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Literaturforum: Flauberts Spätwerk als Vermessung der Langeweile


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Forum > Literaturgeschichte & -theorie > Flauberts Spätwerk als Vermessung der Langeweile
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 Thema: Flauberts Spätwerk als Vermessung der Langeweile
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 15.08.2015 um 18:38 Uhr

Flaubert hat die letzten sechs Jahre seines Lebens mit der Niederschrift des Fragment gebliebenen Romans „Bouvard und Pécuchet“ verbracht. Das Werk war so weit gediehen, dass es 1881 – ein Jahr nach Flauberts Tod – in Buchform erscheinen konnte. Die Handlung war zu geschätzt neun Zehnteln abgeschlossen, der restliche Verlauf einschließlich eines umfangreichen Anhangs aus den Notizen des Autors erschließbar. Der Roman behandelt die systematische Rundreise zweier alternder, von Paris aufs Land übergesiedelter Freunde durch fast alle praktischen wie theoretischen Wissenschaften ihrer Zeit, und zwar stets sowohl mit dem Feuereifer der Dilettanten wie dem immer gleichen Ergebnis: Frustration und Langeweile.

Das satirische Buch hat bei weitem nicht den Erfolg beim großen Publikum gehabt wie „Madame Bovary“ oder die „Éducation sentimentale“. In der Fachwelt jedoch wurde es von Anfang an viel beachtet und besprochen. Dabei fällt dreierlei auf: die insgesamt sehr facettenreiche Durchleuchtung des Textes – die Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, den Roman abschließend befriedigend zu analysieren – die krasse Nichtübereinstimmung in der Beurteilung, besonders auch durch Flauberts nachgeborene Schriftstellerkollegen. Da ist alles dabei, vom Totalverriss über differenzierte Meinung bis zum enthusiastischen Lob. Innerhalb der „Flaubertologie“ hat sich so die Auslegung von „Bouvard und Pécuchet“ fast als eine Spezialwissenschaft etabliert.

Manche Kritiker gingen bei ihrer Untersuchung vom Bild Flauberts aus, das überliefert ist, seiner seelischen Grundverfassung, ihrer Problematik. Das ist der individualpsychologische Ansatz, der häufig mit einer negativen Gesamtbeurteilung des Romans einhergeht. Viel zahlreicher sind jedoch die Arbeiten, die sich von Anfang an auf den Text konzentrieren und sich allenfalls Querverweise auf die innere wie äußere Biographie des Autors erlauben. Innerhalb dieser Kritik nimmt den breitesten Raum die Auffassung ein, der Roman sei eine gelungene satirisch-enzyklopädische Abrechnung mit Wissenschaft an sich, zumindest mit der des 19. Jahrhunderts. Dieser Aspekt stellt seit langem alle anderen Interpretationsmöglichkeiten in den Schatten. „Bouvard und Pécuchet“ ist für die Literaturgeschichte also primär Wissenschaftskritik mit den Mitteln eines Romans. Zweifellos ist er das auch und nicht nur en passant. Rein quantitativ überwiegen die komisch scheiternden Versuche der beiden Männer, zusammenhängendes, überzeugendes Wissen zu erwerben. Flaubert setzt sie dabei als Vermittler seiner eigenen frustrierenden Leseerfahrungen ein. (Diese Lektüre hat er zum großen Teil erst im Hinblick auf das Romanprojekt betrieben.) Die Methode ist immer die gleiche: emsiges Durchdringen möglichst allen angehäuften Wissens, Herausarbeiten der tiefen Widersprüche zwischen den Autoren, Aufspießen von Plattheiten, von barem Unsinn, sich verächtlich ab- und erwartungsvoll einem neuen Gebiet zuwenden.

