Lakonisch kommt die Erzählung daher, bei näherem Hinsehen und in sich Hören allerdings kommt man der Technik auf die Spur. Bernhard Schlink ist ein gewiefter Autor, der mit Esprit seine Komposition entwirft. Die furchtbare Geschichte einer Liebesbeziehung einer wesentlich älteren Frau mit einem Jungen wird erzählt mit den Mitteln der romantischen Ironie. Wie in Gottfried Kellers Aus dem Leben eines Taugenichts, welches auch zu den Werken zählt, das die Erzählperson der Delinquentin vorliest, plätschert eine vermeintlich belanglose, tatsächlich aber tief verstörende Geschichte in das Bewusstsein des Lesers, der lange vergeblich versucht, sich einen Reim auf das zu machen, was sich vor ihm ausbreitet.
Es ist alles andere als eine Heidelberger Romanze, was Bernhard Schlink in seiner Erzählung Der Vorleser seinem Publikum unterbreitet. Eineinhalb Jahrzehnte nach dem Krieg und dem großen Verbrechen entwickelt sich aus einer Allerweltsbegebenheit eine Bekanntschaft, die sich zu einer sexuellen wie psychischen Bindung auswächst. Ein Fünfzehnjähriger treibt es, oder besser gesagt, wird von einer Fünfunddreißigjährigen zu einer erotisch dominierten Beziehung getrieben. Für die Lehrstunden und Dienste der Frau fordert diese lediglich, dass der junge Mann ihr laut vorliest. Die Weltliteratur wird so zum Digestif eines Treibens, das weit jenseits der moralischen Akzeptanz des damaligen Nachkriegsdeutschlands liegt.
Irgendwann verschwindet die Frau. Der Junge leidet eine Zeit, geht dann aber seiner bildungsbürgerlichen Wege. Er vergisst, bleibt aber lädiert, weil beziehungsunfähig zu anderen Frauen. Jahre später erlebt er als Jurastudent einen Prozess gegen weibliches Wachpersonal eines KZ und sieht seine frühere Liebe auf der Anklagebank. Jenseits einer direkten Kontaktaufnahme entspinnt sich ein neuer Dialog zwischen beiden, der durch die Erkenntnis des Jungen eröffnet wird, dass das ganze Debakel der Biographie seiner früheren Liebe mit dem Umstand ihres Analphabetismus zu erklären ist. Auch im Prozess führt es dazu, dass sie das härteste Urteil bekommt.
In den Folgejahren liest er wieder, diesmal auf Kassette, die literarischen Werke, von denen er glaubt, dass sie sie im Gefängnis interessieren. Er, der als reiferer Mann sich als Rechtshistoriker etablieren konnte, aber an einer Ehe scheiterte, räsoniert über die Frage von Scham und Schuld, der juristischen Intervention und des freien Willens zur Sühne, kommt aber angesichts des Unsäglichen der Taten der Vergangenheit zu keinem schlüssigen Ergebnis, mit dem er leben könnte.
Der Frau selbst geht es nicht anders. Sie kämpft auf ihre Weise im Gefängnis gegen das für sie Unverständliche an und ihr gegenüber entsteht sogar eine Sympathie, weil sie mit keiner Wimper zuckt, wenn es um die Konsequenzen ihres Handelns geht, auch wenn sie, wie dieses heute vielleicht der Fall wäre, um Milde Umstände bitten könnte, weil ihr die notwendige Bildung versagt war.
Die Erzählung hat kein Happy End, weder bei dem berichtenden ehemaligen Jungen, noch bei der Delinquentin, noch bei den Opfern. Es ist, ohne die nervtötenden und zum Ritual verkommenen Klischees bemühen zu müssen, eine deutsche Geschichte, die das Desaströse des Krieges und der Diktatur aufzeigt, ohne die Individuen, die eine Rolle darin spielen, zu trivialisieren, damit sie in ein Gut-Böse-System passen. Das ist wohltuend und deprimierend zugleich.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2011-08-29)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.