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Literaturforum: Simplicius und die vaterlose Gesellschaft


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Forum > Literaturgeschichte & -theorie > Simplicius und die vaterlose Gesellschaft
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 Thema: Simplicius und die vaterlose Gesellschaft
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 30.06.2019 um 18:02 Uhr

Formal ist Grimmelshausens Hauptwerk „Abenteuerlicher Simplicius Simplicissimus“ ein Schelmenroman, dem Gehalt nach vor allem Entwicklungsroman. Er spiegelt die Lebensreise des Helden und Ich-Erzählers durch die Gesellschaft seiner Zeit, also der Welt des Dreißigjährigen Krieges und der unmittelbar anschließenden Epoche. Dabei stellt sich für Simplicius die Unbeständigkeit und Nichtigkeit alles Weltlichen heraus, auf die er endlich mit totalem Rückzug von den Menschen reagiert und sich als Eremit auf Schau und Anbetung eines persönlichen Gottes christlicher Religion beschränkt. Bestimmt wird die Struktur des Romans dadurch, dass in ihm Vergänglichkeit und Nichtswürdigkeit menschlicher Existenz weniger die Folgen äußerer Einwirkungen als vielmehr in den Gestalten selbst schon angelegt sind. Kein blindes Fatum braucht von außen einzugreifen, Selbstzerstörung und Bestimmung zum Untergang verkörpern sich bereits in den handelnden oder passiv bleibenden schwachen Gestalten. Deren Beziehungsgeflecht und die wenigen Grundmuster der Abläufe zu untersuchen, soll im Folgenden unternommen werden.

Da sind zunächst die Autoritäten: Väter, Vorgesetzte, Pfarrer. Simplicius ist der Prototyp eines Vaterlosen. Er wächst auf einem abgelegenen Bauernhof bei einem Pflegevater auf, der ihm weder eine nennenswerte Erziehung noch Schutz gegen die plündernde Soldateska bieten kann. Sein leiblicher adliger Vater hat in den Kriegswirren die schwangere Ehefrau verloren, weiß nichts von seinem Sohn und führt inzwischen das Leben eines frommen Einsiedlers. Zwar lebt Simplicius als Knabe dann einige Zeit bei ihm im Wald, doch der Vater stirbt bald und der Einfluss seiner religiös-sittlichen Erziehung verliert sich weitgehend. Simplicius wird zu den Soldaten gepresst und ist abwechselnd in kaiserlichem oder schwedischem Dienst. Er lernt töten und plündern und verschafft sich darin durch Mut und Geschicklichkeit einen besonderen Ruf als „Jäger von Soest“. Von seinen zahlreichen aufeinander folgenden militärischen Vorgesetzten taugt keiner als Vorbild, hat keiner Einfluss auf seine geistige Entwicklung. Dies gilt im Wesentlichen auch von den Pfarrern, deren Schwächen der Held durchaus wahrnimmt.

Die Masse der Altersgenossen bleibt gesichtslos, mit zwei großen Ausnahmen: Olivier und Herzbruder. Ersterer ist als Erzschurke, als Räuber und Mörder ein verzerrtes Spiegelbild des jungen Simplicius, der sich unbedingt von diesem Dämon befreien muss. Die Doppelgänger-Thematik wird z.B. deutlich, wenn Olivier als falscher Jäger von Soest in Westfalen auftritt und von Simplicius entlarvt und überwunden wird. Jahre später treffen sie im Breisgau wieder aufeinander, kämpfen miteinander bis auf den Tod, den sie sich doch nicht geben können. Stattdessen werden sie Spießgesellen, Simplex gezwungenermaßen, während Olivier in dem anderen den willkommenen, bisher entbehrten Bruder zu suchen scheint. Den fatalen Anpassungsprozess beenden reguläre Soldaten. Olivier ist tot, Simplicius entkommt und gerät bald wieder unter Herzbruders Einfluss. Dieser war seit langem Oliviers Antagonist, die einzig mögliche große positive Identifikationsfigur. Aber er treibt jetzt selbst seinem Ende entgegen, das einen konkreten Bezug zu Sexualität aufweist. Wie auf einer neuen Nibelungenfahrt reisen die zwei Freunde per Schiff auf der Donau nach Wien, einer Wiederaufnahme ins kaiserliche Heer entgegen. An den Ufern unterwegs geraten ihnen Frauen ins Blickfeld, die sich vor den Schiffsreisenden exhibitionistisch entblößen. Bald darauf im Krieg verliert Herzbruder durch eine Schussverletzung die Hoden, muss auf die geplante Ehe verzichten und legt mit dem Freund die Donaufahrt erneut zurück, nur in entgegengesetzter Richtung und unter gänzlich veränderten Vorzeichen. Von Simplex betreut und getröstet stirbt er während einer Kur im Schwarzwald.

