch nicht schlecht.
So ließ ich mich vom Wasser tragen und erlebte mit jeder neuen Welle einen neuen Höhepunkt.
Rundherum ein schönes Bild, hätte es draußen am Haupteingang zum Campus nicht diesen Bücherkarren gegeben.
Ich war den Büchern, die mich für das Leben versaut hatten, treu geblieben. Vielleicht aus Dankbarkeit, immerhin hatten sie mich vor der Pubertät und ihrer Folgeschäden bewahrt. Die Akne war mit ihrer übermächtigen Streitmacht an Pickeln spurlos an mir vorbeigezogen. Auch war mir das erste Mal erspart geblieben, von dem man sagt, dass man voller Wehmut im hohen Alter noch daran denken würde, vor allem beim halbstündigen schmerzlichen Wasserlassen.
Für mich war jedes Mal das erste Mal und ich hoffte insgeheim, das, bis zum Ende meiner Tage, durchhalten zu können.
Mit der Dankbarkeit, noch einmal davon gekommen zu sein und der Leichtigkeit des Wellenreiters ging ich unbedarft auf die Holzbude zu und kaufte ab und zu ein paar Raritäten.
Kurz bevor der Bücherkarren in meinem Bewusstsein die Stelle eines Kiosk einnahm, an dem man die täglichen Wegwerfzeitung kaufte wie ein Ritual, kam ich mit dem Mann ins Gespräch, der bei Wind und Wetter bei seinen Büchern war, wie ein Hirte bei seiner Herde.
»Da habe ich auch mal studiert«, sagte er wie eine Erfolgsmeldung und fügte hinzu, dass er gerade an seiner Doktorarbeit schreiben würde.
Ich war kurz davor, ihn zu fragen, ob ich die rollende Bude nicht übernehmen könnte, da sah ich eine wunderbare, gut erhaltene Gesamtausgabe von Kleist aus den zwanziger Jahren, die bei mir die Gier nach Besitzstand auslöste.
»Was soll die kosten?«, fragte ich den angehenden Herrn Doktor.
»Eigentlich unverkäuflich«, kam es knapp aus ihm heraus, als wollte er mir sagen, dass ich stattdessen eine Niere von ihm haben könnte.
»Und, warum steht sie denn da?«
»Als Blickfang.«
»Unsinn!«
»Seit sie da steht, habe ich mehr Kunden.«
An diesem Tag ließ ich ihn in Ruhe, obwohl mich seine Antworten nicht im Geringsten befriedigt hatten.
Das sie hätte mich stutzig machen müssen.
Später kamen wir dann doch ins Gespräch. Er erzählte mir, dass er seit zehn Jahren an seiner Doktorarbeit schreiben würde. Sein Thema war die Deutung des berühmtesten Auslassungszeichens aus Die Marquise von O...
»Du weißt schon«, sagte er und tat so beflissentlich, als ob ich zu den Eingeweihten gehörte. Dabei war ich zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht mit Kleist vertraut, hatte ich doch gerade meine Lern- und Lehrstunden als Wellenreiter.
Immer wieder nahm ich mir vor, mich mit Kleist zu beschäftigen, um mich mit dem Hirten der Bücher über Die Marquise von O... unterhalten zu können. Aber dazu kam es nie.
Eines Tages war die wunderbare, gut erhaltene Gesamtausgabe von Kleist aus den zwanziger Jahren aus dem Regal verschwunden und mit ihr auch der Hirte.
»Verkauft«, sagte knapp der neue Mann an der rollenden Bude, der eher ins Flohmarktgeschäft oder in eine Pommesbude gepasst hätte.
Zwei Wochen später erfuhr ich, dass sich der Hirt, nachdem er erfahren hatte, dass seine Gesamtausgabe verkauft worden war, von seinem letzten Geld eine Fahrkarte nach Berlin gelöst und sich am Wannsee, an derselben Stelle wie Kleist, erschossen hatte.

»Solch eine Geschichte kannst nur du erzählen«, sagt Heidi in ihrer seltsamen so eigenen Sprache und macht Anstalten sich zu mir ins Bett zu legen.
»Die Anrufe aus Europa häufen sich. Allein aus Deutschland über fünfzig Anfragen«, ruft Santor aus einem Nebenraum.
»Wilder hat ein Telegramm geschickt, soll ich es dir vorlesen?«
»Und was ist mit der Dietrich und der Garbo?«
»Dafür liebe ich dich«, sagt lachend Heidi in ihrer seltsamen so eigenen Sprache, presst ihre feuchten Lippen auf meinen spröden Mund und vertreibt endgültig den bitteren Geschmack der alten Schauspielerfregatte.
»Woody Allen will seine Preise zurückgeben, kommt gerade in den News«, schreit Santor aus dem Nebenraum.
»Er gibt gerade ein Interview. Hört euch das an. Er beschuldigt uns, ihm seinen Plot geklaut zu haben. Das mit der Pfütze auf der Bühne sei angeblich auf seinem Mist gewachsen. Bullshit! Jetzt ist unser Marktwert ins Unendliche gestiegen! Uns wird nie mehr ein Studio anrufen!«
»Ich glaube ich bekomme Fieber«, flüstere ich Heidi ins Ohr.
Eine Gänsehaut zumindest habe ich bereits.
Heidi legt sich zu mir. Ich spüre ihren Körper, der sich an den meinen schmiegt.
Ich schließe die Augen und höre die Brandung, die abends stärker wird.
Mit dem lauten Brandungsgeräusch taucht auch wieder dieser Schiffbrüchige auf. Jeder andere hätte das Unglück nicht überlebt, aber der Arsch steht auf und schleppt sich taumelnd an den rettenden Strand. Was für eine Kunst, im sicheren feinen Sand in Ohnmacht zu fallen.

