Nach ihrem Debüt "Frei" über das Erwachsenwerden im poststalinistischen Albanien, also nach 1989, legt die in Tirana geborene Lea Ypi mit einem weiteren Werk zu ihrer Familie nach. "Aufrecht" ist die Geschichte ihrer Großmutter Leman, die sie - aufgrund eines im Internet kursierenden Hochzeitsfotos- beginnt in den Archiven zu recherchieren...
Die Würde der Erinnerung
Das Foto zeigt ihre Großeltern 1941 beim Après-Ski in den italienischen Alpen und Lea beginnt sich zu fragen, wie es möglich ist, dass man am Höhepunkt des Krieges - zumindest auf einem Foto - glücklich aussehen konnte. Ihre geliebte Großmutter Leman, genannt Nini, sprach Französisch, war in Saloniki aufgewachsen und die Enkelin eines osmanischen Würdenträgers. Aber warum verließ sie als junge Frau Griechenland und ging auf eigene Faust nach Tirana? Welche Rolle spielte ihr Ehemann Asllan in ihrem Leben, der bald nach der kommunistischen Machtübernahme nach dem Krieg "verschwand"? Die Autorin Lea Ypi reist in der Jetztzeit an die Orte des Lebens ihrer Großmutter Leman und rekonstruiert es Stück für Stück anhand von Archivalien, Akten und Anekdoten. Ein spannendes Abenteuer, das einen tief in die politischen Verirrungen des Landes der Skipetaren entführt und einen sprachlos zurücklässt. Denn im Zentrum all ihrer Aktivistinnen und Protagonistinnen ist stets das Anliegen, um jeden Preis die Würde zu bewahren. Ein in solchen Zeiten fast unmögliches Unterfangen. "Was die meisten Leute für Freiheit halten, ist in Wahrheit eine Art Knechtschaft der Gefühle, Unterwerfung unter starke Emotionen: Angst, Gier, Neid. Ich glaube, frei sind wir nur, wenn wir versuchen, das Richtige zu tun." Was sich wie ein Nachsatz zu ihrem Erstling liest, aber aus "Aufrecht" stammt, unterstreicht die Voraussetzungen für ihr Anliegen: Die Würde der Erinnerung.
Kaleidoskop der Erinnerungen
Denn die Würde wiederherzustellen ist das zentrale Anliegen von "Aufrecht". Drei Jahre, fünf Länder, acht Archive und mehrere tausend Seiten später, schöpft die Autorin gegen Ende noch einmal Hoffnung, dass es auch Gerechte und Helden gegeben hätte. Aber wie ihre Großmutter Leman immer sagte, es kommt nicht darauf an, was wir erinnern, sondern wie. Der Vater ihrer Großmutter war noch ein osmanischer Beamter in Konstantinopel gewesen, Albanien Teil des Osmanischen Reiches und Saloniki, wo Leman lebte, ebenfalls osmanisch geprägt. 99 Kanarienvögel hatte sie damals im Obergeschoss ihres Haus und "Salonique la Magnifique" wurde zum geflügelten Wort, denn die damalige Elite sprach selbstverständlich französisch. Aber auch die Ideale der Französischen Revolution wurden in ihrem Hause diskutiert, was damals schon als subversiv genug galt. Denn auch der Bolschewismus hatte damit angefangen...Lea Ypi wechselt von der Erzählung zu Archivfunden, aber auch zu existentiellen Fragen des Lebens. So beschäftigt sie etwa die Frage nach der Essenz, das "to ti en einai" (griechisch: was es ist zu sein) des Buches Z der Metaphysik von Aristoteles. Als Italien Albanien besetzte wurde übrigens auch ein Teil des Kosovo Albanien angegliedert. Bald war man auch in Albanien als Hund besser dran als als Jude, wie Dr. Elias an einer Stelle bemerkt. Nach den Kriegswirren irrt er durch die Tirana und hält sich für 10017. Dönme, zum Islam konvertierte Juden, gab es ebenso wie konvertierte Katholiken oder Orthodoxe. Dennoch gab es in Albanien nach dem Krieg mehr Juden als davor. Und das obwohl auch die Deutschen das Land besetzt hielt. Am Ende gab es auch in Albanien die "Diktatur des Proletariats", nur, dass es "auf eine Diktatur der Bauern, Banditen und Bergrebellen hinauslaufen muss", wie eine Protagonistin im Roman sarkastisch bemerkt.
Ein erschütterndes Dokument über das Land der Skipetaren in dem die Autorin die Würde der Beteiligten behutsam wiederherstellt. Denn die Würde liegt darin, in moralischer Absicht zu handeln, eine Haltung, die sich zugleich leicht idealisieren lässt. Aber sich als Grundlage für Handlungen bewährt. Lea Ypi, geboren 1979 in Tirana, Albanien, ist Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics, Mitglied der British Academy und der Academia Europaea sowie Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Sie hat unter anderem in Paris, Oxford, Stanford, Berlin und Frankfurt am Main geforscht und gelehrt, regelmäßig schreibt sie für The Guardian. Ihr autobiographisches Sachbuch "Frei", das in mehr als 35 Sprachen vorliegt, gewann den renommierten Ondaatje Prize sowie den Slightly Foxed First Biography Prize. Außerdem wurde es für die Bühne adaptiert.
Lea Ypi
Aufrecht
Überleben im Zeitalter der Extreme
Aus dem Englischen von Eva Bonné
2025, fester Einband mit Schutzumschlag, 389 Seiten
Mit zwei Karten
ISBN: 978-3-518-43262-4
Suhrkamp
€ 28,80.-
[*] Diese Rezension schrieb: Juergen Weber (2025-10-27)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.