Simplex’ Frauenbild, seine Frauengestalten sind fast durchweg negativ gezeichnet. Das grenzt zumindest an Misogynie. Als blutjunger Soldat trägt er eine Zeitlang zur Tarnung Frauenkleider und kann sich nur mit Mühe den lesbischen Avancen einer Rittmeistersgattin erwehren. Später wird er bei einem Rendezvous von einem Offizier unter Mithilfe von dessen Tochter in eine ihm unwillkommene Ehe gezwungen. Seine weiteren Abenteuer entfernen ihn sehr bald auch räumlich weit von der Gattin, die schon gestorben ist, als er einmal inkognito Westfalen besucht. Seinem kleinen Sohn gegenüber gibt er sich dabei nicht zu erkennen. In Paris dient er unter Zwang maskierten Damen der Hocharistokratie als Lustobjekt. Die dabei vermittelnde, einweisende Kupplerin-Hexe ist die eine von nur zwei Frauen im Roman mit detaillierteren Zügen und Reden. Die andere ist die Köchin, die auf der Insel im Indischen Ozean den ebenfalls schiffbrüchigen Zimmermann zum Mord an Simplicius anstiften will. Noch unglücklicher als die erste wird Simplicius’ zweite Ehe mit einer Frau, die sich zu Tode säuft. Zuvor hat es einen Wirrwarr um untergeschobene und uneheliche Kinder gegeben. Keinem seiner Nachkommen kann Simplex ein Vater sein. In dieser Welt fehlen stabile und prägende, Identität stiftende Beziehungen vollständig. Sie kann uns insofern wie ein früher Vorgriff auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa erscheinen, als Alexander Mitscherlich den Begriff der vaterlosen Gesellschaft prägte. Freilich fanden sich in jener jüngeren Vergangenheit dann meist andere Surrogate als im 17. Jahrhundert.

Mit Herzbruders Tod und dem Ende von Simplex’ zweiter Ehe hätte der Roman mitten im fünften Buch enden können. Doch es folgen noch zweieinhalb weitere und der Charakter des Werks ändert sich grundlegend. Bis dahin weist die Darstellung sozusagen Züge barocker holländischer Genremalerei auf. Offensichtlich stützte Grimmelshausen sich vor allem auf eigenes Erleben im Krieg. Um im Vergleich zu bleiben: Nun richtet er einen barocken Hochaltar auf mit Wundern, phantastischen Reisen und zunehmender Dominanz religiöser Gefühle. Dabei bleibt die Absicht umfassender Desillusionierung erhalten. Um diese zu erzielen, werden die erzählerischen Mittel gröber, werden Wiederholungen und Übertreibungen nicht gescheut. Am Ende läuft es auf den radikalsten Eskapismus hinaus, das freiwillige Verbleiben auf einer kleinen Insel im Ozean, ganz allein mit dem christkatholischen Gott.

Am Ende dieses Weges gibt er folgende Selbstauskunft. „In Wahrheit aber hatte ich mir vorgesetzt, allen menschlichen Trost zu verschmähen und in niedrigster Demut Kreuz und Leiden mich allein an den lieben Gott zu ergeben und mich ihm zugelassen …“ Und der holländische Kapitän, der ihn vergeblich zur Rückkehr nach Europa hat bewegen wollen, berichtet darüber nach Deutschland: „ … betreffend die Hülfe der Menschen, deren er bei seinem Abschied beraubt sein müßte, bekümmere ihn solches im geringsten nichts, wann er nur Gott zum Freund habe; solang er bei den Menschen in der Welt gewesen, hätte er jeweils mehr Verdruß von Feinden als Vergnügungen von Freunden empfangen, und machten einem die Freunde selbst oft mehr Ungelegenheit, als einer Freundschaft von ihnen zu hoffen; hätte er hier keine Freunde, die ihn liebten und bedienten, so hätte er doch auch keine Feinde, die ihn hassen, welche beide Arten der Menschen einen jeden zum Sündigen bringen könnten, deren beiden aber er überhoben und also Gott desto geruhiger dienen könnte …“

Aus der relativen Einsamkeit seiner Kindheit ist Simplicius durch das Weltgetöse hindurch zu einer sehr exklusiven Zweisamkeit gelangt. Er ist dabei auf seine Art ein religiöser Fundamentalist geworden, dem zum Glück der Ausweg in einen weiteren Krieg nicht mehr offensteht. Über die historische Distanz dazwischen kann der heutige Leser an Simplicius’ Beispiel erkennen, wie tiefe Religiosität sich äußern kann und welche irdischen Verhältnisse ihr Aufkommen begünstigen können.

(Zitate aus dem Roman nach der Bearbeitung von Engelbert Hegauer)

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