http://www.amazon.de/In-hellen-Sommern%C3%A4chten-John-Burnside/dp/3813504603/ ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1339787164&sr=8-1
Der Stoff, aus dem die Träume sind ...
„In der Panik der Finsternis geschieht zu allen Zeiten viel Unberechenbares, wer sich selbst nicht mehr sehen kann, benimmt sich, als wär er´s nicht, die Finsternis wohnt in ihm und springt aus ihm heraus,“ sagt Marie Luise Kaschnitz in „Wohin denn ich“.
Die Finsternis, das ist unter anderem die Huldra der nordischen Mythologie, um die sich alles dreht in John Burnsides Roman „In hellen Sommernächten“. Die hellen Mittsommernächte des Nordens sind, glaubt man denen, die sie erlebt haben, eine Variante jener Finsternis, von der Marie Luise Kaschnitz spricht, und die Huldra die Verkörperung des Unberechenbaren. Um sie herum entfaltet sich eine Geschichte, in der nichts zu sein scheint, was es zu scheinen scheint – man muß sich schon so geschraubt ausdrücken, um der Komplexität dieser Geschichte einigermaßen gerecht zu werden. Wobei das Wort „geschraubt“ sofort meine Gedanken auf einen der Vorgänger Burnsides in diesem Genre lenkt, nämlich Henry James in seinem Buch „Das Drehen der Schraube“. Überhaupt reiht sich Burnside ganz ungesucht in die reiche britische (und im weiteren Verlauf amerikanische) Tradition der Geistergeschichte ein, obwohl er sein Drama sich in Nordnorwegen ausspielen läßt – da sind Shakespeare, MR James, Henry James, Tuman Capotes „Grasharfe“ und so viele mehr, auch in anderen Ländern, die dazu beigetragen haben, nicht zuletzt auch in Skandinavien.
Die Huldra also – das Ungewisse, Unfaßbare, das Uneingestandene im Menschen schlechthin. Noch dazu weiblich und daher eine männliche Idee, die von der Angst vor weiblicher Sexualität handelt und sie dämonisiert. Eine Angst, die aber keineswegs nur Männer betrifft, sondern Frauen gleichermaßen, die Angst vor sich selbst. Unser gesamtes öffentliches und inneres Leben ist davon besessen, man braucht sich nur umzusehen. Ewig unerlöst, durchwandern wir Menschen als Mann und Frau das Leben mit seinen ungelösten Fragen, die sich in immer neuen Varianten offenbaren, mit denen wir immer neu zurechtkommen müssen. Wir wissen alle darum.
Aber die Ich-Erzählerin, eine achtzehnjährige junge Frau, die gerade die Schule abgeschlossen hat und sich nun entscheiden muß, was sie mit ihrem Leben anfangen will, verweigert sich. Hat sich schon immer verweigert, sich ausgenommen, aus welchen Gründen auch immer, aber dafür muß es auch nicht unbedingt Gründe geben. Sie will nicht „verschlungen“ sein – ein Wort mit zwei unterschiedlichen Bedeutungen. „Ich mag´s unberührt. Es gibt zu viel Berührung auf der Welt. Zu viel Verschlungenheit. Vielleicht stimmt es ja, dass wir alle aufeinander angewiesen sind, dass alles auf der Welt auf alles angewiesen ist – doch sind wir ebenso auf die Zwischenräume angewiesen. Wir brauchen diese Freiräume, denn im Raum liegt die Ordnung.“
Sie fühlt sich durch jede Berührung mit der „Huldra“ bedroht, besudelt, verletzt – eine gefährliche Empfindungsweise, die zu unsäglichem Unglück unter Menschen geführt hat bis zum Völkermord hin.
Ich denke da an Wagners „Parsifal“ zum Beispiel, mit seiner Mystik um des Menschen „Reinheit“ herum und seiner angstbesetzten Sicht auf die Frau und die Sexualität, an den Antisemiten Wagner, der in einer Schrift als einzige „Lösung“ den Untergang des Judentums sah – dies nur nebenbei, weil ich gerade einmal wieder stundenlang seiner phnatastischen Musik in einer neuen Aufführung wie verzaubert zugehört habe. Man soll das Bedürfnis der Menschen nach Reinheit nicht unterschätzen, hat Thomas Mann einmal gewarnt, und er hat recht, alle Religionen und Mythen und Riten der Welt handeln in irgendeiner Form davon, es ist das, womit wir zu rechnen haben.
„Wir mögen es kühl“, sagt die Protagonistin an einer Stelle, „ist es im Haus zu warm, lockt man kilometerweit allerhand Ungeziefer an.“
Liv erlebt und erlebt nicht das Verschwinden mehrerer Menschen ihrer Umgebung, das heißt, sie hat darüber ihre Vermutungen, aber keine vernunftgemäßen Beweise.
Was wirklich geschah, bleibt in der Schwebe dieser weißen Nächte des nordischen Sommers, unaufgeklärt.
Und was ich hier sage, ist nur eine der möglichen Arten, das Buch zu lesen, meine. Das Buch selbst ist so viel mehr, es ist eine gut erzählte Geschichte, es ist eine Reflektion über das Wesen der Kunst, es ist die Schilderung einer Landschaft und eines Klimas voll dunkler Poesie und des Schicksals einiger besonderer Menschen darin. Ein äußerst komplexes Buch voller Anklänge an Mythen, Literatur, Kunst. Beim Lesen fügt der Leser unwillkürlich noch seine eigenen Bezüge hinzu, so daß ein überaus reiches Gespinst entsteht.
Lesen, um die Geister zu bannen. Alte Mythen, Sagen, Märchen, Geschichten. Denn „allerdings brauchen die Geister auch einen Ort, an dem sie sein dürfen, und wenn man ihnen kein Heim im Wind schafft, wenn man sie nicht sicher bettet am Rand des Meeres oder im „Es war einmal“, dann drängen sie zurück in diese Welt, verwandelt in Geister und Ungeheuer, verärgert, vernachlässigt und darauf aus, Schaden anzurichten.“ So endet das Buch mit einer ordnenden Geste, die den Geist wieder ein wenig zur Ruhe kommen läßt, aber nur bis zur nächsten Herausforderung.