Kehlmann schreibt das wirklich so hin, der Kopf rollt in den Graben. Man wünsche sich, er hätte sich für eine dezentere Todesursache entscheiden können, aber Daniel Kehlmann ist ein Biest unter einer harmlosen Schale.
Was tut der große (und übrigens total vergessene - in fünfzig Jahren, wenn er so weiter gemacht hätte) Zauberer Kehlmann? Er schreibt dieselben Szenen eines angedeuteten, kommenden Unheils wieder und wieder. Und dann noch einmal. Er schindet Seiten, er killt Zeit und er denkt, daraus entstünde schon ein spannendes Buch: Ein Rätsel und die Lösung wird wieder und wieder blockiert. Natürlich, weil die Zeit eine Illusion ist, geht sie manchmal im Kreis herum.
Doktorväter und Kongresse, die alle nie kapieren, was Jung-Genie David Mahler ihnen vorzurechnen versucht. Ungreifbar im Hintergrund der mysteriöse Nobelpreisträger Valentinov, dessen Autorität den jungen Wissenschaftler vor der ungläubigen Fachwelt nobilitieren könnte, der aber jeder Gelegenheit zu einem Treffen so auffällig zufällig ausweicht, dass die Zufallsnatur der Vorfälle fraglich wird. Todesfälle um David Mahler herum wie Warnungen. Es muss noch eine andere Welt geben, jenseits der uns zugänglichen Zeit! Eine Welt der Engel. Doch sie mögen es nicht, wenn ein Mensch den Menschen von ihrer Existenz zu erzählen versucht.
Der verfettete David drückt seine immer schlimmeren Kreislaufprobleme viel zu nachlässig weg. Der Leser nimmt’s natürlich wahr: Okay, Kehlmann wird ihn einen Herztod sterben lassen und es wird ungewiss sein, ob es nicht die mörderischen Engel waren. Lichtveränderungen. Immer wieder einmal kreist eine Libelle um David. Die Schwester?
Die Geschichte dreht und dreht und dreht sich im Kreis. Und dann dreht sie denselben Kreis noch einmal. Es nervt! Wie auch eher Nebensächliches: Mitten in totenstiller Nacht müssen zwei Menschen in eine sehr weit entfernte Stadt fahren. Irgendwann werden sie dazu auf eine Autobahn kommen. Aber erst, als sie 200 Kilometer über leere Landstraßen gebrettert sind. (Kasachstan? Australien?) Kehlmann braucht das, damit er wieder diesen Running Gag unterbringen kann: Mahler kann die exakte Anzahl der leuchtenden Seitenbegrenzungspfählen nach 200 Kilometern benennen, obwohl er sich nicht erinnert, darauf geachtet zu haben. (Kehlmann hatte „Rain Man“ (1988) schon auch gesehen.)
Die Antwort auf jene Frage, was man tut, wenn man einen interessanten Einfall hatte und ein ganzes, großes Spannungsbuch daraus machen muss, sie lautet: Man hämmert erbarmungslos mit Geheimniskrämerei aufs Hirn des Lesers, bis dieser nichts versteht, außer, dass es hierbei um die letzten Dinge gegangen ist.
Zitat:
Zum Beispiel der Regen, wie er dort hinter Grauwalds Kopf an die Scheibe trommelt. (David wies darauf, der Professor drehte sich nicht einmal um.) Die Tropfen schlagen auf, gläserne Punkte, weiten sich zu Kreisen, überschneiden sich, ein sehr reines geometrisches Spiel noch. Aber dann - jetzt schon - wirken die Schwerkraft auf sie und der Wind und all die Kräfte der immer anwesenden, nie nachlassenden, tötenden Natur. Und sie verformen sich, nehmen für Momente amüsant absurde Umrisse der Zufälligkeit an, und dann geben sie sich auf; bilden einen Film von gleichförmiger Flüssigkeit auf dem ebenso, doch so viel langsamer fließenden Glas. Es geschieht ständig: Jede Ordnung stürzt ihrer Auflösung zu, und was getrennt ist, wird eins, und alles, was Grenzen hat, muß diese verlieren. Durch einen unendlich fernen Verstand bewegen sich Zahlen; und die Welt ereignet sich.
Und die Zeit? Blickt man darauf, scheint sie durchsichtig zu werden. Das Gewebe öffnet sich, und schon ist es dahin, und nur die Bewegung von Gestirnen bleibt, der Wandel von Dingen, ein Rauschen, eine Folge von Tönen und vielleicht noch die hinkende Bewegung des Zeigers auf einer Armbanduhr oder das Vorbeiziehen von Häusern und Bäumen am Zugfenster, unter dem rhythmischen Aufblitzen der Sonne...
Zum Beispiel der Regen, wie er dort hinter Grauwalds Kopf an die Scheibe trommelt. (David wies darauf, der Professor drehte sich nicht einmal um.) Die Tropfen schlagen auf, gläserne Punkte, weiten sich zu Kreisen, überschneiden sich, ein sehr reines geometrisches Spiel noch. Aber dann - jetzt schon - wirken die Schwerkraft auf sie und der Wind und all die Kräfte der immer anwesenden, nie nachlassenden, tötenden Natur. Und sie verformen sich, nehmen für Momente amüsant absurde Umrisse der Zufälligkeit an, und dann geben sie sich auf; bilden einen Film von gleichförmiger Flüssigkeit auf dem ebenso, doch so viel langsamer fließenden Glas. Es geschieht ständig: Jede Ordnung stürzt ihrer Auflösung zu, und was getrennt ist, wird eins, und alles, was Grenzen hat, muß diese verlieren. Durch einen unendlich fernen Verstand bewegen sich Zahlen; und die Welt ereignet sich.
Und die Zeit? Blickt man darauf, scheint sie durchsichtig zu werden. Das Gewebe öffnet sich, und schon ist es dahin, und nur die Bewegung von Gestirnen bleibt, der Wandel von Dingen, ein Rauschen, eine Folge von Tönen und vielleicht noch die hinkende Bewegung des Zeigers auf einer Armbanduhr oder das Vorbeiziehen von Häusern und Bäumen am Zugfenster, unter dem rhythmischen Aufblitzen der Sonne...
Ich erlaube mir, es einfach „faulen Zauber“ zu nennen. Gewiss, auch Thomas Manns Versprechen im „Zauberberg“, einen Roman um Einsteins veränderte Sicht vom Wesen der Zeit zu erzählen, brachte vor allem „faulen Zauber“. Aber man las ihn halt lieber, man empfand eher Genuss. Das ist ein Unterschied.
[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2016-02-18)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.