Diese Zettelkasten-Methode, an Jean Paul erinnernd, doch mit äußerster Prägnanz arbeitend, wird hier unerbittlich angewandt, mit der Konsequenz, dass der Leser selbst allmählich ermüdet, Überdruss empfindet und sich zu langweilen beginnt: zu viele Autoren, zu viele angeschnittene Sachfragen, Systeme, Techniken, zu viele Paradoxien, nicht Nachzuvollziehendes, schlechthin Blödsinniges. Beispiel: das Erwärmen von Badewasser durch bloße Körperwärme eines sich im Zuber emsig Bewegenden, von einem Wissenschaftler behauptet und von Pécuchet im praktischen Versuch widerlegt. All das ist im Detail zumeist erheiternd, nur Überfülle des Materials wie Monotonie seiner Durchdringung ertöten allmählich die Leselust …

… doch Flaubert facht sie regelmäßig wieder an, indem er die Dorfgesellschaft ins Spiel bringt, von den Honoratioren bis zu den Randexistenzen, ihre Begegnungen und Zusammenstöße mit den beiden Protagonisten. Es ist ein Anliegen dieses Aufsatzes, dass den Nebenfiguren des Romans etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt werde. Gewiss kann man einwenden, dass auch ihrer zu viele sind, so dass sich nur bei konzentrierter Lektüre alle Namen und Berufe einprägen. Flaubert, der Fanatiker der Exaktheit, gibt eben ein Bild der differenzierten Dorfhierarchie, der differierenden Interessen und Psychogramme. Dennoch sind diese Figuren keine realistischen Abbilder, sondern ihrerseits satirisch gezeichnet. Unter ihnen sind prachtvolle Exemplare, etwa die nach Grund und Boden gierende Witwe Bordin. Bouvard, erotisch von ihr angezogen, hätte sie ums Haar geheiratet, doch die beste seiner Ländereien ihr als Morgengabe überschreiben? Da wird das Experiment im letzten Moment lieber abgebrochen, wie manch anderes vorher und nachher. Noch bissiger die Darstellung der Dorfpfarrers, eines Tartüffs im geistlichen Gewand. Auf dem Höhepunkt der 1848er Revolution segnet er den frisch eingepflanzten Freiheitsbaum (von Bouvard und Pécuchet dem Dorf zu diesem Zweck geschenkt), predigt ölig gegen die eigene Überzeugung, und nach dem erneuten Umschwung bekommt er den Baumstumpf der gefällten Pappel, um damit zu heizen. Der Tischler Gorju kommt nicht besser weg, der Arbeiter ist ein demagogisch begabter Lumpenproletarier, ein eitler und sehr auf den eigenen Vorteil bedachter Aufrührer.

Bouvard und Pécuchet selbst sympathisieren unverkennbar mit den Ideen der 48er Revolution. Ihr Verlauf wie Scheitern in Paris und das Echo in der Provinz werden im sechsten der zehn Kapitel behandelt. Das ist der große Wendepunkt im Ablauf der Handlung, ähnlich wie schon in der „Éducation sentimentale“. Von nun an werden die beiden Pariser vollends zu Dorfaußenseitern, ihre Position zunehmend unhaltbar. Auf der anderen Seite werden sie von Flaubert allmählich sympathischer, einsichtsvoller dargestellt. Ging es in den vorangegangenen Kapiteln vor allem um Agronomie, Gartenbau, Naturwissenschaften und Geschichte, sind von nun an Religion, Philosophie, Pädagogik und Reformen der Gesellschaft die Themen. Die beiden Dilettanten verschmelzen dabei langsam mit ihrem Schöpfer, dem Autor hinter ihnen. Damit erschließt sich eine tiefere Motivation von Langeweile und Ekel, des Generalthemas des Romans. Es ist die Enttäuschung, die Flaubert selbst über die politische Geschichte Frankreichs zu seinen Lebzeiten sowie die kulturelle Entwicklung überhaupt verspürte. Sie vor allem hat ihn dazu gebracht, dem für ihn tief unbefriedigendem Verlauf theoretisch auf den Grund zu gehen und gleichzeitig die den Geschichtsprozess Vorantreibenden karikierend vorzuführen. Die Langeweile ist ein ausgedehnter Ort in der Zeit, der hier aufgesucht und schreibend erledigt wird.

Flaubert hat sich also kritisch mit Grundlagen und Ergebnissen von Aufklärung und bürgerlicher Demokratie befasst. Er gibt als Romanautor zugleich ein Zeitbild wie ein überzeitliches Muster, das ist seine volle Leistung. Seine Aktualität steht außer Frage. Wer will, kann die Linie durchziehen von 1848 über 1968 bis hin zum Arabischen Frühling, nur zum Beispiel.

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