Schneller als ich eigentlich wollte, war mein Studium zu Ende.
Gut, die Ansprüche, die an mich gerichtet wurden, waren nicht sehr hoch gewesen, aber ein, zwei Jahre hätte das Wellenreiten ruhig noch dauern können.
Als ich mit meinem Diplom in der Hand in irgendeiner, der unzähligen hölzernen Studentenkneipen meinen Erfolg begoss, hatte ich schon verloren, nur wusste ich das damals noch nicht.
Die Welt stand mir offen. Ich hatte die Möglichkeit, mich um schwer verhaltensgestörte Kinder, Schulabbrecher, Arbeitslose, Obdachlose, Junkies und, und, und, zu kümmern.
Ich entschied mich für den Babystrich der Stadt, der damals der größte der Republik war. Das ich dort alle Zielgruppen auf einmal antreffen würde, entsprach meinem Hang zum Glück.
Aber wundern, entsprach sowieso meinem Naturell.
Da war Gabi, gerade mal dreizehn Jahre alt. Ein Freier hatte ihr auf einem abgelegenen Parkplatz befohlen, auszusteigen und ihren Kopf durch das Beifahrerfenster zu stecken. In Sekundenschnelle hatte das Schwein das Fenster hochgekurbelt, und die kleine Gabi war gefangen.
Nachdem er sich ausgiebig mit ihrem kleinen zarten dreizehnjährigen Hinterteil vergnügt hatte, trat er ihr vom Fahrersitz alle Frontzähne aus, weil sie nicht aufhören wollte zu schreien.
Jetzt war Gabi mit ihren dreizehn Jahren der Geheimtipp für altfranzsösisch in der Szene.
»Ich hatte echt Glück gehabt«, sagte Gabi und zeigte grinsend ihre riesige Lücke, »die Tine dagegen hat es echt erwischt.«
Tine war erst seit vier Tagen wieder auf der Straße. Sie war zwölf, sah aber älter aus als ihre Mutter, die sie an Arbeiter einer Großbaustelle vermietet hatte.
Zwei Wochen war Tine in den Wohncontainern gewesen und als man sie völlig entkräftet am Bauzaun gefunden hatte, war mehr als ein stummes Weinen nicht aus ihr herauszubekommen. Seit dem zuckte sie mit den Augen und konnte den Mund nicht mehr geschlossen halten.
»Das Leben hört mit dreizehn auf«, sagte Zora, deren Spezialität es war, den Männern im Bahnhofskino einen zu blasen und gleichzeitig den beiden Nebenmännern einen runter zu holen.
»Nach dreizehn kommt nur noch der Abspann«, sagte Zora, gurgelte sich die Mundhöhle aus und schmiss anschließend ein paar Tabletten ein.
Ich war völlig fehl am Platz. Dauernd hatte ich wegen der Mädchen Ärger mit der Bahnpolizei, weil der Strich hinter dem Bahnhof lag. Die Drogenfahnder wollten mich als Käufer, Spitzel oder sonst was benutzen, naturgemäß ohne Rückendeckung. Außerdem nahm ich immer wieder Mädchen mit zu mir nach Hause, damit sie sich waschen und für ein paar Stunden zumindest zur Ruhe kommen konnten.
Naturgemäß klauten sie mir auch Geld, aber das war nicht wichtig. Viel schlimmer war die Arroganz der Ämter, die von mir verlangten, die Mädchen zu registrieren, auszuhorchen und in irgendwelche geschlossenen Anstalten zu verfrachten, wo sie ohnehin nach ein paar Tagen wieder ausbrechen würden.
Als mir dann auf einer Arbeitsbesprechung meine Vorgesetzte, eine dicke Matrone, die ihre Schäfchen längst ins Trockene gebracht hatte, mir den Vorwurf machte, ich fördere die Kinderprostitution und hätte wahrscheinlich selbst etwas mit den Mädchen, schmiss ich alles hin. Zum Abschied kaufte ich den Kindern ein paar Sachen, die sie am nötigsten brauchten.
Ein paar Küsse, die ich nicht wegwischte, ein paar Tränen, und ich stand mit einem Mal vor dem Hauptportal des Bahnhofs wie ein gerade neu Angekommener.
Ein paar Mal noch sah ich die Mädchen wieder. Sie zwinkerten mir von der anderen Straßenseite zu, bevor sie in die Wagen der Freier stiegen.
Wochenlang tat ich nichts. Ich frequentierte die verschiedensten Kneipen und versuchte die Ungerechtigkeit der Welt im Alkohol zu ertränken. Meine Mundwinkel wuchsen langsam nach unten. Je wieder mit einer Frau schlafen zu können, schien mir unmöglich. Ich besann mich meiner alten Continental, kaufte Papier und versuchte meine rauen Gedanken in eine Form zu bringen.

Ich rieche die Hand meiner Frau, die zärtlich über mein Gesicht fährt.
Das TNT auf ihrer Haut hat bei mir dieselbe Wirkung wie Riechsalz.
Ich öffne die Augen und schon ist der Schiffbrüchige verschwunden.
»Wie schön du bist«, sage ich leise.
Sie versteht ohnehin kein Wort, lächelt aber sanft und zeigt mir einen kleinen Teil ihrer riesengroßen Zähne.
An jedem beliebigen Punkt der Erde könnten wir sein. Ein Gedanke, der so schön ist, dass ich ihn auf keinen Fall aufschreiben darf.

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Einstell-Datum: 2011-06-29

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